Wollen Messerangreifer andere Täter nachahmen?

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Kurz nachdem am 31. Mai vergangenen Jahres ein Afghane in Mannheim auf den Aktivisten Michael Stürzenberger und den Polizisten Rouven Laur eingestochen hatte, häuften sich die Meldungen über Messerangreifer im öffentlichen Raum. In Frankfurt griff Anfang Juni am Mainufer ein Afghane eine Ukrainerin mit einem Messer an, in Saarbrücken verletzte ein Türke in einem Regionalzug einen Mann mit einem Messer schwer.

Kurz darauf ­attackierte ein 27 Jahre alter Afghane auf einer privaten EM-Party in Wolmirstedt in Sachsen-Anhalt unvermittelt zwei Männer und eine Frau mit einem Messer. In Solingen erstach dann am 23. August ein ausreisepflichtiger Syrer, vermutlich aus islamistischen Motiven, drei Menschen und verletzte acht weitere Besucher des Stadtfests zum Teil lebensgefährlich. Und nun Aschaffenburg: Ein Afghane erstach am Mittwoch in einem Park mutmaßlich einen Mann und ein Kleinkind und verletzte mehrere Personen.

Ist diese Häufung von Taten nur Zufall? Oder gibt es auch bei Messerangriffen so etwas wie einen Werther-Effekt? Damit ist im Zusammenhang von Suiziden die Wirkung von Berichten gemeint: Manche Menschen entschließen sich durch Nachrichten über einen Suizid dazu, ihr ohnehin geplantes Vorhaben umzusetzen.

„Wir kennen das auch von Amoktätern“

Ein Nachahmungseffekt bei Messergewalt sei durchaus denkbar, sagt Britta Bannenberg, Professorin für Kriminologie an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. „Wir kennen das auch von Amok­tätern.“ Da bei Amoktätern oft eine zutiefst narzisstische Persönlichkeitsstruktur vorliegt, ist das Motiv für die Taten in der Regel das Streben nach größtmöglicher Aufmerksamkeit – um die selbst wahrgenommene „Größe“ nach außen zu demonstrieren.

Ein Amoklauf, der tagelang im Fokus der Medien steht, sei für diese Menschen „die einfachste Möglichkeit, vermeintlichen Ruhm zu erlangen“, so Bannenberg. „Die fühlen sich dann als Held.“ Diese Taten könnten wie ein „Trigger“ auf Menschen mit ähnlicher Persönlichkeitsstruktur wirken, die ähnliche Taten planen.

So könnte es auch bei bestimmten Messertätern sein, meint Bannenberg, auch wenn es dazu noch keine Forschungserkenntnisse gibt. Messerangriffe haben Attentatscharakter, da Fremde im öffentlichen Raum angegriffen werden. Den Angriffen liegen unterschiedliche Motive zugrunde: Hass auf die Welt, islamistische Ideologie, Frust über die eigene Lebenssituation. Die Wahrscheinlichkeit der Nachahmung ist höher, wenn es sich, wie bei Messer­angriffen, um Einzeltäter handelt.

Diese Täter können ähnliche Züge wie Amok­täter aufweisen. Geprägt ist ihr Verhalten von fehlender Empathie und hochgradigem Nar­zissmus. Also seien sie, so Bannenberg, genauso anfällig dafür, Taten nachzuahmen, „um mit ihrem Hass auf die Gesellschaft groß rauszukommen“: „Sie wollen es dann einmal allen so richtig zeigen, was sie von ihnen halten.“ So sei zum Beispiel das Video von den Attacken in Mannheim im Netz viral gegangen. „Wer sich das hundertmal anguckt, denkt vielleicht dann: ‚Jetzt mache ich das auch!‘“

Andere Taten als Trigger

Den bestärkenden Effekt der Berichterstattung sieht auch Michael Laumer, Kriminalhauptkommissar in der Kriminologischen Forschungsstelle des Bayerischen Landeskriminalamts. „Wenn sich eine Person radikalisiert hat und in den Medien sieht, wie einfach die Tatausführung ist, kann das natürlich den Entschluss begünstigen.“ Dazu gebe es noch keine Studien. Angesichts der gestiegenen Gewaltkriminalität könne man jedoch feststellen, dass auch die Akzeptanz von Gewalt zuzunehmen scheint.

Ein Nachahmungseffekt könnte nach Bannenbergs Einschätzung auch auf Täter wirken, die psychisch gestört sind, also zum Beispiel unter einer paranoiden Schizophrenie leiden und Wahnvorstellungen haben. „Es ist davon auszugehen, dass die meisten ihre Tat seit Längerem geplant hatten. Und diejenigen, die sowieso daran denken, werden jetzt getriggert, wenn sie von einem aktuellen Angriff hören.“ Eine Schizophrenie kann sich darin äußern, dass die Betroffenen sich von „Stimmen“ genötigt sehen, auf andere Menschen einzustechen.

Ein solcher Fall wurde vor dem Landgericht Ravensburg verhandelt. Es ordnete für einen Mann mit syrischer und niederländischer Staatsangehörigkeit die dauerhafte Unterbringung in der Psychia­trie an, wegen paranoider Schizophrenie. Er hatte in einem Supermarkt auf ein vier Jahre altes Mädchen eingestochen und dies mit einer „göttlichen Eingebung“ erklärt. Das Gericht wertete die Tat als versuchten Mord, der Mann gilt jedoch wegen seiner Krankheit als schuldunfähig. Laut Bannenberg leidet ein Drittel der erwachsenen Amoktäter an einer paranoiden Schizophrenie, und der Wahn ist tat­ursächlich.

Aber nehmen die Fälle von Messer­angriffen wirklich zu? Oder wird einfach nur mehr über Messertaten berichtet? Seit 2020 werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) Messerangriffe als „Phänomen“, also als Information zum Fall, erfasst. Als Messerangriff werden Taten bezeichnet, bei denen mit einem Messer gedroht oder mit dem Messer auch angegriffen wurde. Für 2023 wurden bei Körperverletzungsdelikten 8951 Messer­angriffe registriert: Ein Messer kam somit bei 5,8 Prozent dieser Taten zum Einsatz.

2022 waren es noch weit weniger: Es gab 8160 Messerangriffe bei Körperverletzungen, der Anteil betrug 5,6 Prozent. Die PKS ist allerdings im Hinblick auf Messerangriffe nach Laumers Einschätzung noch zu wenig aussagekräftig. Da die Corona-Jahre nicht repräsentativ seien, könne man erst 2025 oder 2026 seriös beurteilen, ob die Angriffe insgesamt seit 2020 langfristig wirklich zunähmen. Zudem: Die Bandbreite der Taten, bei denen Messer verwendet werden, ist groß. Sie reicht von Konflikten zwischen Jugendlichen über häusliche Gewalt und Raubüberfälle bis hin zu Angriffen auf Fremde. Diese sind jedoch relativ gesehen selten.

Die meisten Täter gegen Unbeteiligte sind männliche Migranten

Die meisten Messerattacken auf Unbeteiligte wurden in letzter Zeit von männlichen Migranten begangen. Sie haben nach Ansicht von forensischen Psychiatern ein höheres Risiko, gewalttätig zu werden. Zu den Risikofaktoren gehören neben dem jugendlichen Alter vor allem die fehlende soziale Einbindung (und Kontrolle), mangelnde Bildung und Sprachkenntnisse, archaische Männlichkeitsbilder sowie Perspektivlosigkeit. Alles zusammen kann zu Frust und Hass auf die Gesellschaft führen – und zu dem Motiv, sich für die gefühlte Unzulänglichkeit an anderen Menschen rächen zu wollen. Die Taten werden laut Bannenberg begünstigt, wenn diese jungen Männer Gewalt erlebt oder selbst schon mehrfach ausgeübt haben. „Viele von ihnen waren ja jahrelang auf der Straße unterwegs und haben sich dort oft selber mit Gewalt durchgesetzt.“

Sollte vor diesem Hintergrund nicht mehr über Messerattacken berichtet werden, um keine Nachahmer zu triggern? Ob dann Taten verhindert würden, ist zweifelhaft. Denn auch Nachahmer hätten ihr Vorhaben schon vor der Tat geplant, erklärt Bannenberg. Die Frage sei dann nur, was dazu führt, den Plan umzusetzen.

Vielmehr müsse man Personen, die mit ihrem Verhalten oder in Worten Gewalt­taten androhen, stärker in den Blick nehmen. So plädieren Kriminologen für eine Intensivierung der Früherkennung von psychisch auffälligen Personen. „Wir brauchen viel mehr Personal in den psychiatrischen Ambulanzen. Die ächzen alle unter der Überlastung“, sagt Bannenberg. Keine Zeit, zu wenig Ärzte, keine Plätze – das höre sie oft aus Psychiatrien. Zuständig für psychisch Auffällige, die zum Beispiel Gewalttaten angekündigt oder randaliert haben, ist zunächst die Allgemeinpsychia­trie.

Anders als die forensische Psychiatrie hat sie aber nur wenige Möglichkeiten, im Vorfeld tätig zu werden. Und die forensische Psychiatrie ist erst zuständig, wenn schon eine Straftat begangen wurde. „Die Polizei, die auf solche Personen stößt, bringt sie in die psychiatrische Ambulanz. Aber dort fragt man sich dann: „Was sollen wir jetzt mit denen machen?“ Sie könnten vielleicht für ein paar Tage untergebracht werden und Medikamente erhalten. Aber wenn keine „akute Gefahr für andere“ mehr besteht, dürfen sie nicht gegen ihren Willen festgehalten werden. „Man will sie in den Allgemeinpsychia­trien wegen der Überlastung auch gar nicht haben.“ Zudem bereite das Thema „Fremdgefährdung“ den Allgemeinpsychiatern auch eher „Unbehagen“. Bei Suizidgefahr hingegen, so Bannenberg, funktioniere das System weit besser.

Eine Lösung kann demnach darin bestehen, den Austausch zwischen den forensischen und allgemeinen Psychia­trien besser zu verzahnen, zum Beispiel durch mehr Fortbildung der Psychiater im Hinblick auf Gewaltprävention. „Denn die Zahl der psychisch auffälligen Menschen, die auch ein Risiko für Gewalttaten haben, nimmt immer mehr zu.“ Bannenberg macht das auch an den Erfahrungen ihres Beratungsnetzwerks „Amokprävention“ fest, das von der Gießener Professur für Kriminologie organisiert wird. Dort können Mitschüler, Lehrer, Eltern oder Kollegen von Personen anrufen, die eine potentielle Gefahr darstellen könnten. Das Netzwerk dient als niedrigschwellige Beratungsstelle, wenn man also noch nicht die Polizei alarmieren will. „Es rufen auch zunehmend niedergelassene Normalpsychiater an, um sich Rat zu holen.“

Bannenberg und ihre Kollegen können dann aktiv werden und die Behörden in den Bundesländern informieren. In Bayern und Nordrhein-Westfalen ist man nach ihren Erfahrungen inzwischen sensibilisiert für diese Themen. In anderen Bundesländern hingegen „muss man die Leute noch zum Jagen tragen“. Generell, so Bannenberg, müsse die wachsende Bedrohung durch psychisch Auffällige als „Bundes­angelegenheit“ angegangen werden.