In der Ukraine kommt es jetzt auf Europa an

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Die Ukraine geht in den dritten Kriegswinter, und drei Dinge machen ihr das Überleben schwer. Erstens ist es Russland gelungen, den Stellungskrieg des letzten Jahres aufzubrechen. Wie Lava arbeiten sich Wladimir Putins Truppen vor und verbrennen im Donbass Dorf um Dorf. Jeden Tag verlieren sie 1000 bis 2000 Soldaten, aber Putin will offenbar so viel Land wie möglich gewinnen, bevor in Amerika Donald Trump ins Amt kommt.

Die zweite Neuerung ist Trump selbst. Er und seine Leute scheren sich nicht viel um die Ukraine, und es ist unklar, ob sie ihr weiter helfen werden.

Drittens ist der Krieg zuletzt immer deutlicher zum globalen Konflikt geworden. Nordkorea schickt Putin Soldaten, China vermutlich Kampfdrohnen. Neuerdings steht Peking im Verdacht, in der Ostsee Datenkabel anzugreifen. China wäre damit Teilnehmer eines hybriden Krieges in Europa. Erstmals seit den Türkenkriegen droht die Alte Welt zum Spielball asiatischer Mächte zu werden.

Wie ein Bagger im Tagebau

Zum ersten Punkt, der Lage an der Front, hat sich Generalmajor Christian Freuding geäußert. Er leitet das Lagezentrum Ukraine im Verteidigungsministerium, und vor Kurzem hat er die russische Armee mit einem „Schaufelbagger“ verglichen, der sich durch einen Tagebau gräbt. „Anfangs langsam, jetzt schneller.“ Freuding glaubt zwar nicht, dass die Ukraine vor einer entscheidenden Niederlage steht, aber er sieht auch kein Ende der Rückzüge. Der Bahnknoten Pokrowsk, den die Russen gerade bestürmen, könnte seiner Ansicht nach Anfang 2025 fallen.

Zugleich dürfte Russland im kommenden Winter seinen Bombenterror weiter steigern. Der Datenfachmann Marcus Welsch hat ausgerechnet, dass es im Oktober so viele Angriffe gab wie nie zuvor. Aus Vergleichen von Verbrauch und Produktion leitet er ab, dass Russland gerade „große Arsenale an Marschflugkörpern und Raketen“ anhäuft. Damit könnte Putin zum finalen Angriff auf die Energieversorgung der Ukraine ansetzen. Heizungs- und Stromausfälle könnten dann Hunderttausende zur Flucht zwingen. Bisher hat Russland die drei letzten Atomkraftwerke der Ukraine verschont. Jetzt aber meldet die Internationale Atomenergieagentur immer mehr Angriffe auf ihre Leitungen und Umspannwerke, sodass auch diese Energiequelle in Gefahr ist.

Einkaufen in Zeiten des Stromausfalls: Ein Supermarkt in Kiew.
Einkaufen in Zeiten des Stromausfalls: Ein Supermarkt in Kiew.Imago

Faktor zwei, der Machtwechsel in Amerika, könnte zusammen mit diesen Bedrohungen dazu führen, dass die ­Ukraine einem Waffenstillstand zustimmen muss, in dem sie ihr verlorenes Gebiet de facto aufgibt. Trump dürfte darauf dringen, den Krieg mit Russland zu stoppen, denn er sieht im globalen Ringen nicht Moskau als Hauptrivalen, sondern Peking. Die Ukraine wird aus amerikanischer Sicht damit zum Nebenkriegsschauplatz – das amerikanische Geld nicht wert, das dort verbrennt. Trumps künftiger Vizepräsident J. D. Vance will deshalb Putin einen Deal vorschlagen, in dem die Ukraine auf ein Fünftel ihres Gebietes und die versprochene Aufnahme in die NATO verzichten müsste.

Niemand weiß, ob Putin da mitmachen wird. Seine Truppen sind im Vormarsch. Er will eigentlich die ganze ­Ukraine, und er hat keinen Grund, gerade jetzt mit dem Erobern aufzuhören – es sei denn, Trump überredet ihn. Wie das gehen könnte, hat der im Oktober erzählt. Da sagte Trump, er habe Putin einmal angedroht, ihm „mitten im verdammten Moskau“ die „verfickten Kuppeln“ über dem Kopf wegzupusten. Er fügte hinzu, es sei ja bekannt, dass er „fucking crazy“ sei.

Die Kuppeln wegpusten: Donald Trump und Wladimir Putin im Jahr 2018
Die Kuppeln wegpusten: Donald Trump und Wladimir Putin im Jahr 2018AFP

Die Ukraine hat das Konzept „Land für Waffenruhe“ nie gewollt, aber Präsident Wolodymyr Selenskyj scheint verstanden zu haben, dass er keine Wahl hat. Anfang Dezember sagte er, ein Waffenstillstand sei auch möglich, ohne dass die Ukraine ihre Gebiete vorher zurückbekomme. Er fügte zwar hinzu, das gehe nur, wenn der Rest des Landes den Schutz der NATO bekomme. Aber weil Trump, Olaf Scholz und Viktor Orbán diesen Wunsch kaum erfüllen werden, hat er wenig Chancen auf Gehör.

Die dritte Neuerung des Jahres 2024, die Globalisierung des Konflikts, zeigt sich am deutlichsten am Einsatz Chinas. Ein chinesisches Frachtschiff steht im Verdacht, in der Ostsee möglicherweise absichtlich mit dem Anker Datenkabel durchtrennt zu haben, die Deutschland, Finnland, Litauen und Schweden verbanden. Weil außer China auch Iran und Nordkorea Russland direkt unterstützen, ist aus einem regionalen Krieg eine Blockkonfrontation geworden, die dem Ost-West-Konflikt des 20. Jahrhunderts gleicht – allerdings mit wichtigen Unterschieden. Auf westlicher Seite ist zwar Amerika weiter die Vormacht, aber sein Schutzversprechen für die Verbündeten wackelt. Im Osten ist nicht mehr Moskau das alleinige Zentrum. Peking wird immer mächtiger, und Putins Krieg gegen die Ukraine könnte bald zu einer Art Stellvertreterkrieg werden: Chinas Vasall Russland kämpft gegen Länder, die China als Vasallen Amerikas sieht.

Der chinesische Frachter Yi Peng an der Einfahrt zur Ostsee. Das Schiff soll europäische Datenleitungen am Meeresgrund zerstört haben.
Der chinesische Frachter Yi Peng an der Einfahrt zur Ostsee. Das Schiff soll europäische Datenleitungen am Meeresgrund zerstört haben.AFP

Noch aber verfolgt Putin eigene Ambitionen. Die russischen Ultimaten kurz vor dem Großangriff von 2022 haben gezeigt, was er will: Die NATO soll aus Osteuropa abziehen, Amerika seinen Nuklearschirm über dem Kontinent zuklappen. Russland wäre dann der Hegemon des Kontinents.

Ein erster Schritt zur russischen Hegemonie wäre ein instabiler Waffenstillstand in der Ukraine – eine Waffenruhe ohne Garantieleistungen der NATO und vor allem Amerikas. Putin könnte dann ein paar Jahre Pause machen und seine ramponierte Armee aufpolieren. Er könnte zugleich seine Rüstungsindustrie weiter auf Hochtouren laufen lassen. Danach könnte er wieder zuschlagen, um das „dreieinige“ Imperium aus Russland, der Ukraine und Belarus zu schaffen, das er zu seinem Ziel erklärt hat.

In diesem Fall würden für die NATO gewaltige Risiken entstehen. Am Tag, an dem russische Truppen an den Westgrenzen von Belarus und der Ukraine stehen, müsste der Westen einen zusätzlichen Grenzstreifen verteidigen, der von Lettland und Litauen über Polen, die Slowakei und Ungarn bis nach Rumänien reicht. Eine ohnehin von Trump geschwächte NATO müsste dann genug Soldaten aufbringen, um gegen ein kampfgestähltes, siegestrunkenes Russland 2643 Kilometer mehr an Grenze als bisher zu verteidigen. Die amerikanische Zeitschrift „Foreign Affairs“ hat untersucht, was das hieße. Ein Kollaps der ­Ukraine, heißt es dort in einer Analyse von Elie Tenenbaum und Leo Litra, hätte „verheerende“ Wirkung auf Europa. In der „Vertrauenskrise“, die dann käme, könnten manche Länder zu Putin überlaufen.

Deutschland hat vier Jahre Zeit – vielleicht

Weil das für Putin eine Einladung zum Angriff wäre, nimmt man solche Szenarien in Berlin bitterernst. Der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, hat unlängst bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik gesagt, Moskau bereite einen Krieg mit dem Westen vor. Russland werde dann vermutlich nicht die Frontalattacke wählen, sondern erst Provokationen „in Spitzbergen“ oder mit „grünen Männchen“ im Baltikum probieren. Wenn dann die NATO nicht entschieden reagiere, sei ihr Schutzversprechen entwertet. Kahl nannte das ihr „Scheitern“. Generalmajor Freuding äußerte sich analog. Seiner Ansicht nach will Russland in fünf bis acht Jahren in der Lage sein, NATO-Gebiet anzugreifen.

Also ab 2029. Dieses Jahr könnte auch deshalb kritisch werden, weil dann Trumps Amtszeit endet. Damit könnte auch der Waffenstillstand, den er jetzt will, wacklig werden. Wenn es Trump nämlich gelingt, Frieden zu erzwingen, hängt sein Prestige daran. Deshalb wird er ihn möglicherweise verteidigen wollen, so lange er im Amt ist. Sein Nachfolger aber wird dieses Motiv nicht mehr haben und könnte sich von der Ukraine noch weiter abwenden. Für Putin wäre das die Gelegenheit, wieder anzugreifen.

Der Blick auf 2029 gäbe Deutschland und Europa vier Jahre Zeit zur Vorbereitung. Für diese Zeit könnten die Verbündeten sich drei Prioritäten setzen: Sie könnten erstens die Ukraine stärken, sie müssten sich zweitens bereitmachen, Amerikas Rolle in Europa zum Teil zu übernehmen, und sie müssten drittens zugleich versuchen, trotz Trump engen Kontakt zu Washington zu halten.

Das Modell Israel

Die erste Priorität, die Stärkung der Ukraine, könnte man das „Modell Israel“ nennen: Ein Land, das nicht in die NATO darf, wird so stark gemacht, dass es sich selbst verteidigen kann.

Einiges könnte sofort getan werden. Der Bundestag hat die deutsche Regierung aufgefordert, der Ukraine den Marschflugkörper Taurus zu liefern, und Scholz könnte das tun. Zur Abwehr der kommenden Winterbombardements könnte der Westen mehr Flugabwehrsysteme liefern oder von Polen oder Rumänien aus selbst Drohnen über der Ukraine abschießen. Der Datenforscher Welsch hat außerdem vorgeschlagen, amerikanische Reserven an Abwehrgeschossen, die eigentlich für Europa bestimmt waren, erst mal der Ukraine zu überlassen. Das würde allerdings voraussetzen, dass sofort nachbestellt wird, und Bestellen kostet Geld.

Krieg gegen die Bevölkerung: Eine Straße in der ukrainischen Stadt Odessa nach einem russischen Bombenangriff.
Krieg gegen die Bevölkerung: Eine Straße in der ukrainischen Stadt Odessa nach einem russischen Bombenangriff.AFP

Überhaupt ist für die Verteidigung der Ukraine sehr schnell sehr viel mehr Geld nötig. Der Haushaltsentwurf der Regierung sieht für 2025 vier Milliarden Euro vor, aber Scholz hat in seiner Rede nach der Entlassung von Finanzminister Christian Lindner gesagt, man brauche drei Milliarden mehr. Dass Lindner die angeblich nicht herausrücken wollte, gehörte zu den Entlassungsgründen.

Deutschland könnte einen Teil des fehlenden Geldes sofort lockermachen. Die Regierung hat zwar keine Mehrheit mehr, aber mit den Stimmen der FDP oder der Union kann der Bundestag trotzdem jederzeit überplanmäßige Ausgaben beschließen. Die westlichen Verbündeten könnten der Ukraine außerdem sehr schnell das russische Staatsvermögen übertragen, das sie nach dem Überfall eingefroren haben. Das wären etwa 285 Milliarden Euro. Dagegen gibt es zwar völkerrechtliche Einwände, aber denen kann erwidert werden: Russland verletzt das Völkerrecht in der Ukraine selbst in so gewaltigem Maße, dass Bedenken verblassen müssen. Der Ukraine könnte so eine Finanzspritze entscheidend helfen. General Freuding hat im „Handelsblatt“ gerade erläutert, dass in der Ukraine im Augenblick Rüstungsgüter im Wert von zehn Milliarden Euro nicht gebaut werden können, weil das Geld fehlt.

Das Modell Korea

Als zweite Priorität kristallisiert sich gerade der Gedanke heraus, dass Europa einen künftigen Waffenstillstand in der Ukraine mit eigenen Soldaten sichern könnte. „Foreign Affairs“ spricht hier vom „Modell Südkorea“, weil dieses Land seit Jahrzehnten vor allem durch die Anwesenheit amerikanischer Truppen vor dem aggressiven Norden geschützt wird. So eine Garantie durch Präsenz müssten in der Ukraine wohl Europäer leisten. Trumps designierter Ukraine-Beauftragter Keith Kellogg hat nämlich klargemacht, dass Amerika dazu nicht bereit ist.

Kraftwerke im Visier: Russlands Angriffe auf die Energieversorgung der Ukraine könnten im Winter Hunderttausende zur Flucht zwingen.
Kraftwerke im Visier: Russlands Angriffe auf die Energieversorgung der Ukraine könnten im Winter Hunderttausende zur Flucht zwingen.dpa

In Deutschland hat Außenministerin Annalena Baerbock Unterstützung für dieses Modell signalisiert. Beim letzten NATO-Außenministertreffen verlangte sie eine „internationale Präsenz zur Absicherung eines Waffenstillstandes“ in der Ukraine. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas sowie die Außenminister von Estland, Frankreich, Italien und Polen haben sich zuletzt ähnlich geäußert. Auch Großbritannien stellt solche Überlegungen an. Olaf Scholz dagegen gab sich vorsichtig und sagte im Bundestag, „in der gegenwärtigen Situation“ wolle er keine Soldaten in die Ukraine schicken – aber über die „gegenwärtige“ Situation des heißen Krieges hatte auch niemand gesprochen. Noch vorsichtiger erschien Friedrich Merz, der in Sachen Ukraine sonst immer Entschlossenheit zu zeigen sucht. Er sagte in der ARD, solche „Spekulationen“ seien „unverantwortlich“.

Tenenbaum und Litra haben in „Foreign Affairs“ durchgerechnet, wie eine europäische Friedensmission nach einem Waffenstillstand aussehen müsste, wenn sie nicht sofort in den Krieg verwickelt oder überrannt werden soll. Ihrer Ansicht nach sind fünf multinationale Brigaden nötig, also etwa 25.000 Soldaten. Sie müssten in der Ostukraine stationiert werden, aber nicht direkt an der Front, sondern mindestens 20 Kilometer weiter hinten. Ihre primäre Aufgabe wäre nicht der Kampf, sondern die Abschreckung.

Die Pfänder Amerikas

Das führt zur dritten Priorität, der Einbindung Amerikas. Die wäre unerlässlich, weil eine europäische Friedenstruppe nuklearen Schutz braucht, wenn sie Russland abschrecken soll. Den aber kann im Augenblick nur Amerika versprechen, und damit so ein Versprechen glaubwürdig wird, müssten die Vereinigten Staaten auch ein Minimum an eigenen Kräften in die gemeinsame Schutztruppe einbringen – als Pfänder der Bündnistreue.

Wie aber bringt man Trump dazu, solche Pfänder zu schicken, wo doch sein Grundimpuls der Rückzug aus teuren Engagements in Übersee zu sein scheint? – Die Antwort hat NATO-Generalsekretär Mark Rutte gegeben. Es dürfe nicht sein, sagte er, dass am Ende Kim Jong-un und Xi Jinping sich „High Five geben“. Subtext: Wenn Russland die Ukraine unterwirft, weil Amerika ausfällt, und wenn dann die NATO trudelt, macht das China noch stärker.

Weil aber Trump kein starkes China will und weil er die EU vielleicht als Verbündeten gegen Xi braucht, schlägt der frühere schwedische Diplomat Fredrik Wesslau jetzt in der Zeitschrift „Foreign Policy“ vor, genau hier anzusetzen. Europa, schreibt er, solle den Amerikanern „klarmachen, dass es an einer Zusammenarbeit in Sachen China nicht interessiert ist, wenn Trump nicht bereit ist, Europa bei der Sicherheit zu helfen“.

Europa würde dann die chinesische Karte spielen, um Amerikas Schutz zu bekommen. Mit westlichen Werten wäre das zwar schwer vereinbar, aber im Umgang mit Trump dürften Werte ohnehin keine große Rolle mehr spielen. Und die Drohung mit China wäre ja auch nur die letzte Möglichkeit. Bevor es so weit kommen müsste, hätten die Europäer auch mit positiven Angeboten die Chance, Trumps Interesse zu wecken. Sie müssten vor allem seiner berechtigten Forderung entsprechen, ihre Verteidigung selbst zu bezahlen. Dann wäre Europa nicht mehr Bürde, sondern unentbehrlicher Partner.