Während der Mann, der am Mittwoch den Chef von Amerikas größter Krankenversicherung in New York erschossen hatte, am Freitag weiter auf der Flucht war, wurde über Hinweise auf ein mögliches Motiv diskutiert, das mit der Branche des Ermordeten zu tun hat. Viele Nutzer sozialer Medien machten derweil ihrem Ärger über die Praktiken von Versicherungen Luft, aus einer Reihe von Äußerungen sprach Häme statt Mitgefühl.
Brian Thompson war Vorstandschef der Versicherungssparte von United Health, einem breit aufgestellten amerikanischen Gesundheitskonzern. Der 50 Jahre alte Manager wurde am Mittwochmorgen vor dem Hilton-Hotel an der Sixth Avenue in Manhattan, wo eine Investorenkonferenz seines Unternehmens angesetzt war, von mehreren Schüssen tödlich getroffen. Der Täter floh auf einem Fahrrad. Die New Yorker Polizei sagte, es sei kein „willkürlicher Gewaltakt“ gewesen, sondern eine „dreiste, gezielte Attacke“.
Mittlerweile wurde bekannt, dass auf den Patronenhülsen Wörter geschrieben waren, darunter „deny“ („ablehnen“) und „defend“ („verteidigen“). Dies sind Begriffe, die oft von Kritikern der Versicherungsbranche verwendet werden. Es gibt das Schlagwort „delay, deny, defend“, mit dem zum Ausdruck gebracht werden soll, dass Versicherungen Zahlungen an ihre Kunden oft verzögern oder ablehnen und diese Praktiken gleichzeitig verteidigen. Vor einigen Jahren ist ein Buch mit diesem Titel erschienen. Darin heißt es: „Alle Versicherungsunternehmen haben einen Anreiz, ihre Kunden zu beschummeln, um ihre Gewinne zu steigern.“
Thompson soll mehrere Drohungen bekommen haben
Paulette Thompson, die Frau des ermordeten Managers, sagte dem Fernsehsender NBC, ihr Mann habe mehrere Drohungen bekommen, und dabei sei es womöglich um Versicherungsschutz gegangen. Neben den Hülsen gibt es bislang aber keine anderen konkreten Hinweise auf die Theorie, dass Wut auf Versicherungen eine Rolle bei dem Mord gespielt hat.
United Health versichert mehr als 50 Millionen Amerikaner, ob als Einzelpersonen, über ihre Arbeitgeber oder in Zusammenarbeit mit staatlichen Gesundheitsprogrammen wie Medicare, einer Krankenversicherung für ältere Menschen. Erst kürzlich veröffentlichte ein Ausschuss des amerikanischen Senats einen kritischen Bericht über United Health und Wettbewerber wie Humana. Darin hieß es, diese Unternehmen verweigerten Senioren absichtlich Versicherungsschutz für postakute Behandlungsprogramme nach Stürzen, Schlaganfällen oder anderen Krankheiten. Die Ablehnungsrate von United Health habe sich zwischen 2020 und 2022 mehr als verdoppelt.
Sammelklage gegen United Health
Gegen United Health wurde im vergangenen Jahr auch eine Sammelklage eingereicht. Dem Unternehmen wird darin vorgeworfen, Künstliche Intelligenz einzusetzen, um älteren Menschen den Versicherungsschutz zu verweigern. Statt der behandelnden Ärzte bestimme ein fehlerhafter Algorithmus über Zahlungen an Patienten.
Auf Onlineplattformen wie X und Tiktok wurde der Mord an Thompson weithin zum Anlass genommen, um sich über Versicherer zu beklagen. Viele Internetnutzer erzählten Geschichten, wie ihnen Versicherungsschutz verweigert worden sei. Manche sagten, der Manager könne ihnen nicht leid tun, und es gab reihenweise sarkastische Äußerungen wie: „Mein Mitgefühl ist abgelehnt worden.“
Michael Tuffin, der Chef des Versicherungsverbands AHIP, fühlte sich gezwungen, seine Branche auf Linkedin zu verteidigen. Er sagte, die Unternehmen seien „missionsgetrieben“ und bemühten sich, ihren Kunden erschwinglichen Versicherungsschutz zu bieten. Drohungen gegen Mitarbeiter seien nicht akzeptabel.
Die Polizei veröffentlichte unterdessen neue Bilder von dem Verdächtigen, die zum Teil auch sein Gesicht zeigen. Diese Bilder stammen offenbar von der Überwachungskamera eines Hostels an der Upper West Side, wo er in den Tagen vor dem Mord übernachtet haben soll. Berichten zufolge soll er dort einen gefälschten Personalausweis benutzt haben. In der Nähe des Tatorts wurde außerdem ein Handy gefunden. Die Polizei hat eine Belohnung von 10.000 Dollar für Hinweise auf den Täter ausgesetzt.