Die Angst vor den Raketen der Hizbullah bleibt

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Mit erschöpften Augen blickt Orna Weinberg in die orange­rote Sonne, die gerade hinter der libanesischen Hügellandschaft untergeht, als plötzlich Schüsse ertönen. „Ein Abschreckungsversuch der Armee“, sagt die Frau mit den langen, hellgrauen Haaren. Vermutlich hätten sich verdächtige Personen zu nah an die israelischen Stellungen im Süden des Nachbarlandes gewagt, dessen Grenze von hier aus keine hundert Meter entfernt ist. „Ein beruhigendes Geräusch“ sagt sie. „So hört es sich an, wenn die Hizbullah auf Abstand gehalten wird.“

Seit dem Waffenstillstand im November habe es in dem kleinen Kibbuz keinen Luftalarm mehr gegeben, die Erleichterung nach mehr als einem Jahr Krieg sei groß. Weinberg schließt für einen kurzen Moment die Augen und atmet tief durch die Nase. „Die Luft war lange nicht mehr so klar wie jetzt“, sagt sie. Dann zeigt sie auf eines der ausgebrannten Autos am Straßenrand. „Aber alles hier erinnert uns daran, wie schnell sich das wieder ändern kann.“

„Sie haben alles zerstört“

Weinberg, 58 Jahre alt, ist eine von ursprünglich knapp 300 Bewohnern des nordisraelischen Ortes Manara, an dem sich die immense Verwüstung zeigt, die der Krieg mit der Hizbullah hinterlassen hat. Mehr als 260 Raketen der libane­sischen Terrormiliz gingen hier nieder, 110 der insgesamt 155 Gebäude wurden beschädigt, viele davon schwer. „Sie haben alles zerstört“, sagt Weinberg. Sie hat wie der Rest der Gemeinschaft seit mehr als einem Jahr nicht in ihrem eigenen Bett geschlafen.

Wie viele andere Orte im Norden des Landes wurde Manara im Oktober 2023 evakuiert, nachdem die Hizbullah mit massiven Raketenangriffen in den Krieg der Hamas gegen Israel eingetreten war. Das Waffenstillstandsabkommen vom vergangenen November sollte den insgesamt 60.000 Menschen, die so vertrieben wurden, die Rückkehr ermöglichen.

Am Sonntag lief die mit der Feuerpause vereinbarte 60-Tage-Frist aus, in der Israel seine Truppen aus dem Süden Libanons hätte abziehen müssen. Das Büro von Mininsterpräsident Benjamin Netanjahu hatte aber schon am Freitag angekündigt, dass das länger dauern würde, weil Libanon seine Pflicht aus dem Abkommen noch nicht „vollständig erfüllt“ und die Kontrolle über das Grenzgebiet übernommen habe, um ein Wiedererstarken der Hizbullah zu verhindern.

Am Sonntag teilte das libanesische Gesundheitsministerium mit, dass mindestens zwei Menschen durch israelischen Beschuss getötet und 30 weitere verletzt worden seien. Doch nach israelischer Darstellung wird der Abzug nicht grundsätzlich infrage gestellt. Er werde zwar länger dauern, solle aber schrittweise weitergehen, hieß es aus der Regierung.

Die Feuerwehr konnte Feuer nicht löschen

Was danach kommen soll, will Weinberg sich kaum aus­malen. Sie blickt hilflos auf die Trümmer, die sich vor einem schwarz verkohlten Baumstumpf auftürmen. „Wir haben keine Wasserleitungen mehr, keinen Strom, kein Abwassersystem“, sagt sie. „Es wird Jahre dauern, bis hier wieder Menschen leben können“. Wieder wandern ihre Augen in Richtung des Nachbarlandes, das langsam in der Dämmerung versinkt. „Wir wussten immer, dass die Hizbullah uns vernichten will, aber wir haben unterschätzt, wozu sie imstande ist.“

Weinberg führt in den Vorgarten eines der vielen Häuser, deren Außenwände von großen Löchern zersiebt sind. Von außen betrachtet, sehe es in Manara weniger schlimm aus als in den Kibbuzim im Süden des Landes, welche die Hamas am 7. Oktober 2023 überfallen habe. „Aber der Schein trügt.“ Im Inneren des Gebäudes zeigt sich, was sie damit meint. In einem der ausgebrannten Zimmer sind die Reste eines Kinderbetts zu erkennen, auf dem Boden liegt ein zerfetztes Kuscheltier. Ansonsten lassen die völlig zerstörten Räume kaum noch darauf schließen, wo sich einmal Bad, Küche oder Wohnzimmer befunden haben. „Panzerabwehrraketen richten ihren wirklichen Schaden erst nach dem Einschlag an“, erklärt Weinberg. „Es sind schreckliche Waffen. Und die Hizbullah besitzt viele davon.“

Orna Weinberg
Orna WeinbergFranca Wittenbrink

Ein Großteil der Zerstörung sei auf die vielen Feuer zurückzuführen, die infolge der Raketeneinschläge ausgebrochen seien, sagt Weinberg, als sie zurück auf die Straße tritt. Wegen der Gefahr der nahe lauernden Scharfschützen auf der libanesischen Seite habe die Feuerwehr in den Monaten des Krieges dagegen nichts tun können. „Die Menschen saßen ein Jahr lang verzweifelt in ihren Hotelzimmern oder auf Campingplätzen fernab der Heimat und wussten, dass ihr Zuhause gerade von Flammen zerfressen wird“, sagt sie. „Man kann sich diese Hilflosigkeit kaum vorstellen.“

Als die israelische Armee im September mit Truppen in das Nachbarland einmarschierte, seien viele der Kibbuzbewohner erleichtert gewesen. Weinberg möchte nicht falsch verstanden werden. „Ich bin gegen Krieg“, sagt sie und erzählt von quälenden Wochen der Sorge um ihren Sohn, der als Reservist in Libanon stationiert war. Doch sei die Militäroperation, die auf der libanesischen Seite großflächige Zerstörung sowie Tausende Tote hinterlassen hat, nötig gewesen.

Israels Ministerprä­sident Netanjahu habe sein Kriegsziel, den Bewohnern des Nordens die Rückkehr in ihre Häuser zu ermög­lichen, zwar längst nicht erreicht. Aber zumindest sei die Hizbullah so weit geschwächt worden, dass sie dem Waffenstillstandsabkommen mit Israel überhaupt zugestimmt habe. „Ein großes Glück“ sei das gewesen, sagt Weinberg.

Ihre Angst vor der Zukunft ist groß. „Wenn wir in diesen Nächten Lichter auf der anderen Seite sehen, dann wissen wir, dass das unsere Soldaten sind.“ Doch damit könnte es bald vorbei sein. „Die Armee ist der einzige Schutz, den wir haben“, sagt sie. „Sobald sie weg ist, wird die Hizbullah zurückkommen.“

Israels Armee hat etliche Waffenlager gefunden

Die Sorge der Kibbuzbewohnerin teilen nicht nur viele andere Israelis aus dem Norden des Landes, sondern auch das Militär. Auf einer Basis eine knappe Stunde südlich von Manara hat die Armee Waffen und anderes Gerät versammelt, das sie von ihrem Einsatz im Süden Libanons mitgebracht hat. Neben Hunderten Maschinengewehren, Mörsern und Granaten sind Dutzende Panzerabwehrraketen ausgestellt, in Kisten stapelt sich Munition, ein paar Meter weiter stehen Pick-ups mit unterschiedlichsten Abschussvorrichtungen für Raketen.

Waffen, die die israelische Armee bei ihrem Einsatz im Süden Libanons gefunden hat
Waffen, die die israelische Armee bei ihrem Einsatz im Süden Libanons gefunden hatFranca Wittenbrink

Mehr als 8500 Teile seien hier gelagert, erklärt ein Offizier, der über den Stützpunkt führt. Etwa 70 Prozent der strategischen Waffen der Hizbullah habe die Armee bei ihrem Einsatz im Nachbarland zerstört. „Im Moment wären sie nicht in der Lage, größere Angriffe auf Israel auszuführen“, sagt er über die libanesische Terrormiliz. „Aber wenn wir ihnen das Feld überlassen, könnte sich das sehr schnell wieder ändern.“

In einigen grenznahen Orten habe man in jedem zweiten Haus Waffen gefunden, führt der Offizier aus, viele davon in un­terirdischen Verstecken. Auch in der Nähe von Einrichtungen der UNIFIL hätten die israelischen Soldaten solche Lager entdeckt. Dass die UN-Mission davon nichts gewusst haben könnte, hält er für aus­geschlossen. „Sie haben sich bewusst dafür entschieden wegzuschauen“, sagt er.

Die Mission sollte den Rückzug der li­banesischen Miliz aus dem Grenzgebiet überwachen. Eine Friedenstruppe, die sich lediglich selbst verteidigen dürfe, sei ohnehin der falsche Ansatz gewesen. „Ich hoffe, dass die Hizbullah uns nicht zwingen wird, die Vereinbarung selbst durchzusetzen“, sagt der Offizier. „Aber falls sie es doch tun, werden wir das mit dem vollen Einsatz unserer militärischen Mittel tun.“

Weinberg hat kaum Zweifel daran, dass dieses Szenario irgendwann eintreten wird. Zu viele Nächte habe sie in den zahlreichen Schutzbunkern Manaras verbracht, in einem davon habe sie als Kleinkind laufen gelernt. „Wer sich dafür entscheidet, an diesem Ort zu leben, der weiß, dass der Krieg immer wiederkommt“, sagt sie.

Und doch will sie die Hoffnung noch nicht ganz aufgeben. „Die Bewohner dieses Kibbuz haben schon so oft bewiesen, dass sie den größten Gefahren zum Trotz wieder aufstehen“, sagt sie, bevor sie sich auf den Weg zu dem Campingplatz macht, auf dem sie seit mehr als einem Jahr lebt. „Dieses Mal wird es lange dauern. Aber irgendwann werde ich nach Hause zurückkehren.“