Merz im Bundestagswahlkampf: Der Moment der Wahrheit

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In Wahlkämpfen gibt es manchmal diesen einen Moment, der alles entscheiden, der endgültig die Weichen auf Erfolg für die einen und Misserfolg für die anderen setzen kann. Bei diesem Bundestagswahlkampf scheint so ein Moment nach der Gewalttat von Aschaffenburg und den Vorstößen von Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) zur Migrationspolitik jetzt gekommen zu sein. Nur ist noch offen, welche Partei er zum Erfolg führt, und welche nicht.

Dass aber auch die Parteien glauben, der entscheidende Moment könnte gekommen sein, zeigen die heftigen Reaktionen vom Wochenende. Seit Merz am Donnerstag nach dem Mord an einem Kind und einen Mann durch einen Afghanen ohne Aufenthaltsrecht scharfe Konsequenzen und am Freitag dazu Anträge für den Bundestag angekündigt hat, zeigt die FDP sich offen, die AfD sieht schon das Ende der Brandmauer gekommen – und bei SPD und Grünen scheint man vor Empörung zu platzen.

Er habe dem Oppositionsführer geglaubt, als er gesagt habe, er wolle nicht mit der AfD zusammenarbeiten, sagt Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Samstag auf einer Wahlkampfveranstaltung in Wiesbaden. „Wenn der Oppositionsführer jetzt sagt, er könne sich auch vorstellen, hier Gesetze einzubringen mit Unterstützung der AfD, dann weiß ich nicht, was ich noch glauben kann.“ Robert Habeck wirft Merz auf dem Parteitag seiner Grünen eine „Germany First“-Politik vor. Nur in der Union bleibt es trotz all der Brisanz einigermaßen ruhig, angespannt ruhig.

„Keine Taktiererei und keine Spielchen“

Am Wochenende lässt Merz jedenfalls wie angekündigt zwei Anträge an die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP verschicken. Der eine ist zur inneren Sicherheit, der andere enthält fünf Forderungen „für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration“. Ob es dafür eine Mehrheit geben wird, ist offen. Merz hatte nach dem Versand der Anträge in Richtung SPD, Grüne und FDP geäußert, man könne sich über das Wochenende dazu verständigen, wie man nächste Woche abstimme. „Spätestens nach Aschaffenburg gibt es keine Taktiererei und keine Spielchen mehr.“ So scheint auch Merz alles auf diesen Moment zu setzen.

In Menden wurde Wahlkämpfer Merz von ablehnenden Schmierereien empfangen.
In Menden wurde Wahlkämpfer Merz von ablehnenden Schmierereien empfangen.dpa

Der Wahlkampf von Merz war zuvor ins Dümpeln geraten. Zwar wurde auf der Klausur des CDU-Vorstands Anfang Januar in Hamburg selbstbewusst verbreitet, Merz werde bis zur Wahl achtzig Auftritte absolvieren. Aber so sehr der Kanzlerkandidat strampelte und kämpfte, die Unionszahlen in den Umfragen verharren bislang – mit einem mehr oder weniger großen Plus – rund um die 30 Prozent.

Viele seiner Anhänger dürften gehofft haben, dass Merz mehr von der klaren Kante zeigt, die zumindest lange mit seinem Namen verbunden worden ist. Merz und seine Leute werben schließlich damit, dass nach 16 Jahren Angela Merkel, in denen über weite Strecken der Kompromiss mit der SPD gesucht wurde, nun wieder „CDU pur“ geboten werde. Doch stattdessen schien Merz immer austarierter zu werden, wirkte, als bereite er sich schon auf koalitionsbedingte Zwänge vor, die er als Bundeskanzler würde berücksichtigen müssen. Es entstand der Eindruck, als sei der Wahlsieg bereits eingepreist in der CDU-Truppe und Merz suche nach einem Ton, der sowohl einen sozialdemokratischen als auch einen grünen Koalitionspartner nicht schon frühzeitig verprellen würde. So tauchte beispielsweise seine Forderung nach der Lieferung von Marschflugkörpern für die Ukraine kaum noch auf. Und daran, dass Merz ein Bündnis mit den Grünen nicht ausschließt, ließ er immer weniger Zweifel.

Der einzige Punkt, bei dem der CDU-Vorsitzende sehr hart und pointiert auftrat, war die Kritik an der AfD. Schon im Sommer vorigen Jahres, vor den Landtagswahlen in Ostdeutschland, hatte er gesagt, eine Zusammenarbeit mit der AfD würde die CDU umbringen. Anfang Januar dieses Jahres versicherte Merz, die Christdemokraten würden nicht mit einer Partei gemeinsame Sache machen, die ausländerfeindlich und antisemitisch sei, Rechtsradikale und Kriminelle in ihren Reihen habe und aus der NATO sowie der EU austreten wolle. Am vorigen Wochenende prägte er schließlich mit Blick auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten den markigen Satz: „Einmal 33 reicht für Deutschland.“

Im Duell mit Weidel sollen „die Fetzen fliegen“

Offenbar hält der Kanzlerkandidat der Union das für ein ausreichend starkes Fundament, auf dem er den Umgang mit dem Thema AfD ändern kann. Ein erstes Anzeichen dafür war seine Ankündigung am vorigen Mittwoch, als er mit Lesern der F.A.Z. diskutierte und sagte, er würde sich gern mit der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel zu einem Fernsehduell treffen. Dann sollten „die Fetzen fliegen“. Schon an dieser Stelle wurde deutlich, dass Merz zu der wilden Entschlossenheit zurückkehren will, die mit seinem Namen verbunden wurde. Wie ein von seiner Truppe genau vorbereitetes Manöver, das nur noch der Öffentlichkeit präsentiert werden müsste, wirkte die Ankündigung nicht. Von seinen Leuten hieß es zunächst, dass ein solches Treffen zwar nicht ausgeschlossen, aber auch noch nichts fest vorbereitet sei. Als Weidel umgehend einem Duell zustimmte und sich Fernsehsender anboten, es auszutragen, reagierte das Team Merz zurückhaltend.

SonntagsfrageWie stehen die Umfragen vor der Bundestagswahl?

Aber das war erst der Auftakt. Wie in der CDU erzählt wird, hatte schon das Attentat auf dem Weihnachtsmarkt in Magdeburg in Merz das Gefühl wachsen lassen, dass es mit der üblichen Rhetorik in der Politik nicht weitergehen könne. Die Gewalttat in Aschaffenburg am vergangenen Mittwoch war offenbar der endgültige Auslöser für seinen Schritt, im Bundestag die zwei Anträge vorzulegen. Auch auf die Gefahr hin, dass die AfD ihnen zustimme. Man habe sich lange bemüht, so heißt es in der Union, keine Vorschläge im Parlament einzubringen, die mit Hilfe der AfD eine Mehrheit bekommen könnten. Doch nun überwog das Gefühl: Es reicht! „Mit diesen Schritten können uns die Wähler zum ersten Mal auch abnehmen, dass wir in der Migrationspolitik einen echten Politikwechsel wollen“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion Johan Wadephul (CDU).

Trotzdem war am Freitag, als Merz öffentlich bestätigte, er wolle die Anträge in den Bundestag einbringen, auch einige Unsicherheit in der CDU zu spüren. Die war auch am Samstag noch nicht verflogen. Verständnis für das Vorgehen des Kanzlerkandidaten mischte sich mit der Sorge vor einer Welle negativer Berichterstattung. Zur Hoffnung, Merz’ Vorstoß könne die eigene Truppe mobilisieren, kam die Befürchtung, es könne auch dem politischen Gegner helfen. Außerdem wurde die Sorge geäußert, es könne auch Kritik aus der CDU laut werden. Schon ist die Rede von einer Wende im Wahlkampf, von dem entscheidenden Moment: so oder so.

Schnell wurde in der Union beteuert, man spreche jedenfalls nicht mit der AfD über die Anträge. Deshalb wurden sie auch gar nicht an diese geschickt. Stattdessen steht im Migrationsantrag der Satz: „Die AfD nutzt Probleme, Sorgen und Ängste, die durch die massenhafte Migration entstanden sind, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren und Verschwörungstheorien in Umlauf zu bringen.“ Diese Partei sei kein Partner, „sondern unser politischer Gegner“. Bei der AfD sorgt diese Passage für Empörung. Von einer Diffamierung, die nicht den guten parlamentarischen Standards entspreche, spricht der Vorsitzende Tino Chrupalla am Wochenende.

Aber auch diese Passage konnte nach dem Versand der Anträge die Empörung bei SPD und Grünen nicht mildern. Politiker aus beiden Parteien verweisen bei ihrer Kritik vor allem auf zwei Punkte: das vermeintliche Bröckeln der Brandmauer, da Merz eine Zustimmung der AfD zu den Anträgen in Kauf nehme. „Nichts daran ist harmlos“, sagt Robert Habeck am Sonntag auf dem Grünen-Parteitag. Und der zweite Punkt zielt darauf, dass die Vorschläge rechtlich nicht durchsetzbar seien. Scholz sagt in Wiesbaden: „Wenn jetzt der Oppositionsführer vorschlägt, dass der deutsche Bundeskanzler Dinge tun soll, die mit der Verfassung dieses Landes und mit den europäischen Verträgen nicht vereinbar sind, dann sagt das etwas über seine Befähigung, ein hohes Amt in Deutschland auszuüben“.

Am Mittwoch oder Donnerstag im Bundestag?

Aus der Union hält man dem zum einen Artikel 16a des Grundgesetzes entgegen und die Feststellung, dass eigentlich in Deutschland niemand Asyl beantragen könne, der über den Landweg über die EU-Nachbarn einreise. Und Merz selbst verweist am Sonntag in einer Rundmail an seine Anhänger abermals auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, der in Artikel 72 die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit einräume.

Bei SPD und Grünen folgt man dieser Argumentation nicht – stattdessen hatte man versucht, einzelne Passagen zur Reform des europäischen Asylrecht vorzuziehen. Allerdings stockt das Vorhaben nach dem Bruch der Ampel-Koalition, die SPD könnte jetzt aber ebenfalls Anträge zur Migration vorlegen. Außenministerin Annalena Baerbock wirft der Union auf dem Grünen-Parteitag zudem vor, Teile des bereits im Bundestag beschlossenen Sicherheitspakets im Bundesrat zu blockieren. Bei der Union sollte am Sonntagabend der Geschäftsführende Fraktionsvorstand noch einmal über die Anträge reden, am Montag dürften sie fertig werden, am Dienstag in der Fraktionssitzung bestätigt.

Für Mittwoch ist dann im Bundestag, in der letzten regulären Sitzungswoche vor der Bundestagswahl, eine Regierungserklärung des Kanzlers vorgesehen. Merz wird antworten. Es wird um die Migrationspolitik gehen. Auch die beiden Anträge sollen am Mittwoch, spätestens am Donnerstag, in den Bundestag gehen – und könnten, weil es keine Gesetze sind, sofort mit einfacher Mehrheit beschlossen werden.

Ist der Vorstoß ein Alleingang von Merz? Das wohl nicht. In der zweiten Hälfte der vorigen Woche soll es intensive Gespräche im Geschäftsführenden Fraktionsvorstand und im Parteipräsidium gegeben haben. In der Nacht zum Freitag berief Merz eine Präsidiumssitzung ein, bei der dem Vernehmen nach niemand dem CDU-Vorsitzenden widersprach. Dennoch ist zu hören, Merz sei in der Sache mit „extrem großer Entschlossenheit“ vorgegangen.

Jedenfalls weiß jeder, der nur leidliches politische Gewicht hat, dass Kritik am Kanzlerkandidaten jetzt nicht mehr möglich ist. Vier Wochen vor der Bundestagswahl würde das zum Streit in den eigenen Reihen führen. Die Erinnerung an das Wahljahr 2021, als die Union nicht zuletzt wegen ihres tiefen Zerwürfnisses knapp der SPD unterlag, ist noch sehr gegenwärtig in CDU und CSU. Von den ersten Wahlkampfauftritten von Merz nach seiner Ankündigung jedenfalls wird über Zustimmung berichtet. Als er am Sonntag aber in einer Schützenhalle im sauerländischen Menden auftreten will, sind deren Wände schon beschmiert: „Nie wieder CDU“ und „Antifa in der Offensive“, steht da.