Einmal, ganz am Ende, brandet kurz Applaus auf, als Wolodymyr Selenskyj eine Kerze im Gedenken an die Opfer aufstellt. Ihm ist das sichtlich unangenehm, aber am Montag, dem 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers, werde nicht nur der Opfer gedacht, sondern auch die Freiheit gefeiert, hatte Piotr Cywinski gesagt, der Direktor des Museums und der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Selenskyj hatte sich in eine Schlange eingereiht zwischen Großbritanniens König Charles und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, die gemeinsam mit rund 60 Staatsoberhäuptern aus aller Welt den letzten Überlebenden und den Opfern dieses größten deutschen Lagers ihre Ehre erwiesen.
Doch spielten die Politiker nur am Rande eine Rolle. Im Mittelpunkt standen vielmehr die rund 50 der etwa noch 60 lebenden Auschwitz-Überlebenden, die zur Gedenkveranstaltung auf das wegen des Tauwetters völlig durchweichte Gelände in Birkenau gekommen waren. Die Organisatoren hatten große Zelte mit festen Böden aufgestellt, das größte davon über dem Eingangstor von Birkenau, in dem dann auch das Gedenken stattfand. Hinter dem Rednerpult war symbolisch ein Viehwaggon aufgestellt, einer von den vielen, in denen die Deutschen rund anderthalb Millionen Menschen nach Auschwitz verbrachten und den größten Teil von ihnen, vor allem Juden, Sinti und Roma, Polen sowie sowjetische Kriegsgefangene, ermordeten.
Die Überlebenden, die das Wort ergriffen, erzählten nicht nur von ihren Erlebnissen, sondern mahnten in eindringlichen Worten davor, so etwas wie Auschwitz wieder zuzulassen. „‘Nie wieder‘ ist unser Slogan“, sagte Janina Iwanska, 95 Jahre alt, die nach dem Warschauer Aufstand im August 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. „Aber wenn wir heute in die Welt schauen, sehen wir: Es kann immer wieder passieren.“ Mehrere Überlebende nahmen Bezug auf die Mordanschläge der Hamas vom 7. Oktober vorvergangenen Jahres. „80 Jahre nach Auschwitz ist die Welt wieder in einer Krise“, sagte Tova Friedman, die als sechs Jahre altes Mädchen die Befreiung erlebte. „Angst, Verschwörung, Antisemitismus und Extremismus gedeihen überall, und Israel kämpft um seine Existenz.“
Die Befreiung war nicht das Ende des Judenhasses
Dennoch gebe sie die Hoffnung nicht auf, dass die Menschheit stark und widerstandsfähig sein werde, sagt Friedman. Sie berichtet, wie sie 1944 nach schier endloser Zugfahrt in Auschwitz ankam, erzählt von den Schäferhunden, denen sie direkt in die Augen blicken konnte, und von dem „entsetzlichen Gestank“, der in der Luft gelegen habe, den endlosen Appellen, bei denen sie stillstehen musste und sich das Weinen verbat, um den Aufsehern nicht Schwäche zu zeigen. „Ich, als fünfeinhalb Jahre altes Mädchen wusste, was die Rauchsäulen bedeuteten“, sagt sie mit fester Stimme. Sie habe fest damit gerechnet, auch in diesem Lager sterben zu müssen, „dabei wusste ich damals gar nicht, was ‚jüdisch‘ eigentlich war“.
Die rund 2.500 Menschen im Publikum hören gebannt zu. Ganz besonders, als Leon Weintraub, 99 Jahre alt, nach vorne geht und berichtet, wie er 1944 als Achtzehnjähriger aus Lodz nach Auschwitz kam mit seiner Mutter und Schwester, die beide noch am Ankunftstag ins Gas getrieben wurden. „Ich fühlte mich so allein, brutal von der Familie getrennt, und tagtäglich in diesem furchtbaren Gestank!“ Monate später verlegten ihn die Deutschen in ein Außenlager, wo er als Elektriker arbeitete. Das Kriegsende erlebte er nach einer Odyssee durch weitere Konzentrationslager Ende April 1945 in Südwestdeutschland.
Weintraub studierte Medizin, ging 1950 zurück nach Polen, wurde ein angesehener Gynäkologe. Doch 1969 verlor er seinen Job – „weil ich Jude war“. Mit kräftiger Stimme legt er offen, dass mit der Befreiung von Auschwitz eben nicht das Ende des Judenhasses gekommen war. Weintraub emigrierte nach Schweden, aber bliebe seinem Heimatland Polen verbunden und beobachtet die Lage bis heute. „Ich habe kein Verständnis dafür, dass Menschen hier auf Demonstrationen offen Nazi-Symbole zeigen“, ruft er. „Rassismus, Antisemitismus, Homophobie – und das alles in einem Land, das so unter den Nazis gelitten hat!“ Und schon gar nicht könne er verstehen, dass das für die Täter kaum Konsequenzen habe, sagt er in Richtung der vor ihm sitzenden Politiker.
Geringer Widerstand ermöglichte Hitler Vernichtung
Am Ende richtet er einen Appell vor allem an die jungen Leute, verantwortungsvoll mit der Sprache umzugehen und sich der Geschichte bewusst zu sein. „Wir, die wir überlebt haben, wissen um die Folgen. Lasst uns ernstnehmen, was die Feinde der Demokratie sagen, denn sie setzen um, was auf ihren Plakaten steht!“ Auschwitz, sagt Weintraub, stehe auch als „Symbol gegen das Anwachsen rechtsradikaler und extremistischer Entwicklungen in unseren Ländern“. Eine Studie der Jewish Claims Conference hatte jüngst ergeben, dass 40 Prozent der Deutschen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren kaum Wissen über den Holocaust haben.
Auch in den anderen Ländern sei die Entwicklung ähnlich, beklagte Ronald Lauder. Der amerikanische Kosmetikkonzernerbe widmet sich seit 50 Jahren dem Erinnern und besonders dem Erhalt der Gedenkstätte Auschwitz; er zählt zu ihren wichtigsten Geldgebern. Er erinnerte an die Tatsache, dass es bald niemanden mehr geben wird, der aus persönlichem Erleben von Auschwitz erzählen kann und mahnte, laut zu sein, wo immer es Antisemitismus gibt. „Es war eine Welt der Stille, die zu Auschwitz führte“, sagte er mit Blick auf den geringen Widerstand gegen die offensichtliche Judenverfolgung in Deutschland in den dreißiger Jahren. Das habe Hitler gezeigt, dass er mit den Juden tun und lassen konnte, was er wollte.
Der Schluss der Veranstaltung gehört dann noch einmal ganz den Überlebenden. Begleitet von jungen Menschen gehen sie, einer nach dem anderen, mit Kerzen in der Hand nach vorn. Viele haben ein weiß-blau gestreiftes Halstuch umgebunden, in Farben und Design der Häftlingskleidung, die sie im Lager tragen mussten. Viele gehen am Stock und mit Krücken, manche haben Tränen in den Augen. Aber als sie ihre Kerzen abstellen und sich vor ihren toten Mitinsassen verneigen, verfliegt für einen Moment die Zerbrechlichkeit, und in ihren Gesichtern ist Stärke zu sehen. Denn sie haben die Hölle auf Erden erlebt. Und sie werden davon berichten, solange sie noch können.