Die Likörflasche stammt von der Firma Haberfeld in der polnischen Stadt Auschwitz. Die „Spiritus-Raffinerie und Dampf-Fabrik“ der Haberfelds war dort vor dem Krieg einer der größten Arbeitgeber. Sie war international erfolgreich, und 1939, als Nazideutschland Polen überfiel, war das Ehepaar Alfons und Felicia Haberfeld gerade auf der Überfahrt zurück von New York, wo es seine Liköre präsentiert hatte. Ihr Schiff wurde in den Wirren des Kriegsbeginns nach Schottland umgeleitet, und weil sie Juden waren, kehrten sie nie zurück ins besetzte Polen. Ihre kleine Tochter Franciszka Henryka, die sie bei der Großmutter gelassen hatten, ermordeten die Deutschen im Holocaust.
Ich habe die Flasche der Haberfelds im Januar 2005 von Robert Nowak bekommen, als ich über den 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz berichtete. Robert war damals Führer in der Gedenkstätte des Vernichtungslagers. Seine Großmutter hatte mir beim Sonntagsbraten von ihrer Kindheit unter deutscher Besatzung erzählt, und wenn sie vom Geruch des Rauches erzählte, der sich bei entsprechendem Wind von den Krematorien in die Stadt wälzte, fasste sie sich an den Hals, um ein Würgen anzudeuten.
Ich hörte zu, noch mitgenommen vom Besuch des Lagers am Tag davor, vom Eindruck der Gaskammern und des Raumes, wo neben einem langsam zerfallenden Berg aus abgeschnittenem Frauenhaar auch ein Mädchenzopf mit blauer Schleife liegt. Am Lager waren mir die Wachttürme aufgefallen – und vor allem das „Deutsche“ an ihnen: das handwerklich gut Gemachte, die sorgfältige Zimmermannsarbeit, Spitzdächer, mit einem kunstfertigen Knick auf halber Höhe, so als bewache man hier keinen Vergasungsbetrieb, sondern ein Fachwerkstädtchen aus der Märchenzeit.
Als dann der Jahrestag kam, sah ich die Reihen der Überlebenden, die man zur Feierlichkeit eingeladen hatte. Schnee fiel, und an den Elektrozäunen deklamierten alte Frauen und Männer ihr Zeugnis in die fallende Nacht. Fernsehreporter rannten herzu und tauchten sie ins Licht ihrer Scheinwerfer.
Von den Resten des Krematoriums Nummer II rannte einer der Alten auf mich zu. Ich hatte beobachtet, wie er in die Kerzen an der Ruine geblickt hatte, aber jetzt drehte er sich um und kam. Gestikulierend, lachend, weinend, aber immerzu redend fasste er mich am Arm und erzählte seine Geschichte auf Polnisch, Hebräisch, Englisch und Deutsch. Er berichtete, wie er als Gefangener dieses Krematorium selbst mitgebaut habe, und er zeigte die tätowierte Häftlingsnummer am Unterarm. Er erzählte von seiner Familie, von der niemand überlebt hatte. Dann verschwand er in der Dunkelheit, immer noch weinend, lachend, redend. Seinen Namen habe ich so notiert, wie ich ihn damals verstanden habe: Abraham Zelek.
Die Kanne meines Großvaters hat am Boden einen kyrillischen Aufdruck: Kusnezow. Das war ein Moskauer Porzellanproduzent der Zarenzeit, und seine farbigen Rosendekors waren populär, bevor die Firma nach Lenins Oktoberrevolution in „Prawda“ umbenannt und der letzte Besitzer, Georgij Kusnezow, nach Sibirien deportiert wurde.
Mein Großvater, der die Kanne aus dem Krieg heimgebracht hatte, war wie ich Siebenbürger Sachse, also ein Angehöriger der deutschen Minderheit in Rumänien. Weil aber das Königreich Rumänien damals genau wie Deutschland in die Hände eines faschistischen Führers gefallen war und sich 1941 dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion anschloss, war er als Stabsarzt der rumänischen Armee mitgezogen.
„Diesen Krieg haben wir verloren.“
Was er im Russlandfeldzug getan hat, weiß niemand mehr. Aus dem ersten Weltkrieg war er als sanfter, aber äußerst ernster und schweigsamer Mann zurückgekehrt. Seinem Sohn, meinem Vater, erzählte er nie davon, obwohl das Kind oft fragte. Sein winziges, mit Bleistift geführtes Tagebuch enthielt nur sehr knappe Einträge. Einer davon lautete „Blutige Schlacht“. Er stammte aus einer Familie von evangelischen Dorfpfarrern, aber entgegen der Familientradition wurde er Landarzt, und man sagt, er habe seinen Patienten jeweils die Summen in Rechnung gestellt, die ihnen entsprachen: den reicheren mehr, den ärmeren weniger.
Im Zweiten Weltkrieg dann ging er, anders als die meisten anderen Siebenbürger Sachsen, nicht zur Waffen-SS, sondern zur rumänischen Armee. Er kam bis in den Kaukasus, immer in den vordersten Lazaretten. Bei seinen sehr seltenen Fronturlauben erzählte er wieder fast gar nichts. Nur einmal, als er glaubte, dass keiner zuhörte, sagte er seiner Frau, meiner Großmutter, leise in unserem siebenbürgisch-sächsischen Dialekt: „Diesen Krieg haben wir verloren.“ Mein Vater, damals ein Junge von vielleicht 13 Jahren im Siegesrausch der Kampflieder, hörte es durch die Tür, und es traf ihn wie ein Schlag.
Was aber hat die Kanne meines Großvaters mit dem Holocaust zu tun? Er selbst soll erzählt haben, sie habe auf der Schwelle eines leeren Hauses gestanden, als er sie mitnahm. Aber wo stand dieses Haus? Die rumänische Armee jedenfalls hat 1941 das ukrainische Odessa besetzt, die schönste Hafenstadt des Schwarzen Meeres mit ihren Platanenalleen – und mit ihren damals 200.000 Juden die drittgrößte jüdische Metropole der Welt nach New York und Warschau.
Und die rumänischen Besatzer wurden zu Mittätern der Deutschen am Judenmord. Die Internationale Kommission zum Holocaust in Rumänien hat festgestellt, dass während des Krieges in rumänisch kontrollierten Gebieten bis zu 380.000 Juden ums Leben gekommen sind.
Wie die Juden von Odessa ermordet wurden, hat mir Michail Alexandrowitsch Salawskij erzählt, der Geschäftsführer der Vereinigung jüdischer KZ- und Ghettohäftlinge in der Stadt. Es war das Jahr 2007, und in einem Ton, der mir damals merkwürdig heiter vorkam, berichtete er, wie er, an den Tagen zwischen dem 22. und dem 24. Oktober 1941, unter Schlägen und Gelächter von den Rumänen und wohl auch einigen Deutschen durch die Stadt getrieben wurde; wie er seinen kleinen Bruder zuerst auf den Schultern trug und dann im Gewühl verlor, und wie er sich schließlich zusammengepfercht mit unzähligen anderen Juden in einem hölzernen Munitionsdepot wiederfand, das dann plötzlich nach Benzin roch und einen Augenblick später brannte.
„Da habe ich eben gelernt zu erzählen, ohne zu weinen.“
In Odessa haben Hitlers rumänische Verbündete damals bis zu 25.000 Juden und einige Tausend sowjetische Kriegsgefangene ermordet, aber Michail Alexandrowitsch ist entkommen. Der Dachstuhl war wohl eingestürzt, und obwohl die Soldaten auf alles schossen, was sich bewegte, konnte er sich retten. Er versteckte sich, wurde entdeckt und versteckte sich wieder. Seine vier Geschwister und seine Mutter sah er nie wieder. „Hundertmal hab ich es schon erzählt“, sagte er mir in seiner merkwürdigen Heiterkeit. „Da habe ich eben gelernt zu erzählen, ohne zu weinen.“
Ich weiß nicht, was mein Großvater an diesen Tagen getan hat. Ich könnte mir sagen, dass er wahrscheinlich nicht unmittelbar dabei war. Vielleicht war er anderswo im Einsatz. Man könnte auch vermuten, dass die rumänische Armee nicht gerade ihre Stabsärzte einsetzte, um Menschen durch Straßen zu jagen. Er galt außerdem als freundlicher Mann, bei aller Schweigsamkeit. Ein Familienfoto aus der Vorkriegszeit zeigt ihn an einem Sommertag in seinem siebenbürgischen Obstgarten mit einem jubelnden blonden Kind auf den Schultern: seiner Tochter Gerda, der Schwester meines Vaters.
Außerdem war mein Großvater kein Nazi, anders als viele andere Siebenbürger Sachsen, die damals auf einer Welle von Hitler-Begeisterung schwammen. Deshalb ging er auch nicht, wie die meisten anderen, zur Waffen-SS, sondern zur rumänischen Armee. Das war keine Kleinigkeit, denn es gab Druck von der „Volksgruppe“, und in rumänischer Uniform musste man scheele Blicke in Kauf nehmen, zumal die jungen Frauen Siebenbürgens sich damals gymnasialklassenweise in die schneidigen deutschen Soldaten verliebten. Die Rumänen, die als nur begrenzt schneidig galten, hatten das Nachsehen.
Mein Großvater war auch kein Antisemit. Ich weiß das, denn nach dem Abzug der Deutschen aus Rumänien, als im Haus meiner Familie Rotarmisten einquartiert waren, lief das Fräulein Weinstock herbei, eine jüdische Patientin, und sagte dem sowjetischen Politkommissar, diesen Deutschen solle man nichts tun, denn das seien anständige Deutsche.
Es gibt ein „aber“
Das alles könnte meinen Großvater entlasten, doch es gibt ein „aber“. Der „anständige Deutsche“ nämlich ist eine schillernde Figur, die in meinen Gesprächen mit Überlebenden des Holocausts immer wieder aufgetaucht ist. Zuletzt, als ich in Kiew mit Halyna Jakowlewna Kosyra sprach. Die hatte als Kind das Massaker von Babyn Jar überlebt, einer Schlucht im Norden der Stadt, in der Wehrmacht und SS am 29. und 30. September 1941 knapp 34.000 Jüdinnen und Juden erschossen. Heute steht dort eine Gedenkstätte, und als Russland vor drei Jahren seinen Großangriff auf die Ukraine begann, schlug hier eine der ersten Bomben ein.
Ich traf Halyna Jakowlewna 2016 kurz vor dem siebzigsten Jahrestag des Massakers von Babyn Jar in ihrer Kiewer Blockwohnung. Sie lief gebeugt auf geschwollenen Beinen, ihre Tochter war dabei und stützte sie. Während sie sprach und manchmal weinte, lag auf dem Tisch der Alarmknopf für den Notarzt.
Ihre Mutter hatte zu den Opfern von Babyn Jar gehört, und ein Entkommener hatte Halyna Jakowlewna später berichtet, was er dort gesehen hatte: Wie die Juden von Kiew, vom Kind bis zur Greisin, sich nackt an die Kante der Schlucht stellen mussten, wie die Gewehre ratterten, wie sie hinunterstürzten, manche tot, manche lebend. Wie man dann die Hänge sprengte, um die Körper zu bedecken, und wie die Erde sich bewegte, wo jemand noch lebte.
Wo aber ist in dieser Erzählung der Platz des anständigen Deutschen?
Halyna Jakowlewnas Mutter hatte ihn tags zuvor auf der Straße getroffen. Sie hatte wie alle anderen auch die Plakate gesehen, auf denen die Deutschen den Kiewer Juden unter Androhung der Todesstrafe befohlen hatten, sich zu einer bestimmten Stunde mit warmer Kleidung an der Melnyk-Straße beim Bahnhof einzufinden. Der Mutter kam das seltsam vor, und da sie ein wenig Deutsch konnte, suchte sie unter den deutschen Soldaten auf der Straße einen aus, der ein nettes Gesicht zu haben schien. „Ich verstehe das nicht“, sagte sie ihm. „Wir gehen also morgen zur Melnyk-Straße, wie es auf diesen Plakaten steht – aber was ist danach?“
Die Mutter hatte sich nicht geirrt. Der Mann war wirklich nett, und in nettem Ton gab er ihr eine kurze Antwort: „Es gibt kein danach.“
Die Mutter ging heim, und was sie dann tat, war von so unerhörter Härte, dass Halyna Jakowlewna, ihre damals noch kleine Tochter, noch siebzig Jahre später immer wieder eine Pause machen musste, als sie mir davon erzählte.
Als der Morgen kam, bat die Mutter ein nicht jüdisches Teenagermädchen aus der Nachbarschaft, ihre Kinder zu übernehmen, als wären es ihre Geschwister. Schon waren die Deutschen im Hof, man hörte sie rufen: „Raus, los, vorwärts.“ Halyna Jakowlewna erinnert sich an Angst und Geschrei, sie erinnert sich, wie ihre Mutter sich zwang, auch nicht den kleinsten Blick mehr auf sie zu werfen, als sie mit den anderen fortgetrieben wurde. Niemand sollte erkennen, dass Halyna ihr Kind war, das Kind der Jüdin. Unmenschlich kalt kam Halyna diese abgewandte Frau damals vor, ihre Mutter, die noch am selben Tag starb.
Halyna Jakowlewnas Füße staken in geblümten Pantoffeln. Das Reden strengte sie an, die Zunge war schwer. „Dieser Deutsche hat uns gerettet“, sagte sie schließlich.
„Gerettet?“, fragte ich, und mein Großvater ging mir durch den Kopf.
Die alte Frau wusste, was die Frage bedeutete: Nett war er ja, dieser Deutsche, aber wer weiß, was er wenige Stunden später getan hatte? Wenn er mit dabei war am Rand der Schlucht, was bleibt da von seiner Nettigkeit?
Halyna war unter Stalin aufgewachsen. Sie wusste, was für eine furchtbare Sache der Befehl eines Diktators ist. „Was hätte er tun sollen?“, fragte sie mich, und ihre Stimme klangt ratlos. „Er war ja Soldat.“ Die Tochter nickte. „Wir sind ihm dankbar.“
In meinen Gesprächen mit Opfern des deutschen Terrors in Polen und in der Ukraine ist mir die Geschichte vom „netten Deutschen“ immer wieder begegnet: Die Erzählung von dem Mann, der half, während die anderen mordeten. Mir scheint klar, warum das so ist: Wenn Wehrmacht und SS wüteten, überlebten vor allem die, welche unter hundert Mördern auf den einen trafen, der wenigstens für einen Augenblick eine menschliche Regung zeigte. Der warnte oder mit Absicht danebenschoss. So hat sich die Erzählung von diesem einen erhalten, während die Erinnerung an die anderen, die Grausamen oder Feigen, mit ihren Opfern starb.
Wir wissen aber nicht, was diese „Anständigen“ getan haben, wenn der Augenblick der Menschlichkeit vorbei war. Wir wissen nicht, ob der nette Deutsche, der Halynas Mutter warnte, tags darauf mordete, und ich weiß auch nicht, wo mein Großvater war, als seine Kameraden die Juden von Odessa verbrannten. Vielleicht war er nicht direkt dabei, es gibt, wie gesagt, Grund zu dieser Hoffnung. Aber mir scheint es trotzdem fast ausgeschlossen, dass er nichts von dem Mord an 25.000 Menschen mitten in der Stadt mitbekommen hat.
Und wir, die Heutigen? Als ich geboren wurde, war die Befreiung von Auschwitz 16 Jahre her, und für die deutschen Kinder, die jetzt zur Welt kommen, liegt sie 80 Jahre zurück. Was gehen sie die Taten ihrer Urgroßeltern an?
Die Reliquie des Großvaters
Meine Eltern haben mir dazu die Geschichte von den belegten Brötchen erzählt, und die geht so.
In Siebenbürgen gab es einen Ableger der Hitlerjugend. Sie hieß „Deutsche Jugend“, und mein Vater, der Sohn des Großvaters mit der Kanne, war als Kind begeistert dabei. Er war begeistert von den Marschliedern und Kampfspielen der Sommerlager, er verehrte seinen Soldatenvater als Helden, und nachdem der beim Operieren gestorben war, trug er seinen letzten Zigarettenstummel jahrelang als Heldenreliquie in einem versilberten Etui bei sich. Nach dem Einmarsch der Roten Armee beschaffte er sich zusammen mit ein paar Freunden ein Gewehr, um zu kämpfen, wenn das Reich wieder erstehen würde. Gott sei Dank kam es nie dazu. Erst als Student in den Fünfzigern überwand mein Vater seine Naziverblendung unter dem beharrlichen Einfluss eines jüdischen Dozenten mit ungarischer Muttersprache, der auf dem Höhepunkt seiner pädagogischen Mission Großvaters Zigarettenstummel im Klo hinunterspülte.
Auch auf meine Mutter hatte es abgefärbt. In ihrem Elternhaus misstraute man Hitler zwar, und als es beim Völkerball einmal hieß, dass Magda, das einzige jüdische Mädchen in der Klasse, ausgeschlossen werden müsse, setzte meine Mutter durch, dass sie doch mitspielen durfte. Andererseits konnte meine Mutter die schlimmsten Grimassen der ganzen Schule schneiden, sodass sie immer den „krumpeten Juden“ gab, wenn auf Kindergeburtstagen die Rollenspiele dran waren.
Das Lied von der blonden Erika
Später haben meine Eltern sich dann so gut es ging von ihrer Naziprägung befreit. So gut es ging hieß: Ein bisschen blieb übrig. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass man in meiner Kindheit auf Festen oder bei Wanderungen in den Karpaten noch sang, mein Vater meist Melodie, meine Mutter zweite Stimme – und dass zum Repertoire meiner Eltern die Lieder ihrer Jugend gehörten. Sie sangen das Lied von der blonden Erika, die in der Heimat in strammem Marschtakt um ihren Soldaten weint, und wenn sie mit Freunden ein wenig tranken, sangen sie auch „Bomben auf Engelland“. Ich saß wohlig erschauernd dabei, und später sagte mir meine Mutter halb entschuldigend, mit diesen Naziliedern sei es nun mal wie mit der Butter auf frischen Semmeln: Wenn man sie einmal draufgeschmiert hat, kriegt man sie nicht mehr runter.
Ich bin diese Schauer bis heute nicht losgeworden. Es ist wie Malaria: Wenn man sie einmal hatte, kommt sie wieder, ob man will oder nicht. Wenn ich das Lied von der „Erika“ höre (zuletzt auf Youtube beim Schreiben dieser Zeilen), stellen sich mir am Unterarm die Haare auf, wie bei dem Nazijungen, der mein Vater war. Und das Virus hat auch noch schlimmere Symptome, von denen ich nicht reden möchte.
Was macht man mit so einem Virus? Roman Schwarzman aus Odessa, auch er ein Überlebender der Schoa, hat mir die Antwort gegeben, als ich ihn 2022 besuchte. Es war kurz nachdem Russland begonnen hatte, seine Stadt zu bombardieren. Wir fuhren mit dem Auto durch die berühmten Alleen, Schwarzman am Steuer, ich auf dem Rücksitz, und obwohl er damals schon 86 war, gab er Gas, als sei der Gottseibeiuns hinter ihm her. Er lenkte und redete, schaltete und gestikulierte, dass der Motor nur so heulte. Wir fuhren zu dem Platz weiter draußen zwischen Datschen und Blocks, wo man die Juden damals in hölzernen Baracken verbrannt hatte, und wo mein Großvater vielleicht nicht weit war. Wir kurvten um die Betonsperren, mit denen die Stadt sich gegen die anrückenden Russen wappnete, und während Schwarzman kurvte, konnte er nicht aufhören zu erzählen.
Als Junge war er mit seiner Familie ins Ghetto von Berschid gekommen. Einem seiner Brüder brach ein Wachmann mit dem Gewehrkolben zwei Rippen, weil er sich halb verhungert ein wenig Getreide aus einer Pferdekrippe genommen hatte. Ein anderer Bruder wurde erschossen. Schwarzman selbst hatte Glück und entkam.
Später trug seine Frau Tatjana Borschtsch und Wareniki auf, und immer wieder sprang das Gespräch hin und her: Von den Deutschen, die ihn damals umbringen wollten, weil er Jude war, zu den Russen, die ihn heute bombardieren, weil er Ukrainer ist, und dann zu den Deutschen von heute, die alles zu spät kapieren. Eine „kluge Nation“ seien wir doch, sagte der alte Herr, „eine der klügsten Europas“ – aber in unserer blanken Angst vor Putin wollten wir trotzdem nicht wahrhaben, dass der uns mit seinem billigen Gas doch genauso versklaven wolle wie die Ukraine mit seinen Raketen.
Wir fuhren dann noch zu der Stelle, wo damals die Lagerhäuser mit den Juden brannten. Heute gibt es dort Parkplätze und Datschen. Es gibt auch ein kleines Denkmal für die Toten, und am Denkmal trafen wir Tatjana Burdenko, die in Gummischlappen gekommen war, um ein wenig sauber zu machen. Sie hatte einen jüdischen Vater, und sie lebt hier, seit sie ein Kind war.
Schwarzmann und Tatjana kennen sich seit Langem, und so hat sie gleich zu reden begonnen: wie die Alten in der Nachbarschaft erzählten, dass sie an den Tagen des Feuers in den Keller mussten, um dem Geruch von brennenden Menschen zu entkommen, und wie dann nach dem Krieg, als man Kanalrohre legte, die Bagger immer wieder stoppten, weil sie auf Knochen und Kinderschuhe stießen. Sie, Tatjana, hat das selbst gesehen, und während sie erzählt, nimmt Schwarzman sie in den Arm und nennt sie „mein Mädchen“.
An diesem Tag habe ich dann auch meinen Großvater erwähnt, und dass er damals hoffentlich nicht dabei gewesen sei. Schwarzman sagte, ja, das komme vor. Unlängst erst sei wieder ein Deutscher bei ihm gewesen, und auch der habe ihm von seinem Großvater erzählt.