Gleich zu Beginn wollte Friedrich Merz am Mittwoch keinerlei Zweifel daran lassen, wo er grundsätzlich steht. Unmittelbar bevor das Parlament über die migrationspolitischen Anträge der Unionsfraktion debattierte und abstimmte, war unter der Reichstagskuppel der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz vor achtzig Jahren gedacht worden. Merz richtete sich an den AfD-Politiker Alexander Gauland. „Das ist Ihr Vogelschiss, Herr Gauland“, sagte Merz in Erinnerung an eine Bemerkung Gaulands, dass der Nationalsozialismus nur ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte sei. Merz wollte, das wurde in seiner zwanzigminütigen Rede deutlich, alles tun, um zur AfD auf Distanz zu gehen.
Nach dieser Einleitung bekräftigte der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat der Union seine Kritik an der Migrationspolitik von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Er forderte Sozialdemokraten und Grüne auf, den von der Union geforderten Schritten zuzustimmen, deren umstrittenster die Zurückweisung aller illegalen Migranten an der deutschen Grenze ist. Merz wurde gemessen an manch anderem Auftritt vor dem Bundestag nicht scharf, er blieb sachlich.
Merz: „Tun, was unabweisbar in der Sache notwendig ist“
Merz begründete, warum die Union am Mittwoch zwei Anträge einbrachte und am Freitag einen Gesetzentwurf zur Verschärfung der Migrationspolitik einbringt. „Es kann sein, dass die AfD am Freitag erstmalig die Mehrheit im Deutschen Bundestag für ein notwendiges Gesetz ermöglicht, sagte Merz. Die Bilder von „jubelnden oder feixenden“ AfD-Abgeordneten würden unerträglich sein, der Gedanke daran bereite ihm jetzt schon größtes Unbehagen.
„Aber vor die Wahl gestellt, weiter ohnmächtig zuzusehen, wie die Menschen in unserem Land bedroht, verletzt und ermordet werden, vor die Wahl gestellt, der rot-grünen Minderheit hier im Deutschen Bundestag weiterhin die Deutungs- und Entscheidungshoheit in der Asyl- und Einwanderungspolitik zu überlassen, oder aber jetzt aufrechten Ganges das zu tun, was unabweisbar in der Sache notwendig ist, vor diese Wahl gestellt, entscheide ich mich und wir uns für diesen letztgenannten Weg.“
Am Ende ging die Sache nicht so aus, wie Merz sich das offenbar vorgestellt hatte. Man sah es an den langen Gesichtern von ihm und anderen Unionsabgeordneten. Und an der vom CDU-Vorsitzenden befürchteten Freude in den Reihen der AfD. Abgeordnete kamen, um der Vorsitzenden Alice Weidel zu gratulieren. Was war passiert?
Nach der Debatte hatten die Abgeordneten über die beiden Entschließungsanträge der Unionsfraktion abgestimmt, bei denen eine Mehrheit mit Hilfe der AfD gedroht hatte. Beide fordern die Bundesregierung zum strikteren Handeln in der Migrationspolitik auf. Der erste entspricht dem Fünf-Punkte-Plan, den Merz immer wieder präsentiert hat. Vor allem geht es um eine Zurückweisung aller illegaler Migranten an der deutschen Grenze, es soll also künftig nicht mehr genügen, ein Asylgesuch vorzubringen, um ins Land zu kommen.
Als am frühen Abend das Ergebnis verkündet wurde, war es still im Saal. 703 Stimmen waren abgegeben worden, 348 Abgeordnete hatten mit Ja gestimmt, nur 345 mit Nein, zehn hatten sich enthalten. Der Antrag hatte damit eine Mehrheit.
Dass der zweite Antrag, der 27 Punkte zur Verschärfung der Migrationspolitik enthält, nur 190 Stimmen bekam, was nicht einmal der Zahl der Mitglieder der Unionsfraktion entspricht, spielte da schon keine Rolle mehr. Das Entsetzen nicht nur bei SPD und Grünen, sondern auch bei Merz war mit Händen zu greifen. Merz trat ans Mikrofon und sagte, er bedauere das Ergebnis der Abstimmung über den ersten Antrag. Fast verzweifelt forderte er SPD und Grüne auf, bis zur Abstimmung am Freitag mit ihm zusammen nach einer Lösung zu suchen. Von Sozialdemokraten und Grünen musste er sich harte Kritik anhören, die AfD jubelte. Dann wurde die Sitzung des Bundestages unterbrochen.
Schon zu Beginn der Sitzung hatte Bundeskanzler Olaf Scholz Merz die Eignung zum Staatsmann abgesprochen. Denn der Bundeskanzler „darf kein Zocker sein“, sagte Scholz in seiner Regierungserklärung. Mit dieser hatte der Schlagabtausch im Bundestag begonnen. Es sei ein unverzeihlicher Fehler, die Stimmen der AfD für die eigenen Anträge in Kauf zu nehmen. Und wer dagegen sei, dass europäisches Recht angewandt werde, spreche die Sprache der Populisten.
Scholz macht den Behörden Vorwürfe
Scholz rückte Merz in die Nähe des ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán. Sich selbst stellte Scholz in eine Reihe der deutschen Europäer, der Bundeskanzler von CDU und SPD. Konrad Adenauer, Helmut Kohl und Angela Merkel hätten es nämlich nicht gewagt, europäische Regeln so zu brechen. Der Kanzlerkandidat der Grünen, Robert Habeck, war sanfter im Ton gegenüber der Union, griff aber auf ein ähnliches Argument zurück. Der Bundeskanzler stehe nicht über dem Gesetz, rief er der Unionsbank im Bundestag zu. Man frage sich: Wenn in einer so wichtigen Frage wie der Migrationskontrolle gemeinsame Sache mit der AfD möglich sei, wo dann denn noch?
In der Sache machte Scholz abermals den Behörden in den Ländern und den Kommunen schwere Vorwürfe. Bestehende und von der Ampelkoalition verschärfte Gesetze seien nicht ausreichend befolgt worden, deswegen habe es zu den Anschlägen von Mannheim, Solingen, Magdeburg und Aschaffenburg kommen können. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hätte auch schneller entscheiden müssen, ja. Ansonsten sieht sich der Kanzler auf dem richtigen Weg.
Die CDU hält bislang zu Merz. Auch prominente Politiker aus dem Teil der Partei, der für einen liberaleren Kurs steht als Merz, gaben ihm Rückendeckung. Schon am Sonntag hatte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst das Vorgehen von Merz gutgeheißen. Am Mittwoch sagte die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien zwar, das Vorgehen des CDU-Vorsitzenden sei mit einem Risiko verbunden, sie hieß es dennoch gut. Ob es bei diesem Zusammenhalt bleibt, wird sich noch zeigen.
Wie kam es dazu, dass die Union in dieser Woche nicht nur ihre Anträge zur Verschärfung des Asylrechts in den Bundestag einbrachte, sondern auch über ihr Zustrombegrenzungsgesetz in zweiter und dritter Lesung abstimmen lassen wird? Als es auf das vergangene Wochenende zuging, wurde der Unionsführung klar, dass zum einen die Gefahr drohte, am Mittwoch Unterstützung von der AfD zu den eigenen Anträgen zu bekommen.
Zum anderen könnte die AfD das Zustrombegrenzungsgesetz, dem sie im Ausschuss Anfang November zugestimmt hatte, wieder auf die Tagesordnung bringen. Dann könnte die Union sich kaum den eigenen Vorschlägen widersetzen. Die Christdemokraten hielten es daher für besser, die Initiative zu ergreifen. Deswegen wird am Freitagvormittag über das Zustrombegrenzungsgesetz beraten.
Die AfD sieht indes im Unionsmanöver eine Chance für sich. Dies sei „vielleicht die spannendste Sitzungswoche, seit die AfD im Bundestag ist“, sagte am Dienstag der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Bernd Baumann. Zum ersten Mal sah es so aus, als könnte seine Partei der Union zu einer Mehrheit verhelfen, also ihr nicht nur lästig, sondern auch offiziell nützlich sein. Den Wählern könnte man die Unterstützung der Union als selbstlos verkaufen. Nach dem Motto: Sie spucken auf uns – doch wir bleiben sachlich.
Martin Sellner freut sich
Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel warf der Union am Mittwoch im Bundestag ein „erbärmliches Demokratieverständnis“ vor, weil sie nicht mit der AfD zusammenarbeiten wolle. Viele Deutsche forderten eine Begrenzung der illegalen Migration und die „Durchsetzung von Recht und Gesetz“ ein. So beschloss die Fraktion einen Tag vor der Abstimmung, zwei von drei Vorlagen der Union zuzustimmen: am Mittwoch dem im Fokus der Debatte stehenden Fünf-Punkte-Plan und am Freitag dem Zustrombegrenzungsgesetz.
Das aktivistische Vorfeld der Partei jubelte am Mittwoch schon vor den Abstimmungen. Der Identitäre Martin Sellner schrieb auf Telegram, AfD-Anhänger „können sich zurücklehnen und das Ganze als das betrachten, was es ist: ein Possenspiel der Brandmauer-Mafia“. Die CDU habe sich verspekuliert, die AfD bleibe in jedem möglichen Szenario Sieger.
Auf unterschiedliche Szenarien stellte sich auch die FDP ein. Mit Signalen in verschiedene Richtungen versuchte sie sicherzustellen, dass sie im Spannungsfeld zwischen Union und AfD einerseits nicht unsichtbar würde, andererseits keine Rolle spielte, die in den Augen ihrer Wähler unvorteilhaft wäre. So beschloss die Fraktion am Dienstag, dem Fünf-Punkte-Plan der Union zuzustimmen, ebenso wie dem Zustrombegrenzungsgesetz am Freitag. Den Unionsantrag zur inneren Sicherheit wollte sie ablehnen – unter anderem mit Verweis auf ihre Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung.
FDP-Chef Christian Lindner hatte am Mittwoch vor der Abstimmung gesagt, es liege im Interesse der Stabilität der Demokratie, sich an den Sorgen der Menschen zu orientieren. Andernfalls würden diese sich zunehmend zu den Rändern hinbewegen. Um die eigene Initiative bei dem Thema zu zeigen, brachte die FDP am Mittwoch auch einen eigenen Antrag zur inneren Sicherheit ein. Die erste Forderung in dem Papier, das der F.A.Z. vorliegt: die „unverzügliche Entlassung“ von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Sie müsse für das „Staatsversagen in der Sicherheits- und Migrationspolitik“ Verantwortung übernehmen, verlangt der frühere Koalitionspartner. Eine weitere Forderung lautet, Entwicklungshilfezahlungen an Rückführungsvereinbarungen mit den betroffenen Ländern zu knüpfen.
Die SPD hatte in den vorigen Tagen einen überrumpelten Eindruck gemacht. Während der Bundeskanzler nach dem Anschlag in Aschaffenburg immer lauter wurde („Ich bin es leid“), wurde seine Partei immer leiser. Die SPD steckt im Dilemma: Wäre sie mit eigenen migrationspolitischen Forderungen aufgetreten, hätte sie sich damit von der eigenen Politik der vergangen drei Jahre distanziert. Die Sozialdemokraten hatten sich in der Vergangenheit für einen zweigleisigen Weg entschieden: mehr Zuzug durch schnellere Einbürgerungen auf der einen Seite, der Versuch konsequenterer Rückführungen auf der anderen.
Was durch die sozialdemokratische Brille durchaus logisch erscheint, hemmt die Partei jetzt. Sie wirkt lavierend, unklar im Kurs. Was wird nun? Erst einmal gibt es viel Beratungsbedarf bei allen.