Die Vereidigung von Donald Trump dürfte vielen Europäern wieder vor Augen geführt haben, wie stark sich die politischen Kulturen diesseits und jenseits des Atlantiks unterscheiden. Während in Deutschland immer weniger Politiker den freiwilligen Zusatz „so wahr mir Gott helfe“ über die Lippen bringen, verschmolzen die Sphären von Politik und Religion bei Trumps Inauguration ineinander. Fünf Geistliche traten im Verlauf der Zeremonie auf, in der länger gebetet wurde als in manchem Gottesdienst.
Die meisten Gäste unter der Rotunde des Kapitols schlossen in diesen Momenten andächtig ihre Augen und neigten ihr Haupt. Donald Trump hielt seine Augen für einige Momente ebenfalls geschlossen, ansonsten ergriff er aber wie so häufig die Gelegenheit, andere Leute während ihrer Andacht zu mustern.
Im Moment der Vereidigung versäumte Trump dann, seine linke Hand auf die Heilige Schrift zu legen, die ihm Melania wie schon 2017 gleich in zweifacher Ausführung hinhielt: einmal die Bibel, die Trump anlässlich seiner Konfirmation in einer presbyterianischen Gemeinde von seiner Mutter geschenkt bekam, und dann noch jene Bibel, auf die Abraham Lincoln bei seiner Vereidigung 1861 schwor.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Immerhin verzichtete Trump darauf, sich als drittes Exemplar die „Inauguration Day Bible“ reichen zu lassen, die er seinen Anhängern einige Tage zuvor mit dem Spruch „We must make America pray again“ für 69,99 Dollar zum Kauf empfohlen hatte. Donald Trump empfahl damit ein Buch, von dessen Inhalt er offenkundig wenig Ahnung hat.
Legendär ist jene Szene aus dem Jahr 2016, als Trump vor einer Versammlung bibeltreuer Studenten wiederholt von „zwei Korinthern“ statt vom „zweiten Korintherbrief“ sprach, da er nicht einmal korrekt ablesen konnte, was ihm seine Berater aufgeschrieben hatten. Trump verstand auch nicht, warum sich im Publikum darauf Gelächter regte.
Das beweist aber nicht, dass Trumps Beziehung zur Religion eine reine instrumentelle ist, er seine frommen Landsleute also nur als nützliche Idioten erachtet. In seiner Inaugurationsrede sprach Trump mehrfach von Gott, besonders in der wohl persönlichsten Passage über das Attentat am 14. Juli: „Ich fühlte damals, und ich glaube inzwischen sogar noch stärker daran, dass mein Leben nicht ohne Grund gerettet wurde. Ich wurde von Gott gerettet, um Amerika wieder großartig zu machen.“
Ein direkter Fingerzeig Gottes
Trump übernahm damit die Deutung, dass das Misslingen des Attentats ein direkter Fingerzeig Gottes gewesen sei. Das dahinterstehende Motiv war schon vor dem Attentat unter Evangelikalen verbreitet. Gott hat Trump demnach als Werkzeug erwählt, obwohl der Präsident es weder mit dem Kirchgang noch mit der Sexualmoral sonderlich genau nimmt, so wie Gott im Alten Testament den persischen König Kyros genutzt hatte, um die Israeliten aus der Gefangenschaft zu befreien.
Aufschlussreich war Trumps Auswahl der Geistlichen für die Inauguration, die kurz vor der Zeremonie geändert wurde. Zunächst war vorgesehen, dass sechs Geistliche auftreten. Doch der Imam und Trump-Unterstützer Husham Al-Husainy durfte nicht sprechen, nachdem ihm jüdische Organisationen vorwarfen, er habe sich früher nicht klar genug zur Hizbullah geäußert.
Damit waren die Weltreligionen Islam, Hinduismus und Buddhismus, denen im Einwanderungsland Amerika mittlerweile jeweils Millionen Menschen anhängen, bei der Inauguration nicht repräsentiert. Gleiches gilt für die „Nones“, also Agnostiker, erklärte Atheisten und die vielen Millionen Amerikaner, die sich mittlerweile von der „organisierten Religion“ abgewandt haben. Diese Gruppe umfasst inzwischen knapp dreißig Prozent der Bevölkerung und ist größer als jede Religionsgemeinschaft.
Die beiden demokratischen Präsidenten und bekennenden Christen Barack Obama und Joe Biden hatten versucht, diese zunehmende weltanschauliche Pluralität Amerikas abzubilden, indem sie auf Feierlichkeiten einzelne Formulierungen für die Belange der „Nones“ öffneten und Vertreter anderer Religionen einbezogen. Die Republikaner drehen diese Entwicklung nun wieder zurück, indem sie ausschließlich die jüdisch-christliche Tradition berücksichtigen.
Auch bei der Auswahl der einzelnen Geistlichen ließ sich Trump nicht von der allgemeinen, gesellschaftlichen Repräsentativität leiten. Kriterium war eher die Nähe zu seiner Bewegung. Der ausgewählte Rabbiner, Ari Berman, vertritt ein orthodoxes, nationalreligiöses Judentum. Daneben wählte Trump zwei protestantische und zwei katholische Geistliche.
Unter den Protestanten haben die Republikaner besonders starken Rückhalt, vor allem seit es unter Ronald Reagan gelang, auch noch jene Evangelikalen aus den Südstaaten zu gewinnen, die zuvor aus sozialen Gründen häufig für die Demokraten stimmten. Die Parteistrategen der Republikaner machten sie ihnen abspenstig, indem sie das Thema Abtreibung in den Mittelpunkt rückten und zum Identitätsmarker aufbliesen.
Von diesem Erbe profitiert auch Trump. Die weißen Evangelikalen bilden seine Bastion: 2016 stimmten 77 Prozent für ihn, 2020 waren es 81 Prozent und 2024 sogar 85 Prozent. Sie machen zwar nur rund 13 Prozent der Bevölkerung aus, ihr Anteil an der Wählerschaft liegt jedoch deutlich höher.
Wer nicht vertreten war: die „mainline churches“
Dieser Gruppe erwies Trump die Reverenz, indem er wie schon bei seiner Inauguration 2017 Franklin Graham auftreten ließ. Der Sohn des berühmten Evangelisten Billy Graham unterstützt Trump schon lange, und das mit einer Parteilichkeit, die vermutlich sogar seinem Vater suspekt gewesen wäre. Den spektakulärsten Auftritt der Feier aber hatte der Prediger Lorenzo Sewell, der bei der Inauguration die charismatische Frömmigkeit vieler afroamerikanischer Christen verkörperte. Diese Gruppe zählt traditionell zur Stammwählerschaft der Demokraten, doch die Republikaner wildern auch dort mit Erfolg.
Auffällig war, wer bei der Inauguration nicht vertreten war: die „mainline churches“, also Episkopale, Presbyterianer, Lutheraner und weitere, eher der europäischen Bildungstradition verhaftete Kirchen, die lange das Establishment der Vereinigten Staaten bildeten.
Die Mainline-Kirchen befinden sich jedoch in einer tiefen Krise. Die Episkopalen verloren in den vergangenen 25 Jahren 36 Prozent ihrer Mitglieder, die ELCA-Lutheraner 45 Prozent und die Presbyterianer niederschmetternde 62 Prozent. Das Hauptproblem dieser Kirchen besteht darin, dass sie weder missionarisch erfolgreich sind noch die Nachkommen ihrer eigenen Mitglieder an sich binden, die sich häufig säkularisieren und zu „Nones“ werden.
Zudem tut sich in vielen Mainline-Kirchen eine politisch-kulturelle Kluft auf: Viele Mitglieder der Lutheraner zum Beispiel leben in den ländlichen Gegenden des Mittleren Westens, also in einem republikanisch geprägten Umfeld. Die städtischen Gemeinden ticken jedoch demokratisch. Dort liegen auch die Ausbildungsstätten für die Pfarrerinnen und Pfarrer, in denen schon seit mehr als zwei Jahrzehnten eine woke Agenda um sich greift, die mit weiten Teilen der Mitgliedschaft auf Dauer kaum zu vereinbaren ist.
Zum Crash mit dieser Strömung kam es, als Trump am Dienstagmorgen frisch vereidigt den Gottesdienst in der National Cathedral besuchte und die Predigt der Hausherrin, der episkopalen Bischöfin Mariann Budde, hörte. Budde formulierte am Schluss noch eine „letzte Bitte“ an Trump und bat ihn um Erbarmen für „schwule, lesbische und Transgender-Kinder“, die unter Trump „um ihr Leben“ fürchteten, sowie für Einwanderer ohne gültige Papiere.
Budde verwies darauf, dass Christen barmherzig gegenüber Fremden sein müssten. Nach dem Gottesdienst bezeichnete Trump die „sogenannte Bischöfin“ als „radikal linke hardline Trump-Hasserin“, die vergessen habe, die Straftaten illegaler Einwanderer zu erwähnen und deren Gottesdienst im Übrigen sehr uninspiriert und langweilig gewesen sei. Der republikanische Kongressabgeordnete Collins empfahl sogar, Budde auf die „Deportationsliste“ aufzunehmen.
Unsachliche Polemik
Budde hatte sich schon in Trumps erster Amtszeit mehrfach mit dem Präsidenten angelegt. Nach den eher einschmeichelnden Auftritten ihrer Kollegen bei der Inauguration ergriff Budde die Gelegenheit, den Präsidenten am Morgen danach unmissverständlich mit den ethischen Implikationen der christlichen Botschaft zu konfrontieren. Von vielen deutschen Beobachtern wurde sie dafür gefeiert.
Übersehen wurde dabei, dass Buddes Vorwurf, Homosexuelle müssten unter Trump um ihr Leben fürchten, eine unsachliche Polemik war. Budde hatte auch gezielt genau jene Punkte bedient, um die sich die Debatten in ihrem theologischen Milieu vornehmlich drehen, das sie mit ihrem Habitus und Sprachduktus geradezu klischeehaft verkörpert.
Dieses Milieu mag in den linksliberalen Kirchen Amerikas weiter den Ton angeben. Die Methode besteht allerdings vornehmlich darin, außerkirchliche Debatten auf innerkirchliche Verhältnisse zu übertragen. Eine eigenständige geistige Größe von Rang bildet der Mainline-Protestantismus in den Vereinigten Staaten längst nicht mehr.
Dem amerikanischen Katholizismus gelingt es derzeit hingegen, innerhalb der Republikaner Schritt für Schritt an Einfluss zu gewinnen. Die Evangelikalen mögen die treueren Unterstützer Trumps sein. Aber die Möglichkeiten ihrer Protagonisten sind häufig limitiert. Der antiintellektuelle Affekt sitzt einfach zu tief in dieser Frömmigkeitskultur, die durch die Ablehnung von historisch-kritischer Geschichtsbetrachtung und Evolutionslehre überhaupt erst entstand.
In seiner ersten Amtszeit betrachtete es Trump noch für nötig, sich mit Mike Pence einen Evangelikalen zum Vizepräsident zu nehmen, der sich später gewissensfromm weigerte, Trump bei der Manipulation der Präsidentschaftswahl 2020 zu helfen. Das Amt des Vizepräsidenten hat nun der Katholik J. D. Vance übernommen. Dessen Hinwendung zum Christentum steht mit dem katholischen Kulturphilosophen René Girard in Verbindung, der in Stanford lehrte, also unweit des Silicon Valley.
Auf Girard stieß Vance über den deutschstämmigen Techmilliardär Peter Thiel, der zur sogenannten Pay-Pal-Mafia zählt, einer Gruppe erfolgreicher Investoren, unter ihnen Elon Musk. Thiel unterstützt Trump schon lange, da der Republikaner in seinen Augen die Ablösung der linksliberalen Eliten personifiziert. Diese Verbindung aus reaktionärem Katholizismus und Techfuturismus mag abenteuerlich klingen, verfügt in Trumps Umfeld inzwischen jedoch über gewissen Einfluss.
Der Katholizismus und sein veraltetes Klischee
Eine zweite Hochburg der republikanisch-katholischen Synthese bildet der Supreme Court. Dem erzkatholischen Strippenzieher Leonard Leo ist es gelungen, die Verhältnisse am höchsten Gericht auf den Kopf zu stellen. Im Jahr 1981 waren noch sieben der neun Obersten Richter Mainline-Protestanten. Inzwischen stellen dort konservative Katholiken die Mehrheit, und ihre Vormacht in dem Lebenszeitgremium ist auf Jahre festgegossen.
Die katholischen Richter am Supreme Court, sämtlich an Elitehochschulen ausgebildet, stehen im Kontrast zu den alten Klischees über Katholiken in Amerika. Meist aus Italien und Irland stammend, galten sie lange Zeit der Bildung ab- und dem Alkohol und anderen Freuden des Lebens zugeneigt.
Politisch zählten die Katholiken lange zu den Stammwählern der Demokraten. In der Kombination dieser Faktoren ergab sich eine starke Fokussierung des amerikanischen Katholizismus auf soziale Gerechtigkeit. Führende Demokraten wie Joe Biden oder Nancy Pelosi sind späte Ausläufer dieser einst prägenden Strömung.
Doch seit Papst Johannes Paul II., der sich mit dem antikommunistischen Republikaner Ronald Reagan sehr gut verstand, drehen sich die Verhältnisse innerkirchlich: Der polnische Papst und sein deutscher Nachfolger Benedikt XVI. haben die US-Bischofskonferenz durch ihre Besetzungspolitik auf einen konservativen Kurs getrimmt. Zu dieser Linie zählt auch der New Yorker Erzbischof Timothy Kardinal Dolan, der neben dem Diözesanpriester Frank Mann bei Trumps Inauguration auftrat.
Dieser Trend nach rechts lässt sich auch in der katholischen Wählerschaft beobachten: Unter der wachsenden Zahl der Latinos liegen zwar immer noch die Demokraten vorn. Doch die Republikaner werden stärker. Unter den weißen Katholiken liegen sie schon länger vorn.
Der Eichstätter Dogmatikprofessor Benjamin Dahlke, der Gastprofessor an der einflussreichen katholischen Universität Notre Dame in Indiana war und jüngst ein Buch über die katholische Theologie in den USA veröffentlichte, sieht die Stärke des amerikanischen Katholizismus in der Verbindung von „Geist und Struktur“. Diese zeige sich nicht zuletzt in der Fähigkeit, kluge Köpfe hervorzubringen und diese an einflussreichen Positionen wie am Supreme Court zu platzieren.
Der konservative Katholizismus verfüge zwar über keine einheitliche Ideologie, sagt Dahlke. Anders als in Europa stehe in Amerika aber die Lehre vom Naturrecht weiter hoch im Kurs, die dort stark mit Thomas von Aquin verbunden wird. Die Speerspitze bilde dabei der Dominikanerorden. Auch J. D. Vance ließ sich bei den Dominikanern taufen. Der eher reformorientierte Jesuitenorden, aus dem Papst Franziskus stammt, habe hingegen an Einfluss verloren.
Dahlke sieht noch einen weiteren Unterschied zu Europa: Die Missbrauchsskandale hätten die Kirche zwar auf beiden Kontinenten schwer getroffen. Aber in Amerika gelte Missbrauch als juristisches Problem. Anders als in Deutschland bilde er keinen Anlass, eine breite Debatte über klerikale Hierarchien oder das Priesteramt für Frauen zu führen. Der amerikanische Katholizismus hält vielmehr an seinen traditionellen Strukturen fest und erhebt zunehmend den Anspruch, damit auch kulturprägend zu wirken.