Nun erinnern Dinge an den Schrecken

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Die Sohle fehlt, das Innenfutter franst an den Seiten aus, und das Leder ist schmutzig und brüchig. In der Mitte hängt, gehalten von nur noch einem Faden, eine Lederschleife. Was aussieht wie eine Flunder, „war sehr wahrscheinlich mal ein Mädchenschuh“, sagt Mira Gimborn. Sie sitzt in einem weißen Kittel und mit blauen Einweghandschuhen an ihrem Schreibtisch und wischt mit einem kleinen Schwamm Schmutz, Staub und Schimmel vom Leder herunter. Dann nimmt sie einen Spatel, tunkt ihn in ein Fläschchen mit Kleber und versucht, das gelöste Textilfutter und die Schleife wieder am Oberleder zu befestigen. Anschließend fixiert sie das Ganze mit mehreren Wäscheklammern, legt den Schuhrest beiseite, greift in die Plastikbox links neben sich und holt den nächsten Schuh heraus. In der Box stapeln sich Lederstiefel, Sandalen, Absatzschuhe – oder vielmehr das, was von ihnen übrig ist.

Mira Gimborn arbeitet im Konservierungslabor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau. Sie stammt aus Wien, ist 18 Jahre alt und hat sich nach der Schule für ein Jahr Gedenkdienst entschieden. Das ist ein österreichischer Freiwilligendienst, der in Museen und Gedenkstätten mit Bezug zum Holocaust geleistet werden kann. „Ich bin vorher nie in Auschwitz gewesen“, sagt sie. „Aber ich spüre, dass die Erinnerungskultur angegriffen wird, und ich will sie mit verteidigen.“ Sie verweist auf den Rechtsruck in ihrem Land, auch auf die Wahlkampfrhetorik in Deutschland. Dann trägt sie Schutzwachs auf die Nieten des vor ihr liegenden Schuhrestes auf, um den Rost aufzuhalten. Der fresse sich sonst zu schnell ins Leder auch anderer Schuhe, wenn die konservierten Objekte zurück in die Ausstellung gehen, wo sie auf schier unendlichen Bergen übereinanderliegen.










Rund 110.000 Schuhe liegen im Block 5 des einstigen Stammlagers Auschwitz. Es sind so viele, dass sie zwei Großvitrinen links und rechts des langen Gangs füllen. Hinzu kommen 12.000 Töpfe, Pfannen und Becher aus Emaille, 6000 Zahnbürsten, 3800 Koffer, davon 2100 mit Daten der einstigen Eigentümer, 470 Prothesen, 40 Kilogramm Brillen und mehr als zwei Tonnen Haare. Das alles zu konservieren, hat sich das Museum zur Aufgabe gemacht. Denn schon bald werden diese materiellen Zeugnisse das einzig Authentische sein, womit sich der industrielle Massenmord an Millionen Menschen im Nationalsozialismus belegen lässt. Zum 70. Jahrestag der Befreiung des Lagers vor zehn Jahren gab es noch rund 300 Zeitzeugen, die als Kinder und Jugendliche Auschwitz überlebten. Jetzt, zum 80. Jahrestag, leben nur noch rund 60.








Die Hinterlassenschaften der Ermordeten zu konservieren, ist eine Aufgabe für die Ewigkeit – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die Restaurierung wird auf absehbare Zeit nicht enden, sondern gleicht einem laufenden Prozess. Und sie umfasst auch die Seite der Täter: SS-Helme, Warnschilder, Baupläne und mehrere Hundert leere Zyklon-B-Behälter. Gefunden wurde all das vor 80 Jahren, als die Rote Armee am 27. Januar 1945 das Lager erreichte. Angesichts des schnellen Vormarschs der Sowjets hatte die SS das Stammlager in Auschwitz und das Vernichtungslager in Birkenau überhastet geräumt, die Gaskammern gesprengt und etwa 60.000 Häftlinge auf Todesmärschen zu Fuß in Richtung Westen geschickt. Im Lager selbst fanden die Soldaten noch etwa 7000 Überlebende, von denen viele so geschwächt waren, dass sie in den nächsten Tagen starben.

Auch die Baracken der sogenannten Effektenlager, in denen, teilweise sortiert, das persönliche Hab und Gut der Ermordeten lagerte, um ins „Reich“ transportiert und „verwertet“ zu werden, hatte die SS beim Rückzug angezündet, um Spuren zu verwischen. Die Mehrzahl dieser insgesamt 46 Baracken brannte nieder. Doch in dem vom Feuer verschont gebliebenen Gelände fanden die Befreier neben sieben mit Kleidung und Bettwäsche gefüllten und zum Abtransport bereitgestellten Waggons auch Unmengen an Schuhen, Kleidung, Koffern und Emaillegeschirr, die zum Teil unter freiem Himmel lagen.

„Fast alles davon gelangte in der zweiten Hälfte 1944 ins Lager“, sagt Christin Rosse. Sie ist 37 Jahre alt, stammt aus Cottbus, hat in Köln Konservierung und Restaurierung studiert und arbeitet seit zehn Jahren im Museum in Auschwitz. „Wir bessern hier nichts aus“, betont Rosse einen wesentlichen Unterschied zu herkömmlicher Restaurierung. „Es geht darum, die Gegenstände so zu bewahren, wie sie nach der Befreiung gefunden wurden, und sie haltbar zu machen für die nächsten 40, 50 Jahre.“




So fanden die Befreier von Auschwitz die Hinterlassenschaften der Ermordeten vor 80 Jahren vor.Foto: EPA





So sehen die vielen Schuhe in der Ausstellung hinter einer Glaswand heute aus.





Mit einer Chipkarte öffnet Rosse die Tür zur Konservierungs- und Restaurierungswerkstatt. Sie wurde vor anderthalb Jahren neu in einem der jüngsten Gebäude im Stammlager Auschwitz eingerichtet. Noch 1944 hatte die SS den Backsteinbau zur Häftlingsregistrierung errichten lassen; jetzt gehen von dem Gang links und rechts Werkstätten und Labore ab, in denen 32 Mitarbeiter gegen die Zeit arbeiten. Die Räume sehen aus wie in einem Wissenschaftszentrum oder einer Klinik: weiße Wände, saubere Böden, modernste Geräte wie Elektronenmikroskope und eine Multispektralkamera. Mit ihr analysieren die Mitarbeiter gerade Briefe von Häftlingen. Zahlreiche Passagen darin zensierten die Aufseher mit dickem Kopierstift. Mit der Kamera lässt sich ans Licht holen, was hinter den Schwärzungen steckt.

Oft seien es aus heutiger Sicht harmlose Dinge, sagt Rosse und zeigt einen Brief, den eine inhaftierte Polin aus dem Lager an ihre Familie im schlesischen Rybnik sandte. „Meine lieben Kinder“, schrieb sie am 6. Juli 1944 und erkundigte sich darin auch nach einer Freundin. Diese Passage schwärzten die Zensoren, weil sie wohl Konspiration vermuteten. Geschrieben werden durfte nur auf Deutsch und höchstens zweimal im Monat auf Vordrucken, die sich nach dem Falten zugleich als Briefumschlag nutzen ließen und mit dem Stempel „Geprüft – KL Auschwitz“ versehen wurden. 17.000 dieser Briefe besitzt das Museum inzwischen; bis heute spenden Angehörige der Häftlinge sie dem Archiv.

„Das ist eine nach wie vor wachsende Objektgruppe“, sagt Rosse. Und eine höchst fragile. Vor allem das saure Papier macht den Restauratoren zu schaffen. Mit der industriellen Papierproduktion wurde durch die Verwendung von Holzschliff viel Säure eingetragen, die nun die Zellulose zersetzt. Das Papier wird gelb, rissig und brüchig. „Dagegen kämpfen wir, um die Authentizität zu erhalten.“ Rosse ist Papierspezialistin. Ihre Masterarbeit hat sie über die Rettung einer Nürnberger Handschrift aus dem 16. Jahrhundert geschrieben, die im Tresor eines im Zweiten Weltkrieg ausgebrannten Hauses gefunden und von Löschwasser beschädigt worden war. „Das Papier von vor 400 Jahren hat eine bessere Qualität als diese Habseligkeiten hier.“ Sie kümmert sich vor allem um Briefe und Bücher.





Zurzeit arbeitet Rosse an einem hebräischen Gebetbuch, das zu zerfallen beginnt. Seite für Seite begutachtet und repariert sie, 298 Seiten sind schon geschafft, rund die Hälfte des Werks, an dem sie seit drei Wochen arbeitet. Die Risse repariert sie mit transparentem Japanpapier, das sie mit Kleister aus Weizenstärke aufträgt und dann mit einem kleinen Bügeleisen glättet. „Das Material muss reversibel sein“, erklärt sie. Künftige Restauratoren, die dann womöglich bessere Methoden haben, sollten durch heutige Eingriffe nicht behindert werden. Rosse kennt das Pro­blem. Bereits in den Sechziger- und Siebzigerjahren wurden viele Objekte in Auschwitz ein erstes Mal konserviert. Die dabei verwendeten Lacke und Kleber hätten nicht nur Papier, sondern auch Schuhe und Koffer beschädigt und seien heute nur mit Lösemittel zu entfernen.

Auch sind die Schuhe und Koffer, mit denen sie es hier zu tun haben, meist industriell produzierte Massenware, die sich dennoch oft nur Menschen aus West- und Mitteleuropa leisten konnten. „Häftlinge, die aus dem Osten ankamen, brachten ihr Hab und Gut meist in Körben oder in Laken gewickelt mit“, sagt Rosse. Allen gemein jedoch war der Glaube, sie würden lediglich umgesiedelt, wie es vor allem Juden erzählt worden war. Nur deshalb finden sich in den Lagern so viele Alltagsgegenstände. Ihr Gepäck mussten die Menschen jedoch schon beim Verlassen der Viehwaggons zurücklassen, in denen die Deutschen sie nach Auschwitz und Birkenau verbrachten. Während viele direkt ins Gas getrieben wurden, mussten Häftlinge in den Effektenbaracken das Gepäck sortieren, das dann zur Verwertung nach Deutschland geschickt wurde. Wäsche, Geschirr und Koffer etwa wurden oft an Ausgebombte weiterverkauft, Haare an Garn- und Stofffabriken.

Schuhe und Koffer sind es auch, in denen sich heute noch Hinweise auf ihre einstigen Besitzer finden lassen. Manchmal kämen unter Sohlen versteckte Adres­sen oder Münzen zum Vorschein, die auf die Herkunft schließen ließen, sagt Rosse. Auch auf Koffern aufgetragene Nummern können Auskunft geben. In einem Labor liegt ein verbeulter und halb zerrissener, schwarzer Koffer unter einer Lampe. Mit dickem Pinselstrich und weißer Farbe ist die Nummer AK 322 auf den Deckel geschmiert. „Das ist die Personennummer“, erklärt Rosse. Der Transport, das habe sie ermitteln können, ging im Oktober 1944 von Prag nach Theresienstadt und dann nach Auschwitz. Der Besitzer hat nicht überlebt.








Sein Koffer aber soll weiter Zeugnis ablegen. Mit einem Latexschwamm entfernt eine Restauratorin Staub und dann mit Radiergummis und Glasfaserstiften den Konservierungslack von vor 60 Jahren. Er hat die Pappe, aus der die meisten dieser Koffer bestehen, angegriffen und auch die Stoßecken aus Vulkanfiber, also gepresster, hochfester Zellulose. Dann tunkt sie Wattestäbchen in Lösemittel, tupft damit jede Niete, jeden Metallverschluss ab und kratzt mit einem Skalpell den Rost weg. Bis zu fünf Wochen könne das je Koffer dauern. Verbeult und zerschlissen aber bleibt der Koffer, schließlich geht auch er zurück auf den Berg aus Koffern, und zwar äußerlich so, wie er im Januar 1945 gefunden wurde.

Rosse kam erstmals während einer Praxisexkursion im Studium nach Auschwitz. Sie habe ein kleines Stück Papier mit zwei Häftlingsnummern erhalten, über die sie mehr herausfinden sollte. „Damals wurde mir bewusst, dass ich mein Wissen und meine Fähigkeiten diesem Ort widmen möchte, um die Schicksale und letzten Spuren der Opfer für die Zukunft zu erhalten.“ Heute arbeitet sie in einem internationalen Team aus erfahrenen Spezialisten und freiwilligen Helfern; ihre Kollegen stammen aus knapp einem Dutzend Ländern. Ihr aller Blick ist weniger auf die Vergangenheit als vielmehr auf die Zukunft gerichtet: um künftige Generationen vor ähnlicher Barbarei zu bewahren. „Ich denke, dass die Entscheidung, an diesem Ort zu arbeiten, die beste in meinem Leben war“, sagt Rosse.

Dem Erhalt aller Relikte hat sich die Stiftung Auschwitz-Birkenau verschrieben, die 2009 von Władysław Barto­szewski ins Leben gerufen wurde. Der damals 87 Jahre alte Mann, der als politischer Häftling in Auschwitz war und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Polens Außenminister wurde, hatte gemeinsam mit anderen Überlebenden Jahrzehnte für den Erhalt der Gedenkstätte gekämpft, für den Polen bis dahin allein aufgekommen war. Seitdem hat die Stiftung mehr als 40 Länder sowie Unternehmen und Bürger als Spender gewonnen und kann inzwischen einen guten Teil der Erhaltungsarbeiten aus den Erträgen ihres Kapitals bestreiten. Es liegt heute bei gut 180 Millionen Euro, wozu Deutschland zwei Drittel – jeweils 60 Millionen Euro von Bund und Ländern – beigetragen hat.




Die Schornsteine in Auschwitz-Birkenau zeugen noch von den Massenmorden der Nationalsozialisten.




Die Aufgabe ist in der Tat gewaltig. Neben den persönlichen Gegenständen der Insassen und Ermordeten ist auch das Gelände dieses größten erhalten gebliebenen Tatorts des Holocaust vom Verfall bedroht. Fast 200 Hektar misst die Fläche, auf der 155 Gebäude, 300 Ruinen und Reste einstiger Baracken, aus Holz errichtete Wachtürme und kilometerlange Stacheldrahtzäune stehen. Lange hätten hier nur die nötigsten Reparaturen gemacht werden können, sagt Wojciech Soczewica, der Generaldirektor der Stiftung. „Doch die Überlebenden haben uns den Auftrag erteilt, die Spuren der Verbrechen, aber auch die häufig letzten Spuren menschlichen Lebens zu erhalten, die, wäre es nach den Plänen der Nazis gegangen, spurlos verschwinden sollten.“

In Birkenau will die Stiftung 45 Ziegel- und 22 Holzbaracken konservieren, was je nach Zustand zwischen 300.000 und 900.000 Euro kostet – je Baracke. Über drei von ihnen sind gerade große weiße Zelte gestülpt, damit die Konservatoren auch im Winter auf dem eisigen Areal arbeiten können. Die Aufgabe sei äußerst herausfordernd, sagt Soczewica. „Die fragile Materie muss so erhalten werden, dass sie auch der wachsenden Besucherzahl gerecht wird.“ Heute kommen jedes Jahr gut zwei Millionen Menschen in die Gedenkstätte. Die Nachfrage ist so groß, dass die Stiftung auch live geführte Rundgänge online für Schulgruppen aus aller Welt anbietet. „Wir sehen, dass dann die Guides für manche Menschen zu Zeugen werden, deren Stimme und Erzählung für das Verständnis ausschlaggebend sind“, sagt Soczewica. Je weniger Überlebende es gibt, desto mehr werde die Rolle der Gästeführer im Umgang mit der Geschichte des Holocausts wachsen.




Einer von ihnen ist Łukasz Lipiński. Er führt gerade durch die Dauerausstellung, die in den Sechzigerjahren eröffnete. Dabei verweist er auch auf die Spuren, die in dieser Zeit entstanden, besonders auf die Granitstufen, die völlig ausgetreten sind. „Hier sind schätzungsweise 15 Millionen Menschen hoch- und runtergelaufen“, sagt er. Die neue Dauerausstellung soll nur in den Erdgeschossen zu sehen sein, während die oberen Stockwerke Studiengruppen vorbehalten werden. Lipiński arbeitet seit 17 Jahren hier und hat schon viel erlebt: Menschen, die sich tagelang aufhalten und jedes Detail inspizieren, und Leute, die am Anfang abbrechen, wenn sie die Vitrine mit den Haaren der Opfer sehen.

Lipiński selbst stammt aus Auschwitz, verließ den Ort, um Wirtschaft zu studieren und wollte ursprünglich nicht zurückkehren. Doch dann habe ihn dieser Ort, an dem sein Opa inhaftiert war und seine Oma als Museumsführerin gearbeitet hat, nicht losgelassen. „Hier kann man sehen, dass das alles wirklich stattgefunden hat“, sagt er. Museum und Gedenkstätte sorgten dafür, dass die Welt weiß, was in Auschwitz passiert ist. „Das alles geschah vor gar nicht langer Zeit, und es wird sich vielleicht nicht exakt so wiederholen“, sagt Lipiński. „Aber die Ideen, die zu diesen Verbrechen führten, können jederzeit wieder auftauchen.“