Natürlich war alles falsch, was Friedrich Merz getan hat. Natürlich war alles richtig. Die Leute aus der Union sind sich da nicht so sicher. Und je länger sie über ihre Lage nachdenken, umso verzwickter erscheint sie ihnen.
Bloß kein Wahlkampf über Migration, das war die Marschrichtung im Dezember. Selbst die Hardliner sahen das so. Schließlich wartet die AfD nur darauf, die Union vor sich herzutreiben. Sagt Merz etwas Strenges, lacht Alice Weidel nur abfällig und sagt etwas noch Strengeres. Außerdem gilt der alte Demoskopen-Spruch, dass die Leute im Zweifel das Original wählen, nicht die Kopie. Wer Deutschland abschotten will, braucht keine CDU, dafür gibt es die AfD. Die CDU steht für Maß und Mitte.
In den ersten Wochen des Wahlkampfs spricht Merz weniger über Migration und mehr über die Nachteile grünen Wasserstoffs, die Schuldenbremse oder das notorische Schweigen des Kanzlers bei EU-Gipfeln. Er trifft sogar eine Vereinbarung mit SPD und Grünen, am 13. November im Bundestag. Dort schlägt er vor, bis zur Wahl „nur noch solche Entscheidungen auf die Tagesordnung des Plenums zu setzen, über die wir uns zuvor mit Ihnen von der SPD und den Grünen in der Sache geeinigt haben“.
Bei keiner Abstimmung solle „auch nur ein einziges Mal eine zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit mit denen da von der AfD“ zustande kommen. „Denn das hätten diese Damen und Herren von rechts außen doch gerne, dass sie plötzlich die Mehrheiten besorgen“, sagt Merz. „Wir wollen das nicht. Ich hoffe, Sie sehen das auch so, liebe Kolleginnen und Kollegen.“ Seine Haltung ist glasklar: Die CDU wäre töricht, würde sie Anträge mit AfD-Stimmen durchbringen.
„Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche“
Elf Wochen später, am vergangenen Mittwoch, johlen die AfD-Abgeordneten im Bundestag vor Freude und können ihr Glück kaum fassen. Gerade ist der Entschließungsantrag der Union zur Migration mit ihren Stimmen durchgegangen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, tritt ans Mikrofon und ruft: „Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche. Jetzt beginnt etwas Neues. Und das führen wir an, das führen die neuen Kräfte an, das sind die Kräfte von der AfD!“
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Merz jubelt nicht. Er sitzt da als einer, der sein Wort nicht gehalten hat. Empörung bricht über ihn herein. Angela Merkel rügt ihn öffentlich, ein ungewöhnlicher Schritt für eine Altkanzlerin. „Sehenden Auges erstmalig bei einer Abstimmung im Deutschen Bundestag eine Mehrheit mit den Stimmen der AfD zu ermöglichen“, sei „falsch“, erklärt sie. Dann tritt auch noch der frühere CDU-Bundesvorstand und Generalsekretär des Zentralrats der Juden, Michel Friedman, aus der CDU aus. Merz’ „Tabubruch“ sei „unentschuldbar“, sagt er. „Die Naivität derjenigen, die bei der CDU uns erklären wollen, dass das alles ja nicht gewollt war, dass man deren Stimmen gar nicht haben wollte, ist so unterkomplex, dass man da gar nicht mehr hinhören kann.“
Von den christlichen Kirchen bekommt es Merz auch ab. Sie erwähnen die AfD gar nicht, sondern erklären, was die CDU zur Abstimmung stelle, sei „nicht geeignet, zur Lösung der anstehenden migrationspolitischen Fragen beizutragen“. Zehntausende demonstrieren in deutschen Städten gegen die CDU.
„Aschaffenburg war eine Zeitenwende“, sagt Serap Güler
In der Union sagen sie: Merz hatte keine andere Wahl. Nicht nach Magdeburg, wo ein Flüchtling mit einem Auto in einen Weihnachtsmarkt raste. Und erst recht nicht nach Aschaffenburg, wo ein Migrant ein Kleinkind erstach. Die CDU-Politikerin Serap Güler schämt sich, als sie wieder mit denselben Worten ihr Beileid ausdrücken muss. Im Januar läuft sie durch den gutbürgerlichen Kölner Stadtteil Porz und merkt, wie sich die Stimmung verändert hat.
Güler hätte gute Gründe, bei der Migration scharfe Töne zu meiden, Gastarbeiterkind, Muslimin, Arbeitnehmerflügel, Nordrhein-Westfalen, früher im Kabinett von Armin Laschet. Aber sie will es nicht meiden, ihr reicht es, und den Kölnern auch. Eine türkischstämmige Frau nimmt ihr Flugblatt entgegen und strahlt. „Frau Güler! Ich wollte Sie schon immer mal kennenlernen! Ich werde das erste Mal CDU wählen, und zwar wegen Ihrer Migrationspolitik! Ich habe Angst um meine Kinder.“
Diese Begegnung ist Güler im Gedächtnis geblieben. „Aschaffenburg war eine Zeitenwende“, sagt sie. „Man muss sich schon in einer absolut geschlossenen Blase befinden, um zu denken, das Thema Migration dürfe im Wahlkampf keine Rolle spielen.“ Armin Laschet, ihr früherer Chef, der Anti-Merz, der Merkelianer, sieht das auch so: „Nach Aschaffenburg wollte Friedrich Merz reagieren, weil die Leute die üblichen Politikerfloskeln leid sind.“
![Abgeordnete während einer Sitzungsunterbrechung am 31. Januar Abgeordnete während einer Sitzungsunterbrechung am 31. Januar](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/Hat-Friedrich-Merz-einen-grosen-Fehler-gemacht.jpg)
Wenn sie im weltoffenen Nordrhein-Westfalen schon so reden, dann im konservativen Thüringen erst recht. Dort gibt es CDU-Politikerinnen wie Martina Schweinsburg, mehr als zwanzig Jahre Landrätin in Greiz, heute Abgeordnete mit Direktmandat im tiefsten AfD-Land. Sie sagt Sätze wie: „Jeder, der sagt, dieser kriminelle Ausländer muss raus, wird sofort in die rechte Ecke gestellt!“ Oder: „Mit der Brandmauer hat sich die CDU nur selbst eingemauert!“ Sie findet alles richtig, was gerade passiert. Wenn es nach ihr ginge, würde die CDU sogar Anträgen zustimmen, die von der AfD eingebracht werden.
Als Merz seine Haltung ändert, hat sich die Stimmung schon gedreht. In Umfragen wollen nach Aschaffenburg 70 Prozent der Befragten weniger Flüchtlinge aufnehmen. Erklären, was alles nicht geht, wegen Brüssel, wegen der Rechtslage, war keine Option mehr, auch nicht für Güler vom liberalen Flügel: „Da sagen Ihnen die Leute: Wieso kandidierst du gerade, wenn du mir sagst, dass du die Gesetze nicht ändern kannst?“ Und erst recht nicht für Schweinsburg vom rechten Flügel: „Nur mit Worten wird es schwierig, man muss den Worten Taten folgen lassen!“
Der Antragstext sollte die AfD abschrecken
Taten also. Das kommt auch in der Unionsfraktion im Bundestag so an. „Es muss ja glaubwürdig sein“, sagt der innenpolitische Sprecher Alexander Throm. „Ein Pressestatement, in dem steht: Wir schauen dann nach der Bundestagswahl, was möglich ist, reicht nicht.“ Zwei Tage nach Aschaffenburg, an einem Freitag, kündigt Merz an, Entschließungsanträge zur Migration in den Bundestag einzubringen.
Ein Entschließungsantrag bedeutet: Wenn er durchgeht, wird die Bundesregierung aufgefordert, etwas zu tun, zum Beispiel Flüchtlinge an der Grenze zurückzuweisen. Ziemlich unverbindlich also. Im Antragstext steht außerdem: „Die AfD nutzt Probleme, Sorgen und Ängste, die durch die massenhafte illegale Migration entstanden sind, um Fremdenfeindlichkeit zu schüren und Verschwörungstheorien in Umlauf zu bringen.“ Das soll verhindern, dass AfD-Abgeordnete zustimmen, Knoblauch gegen Rechtsextreme.
![Merz am 31. Januar auf dem Weg in den Bundestag Merz am 31. Januar auf dem Weg in den Bundestag](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1738481922_553_Hat-Friedrich-Merz-einen-grosen-Fehler-gemacht.jpg)
Einer, der früher in der CDU viel zu sagen hatte, erzählt, Merz habe dazugelernt. Er wisse mittlerweile, dass er entschlossene Führung zeigen und Risiken eingehen müsse. Das sei etwas anderes, als bei Markus Lanz abfällig über „kleine Paschas“ oder Migranten in Zahnarztpraxen zu reden, wie er es früher manchmal machte. „Führung heißt zu sagen, das mache ich jetzt und irritiere damit auch mal die Wähler.“ Neulich, im CDU-Präsidium, sagt Merz: „Ich gehe hier all in.“ So reden Pokerspieler, wenn sie alles auf eine Karte setzen.
Am Samstagabend werden die Antragstexte öffentlich. Wenn alles gut geht, ist Merz der Fuchs, dem ein parlamentarisches Husarenstück gelungen ist: Rot-Grün vorgeführt, AfD abgewatscht, Union gestärkt, alles an einem Vormittag im Bundestag. Aber es geht nicht gut. Schon am Sonntagmittag dreht die AfD die Situation zu ihren Gunsten. Da schreibt der gesundheitspolitische Sprecher der AfD-Fraktion, Martin Sichert, auf der Plattform X: „Die AfD bringt das Zustrombegrenzungsgesetz der CDU/CSU in den Bundestag!“
Das hat in der Unionsfraktion niemand kommen sehen, die alten Hasen nicht, und auch nicht die Geschäftsführer. Das Zustrombegrenzungsgesetz ist ein alter Gesetzentwurf der Union, der schon mal auf der Tagesordnung des Bundestages stand, für den 7. November. Als am 6. November die Ampel zerbrach, zog der CDU-Abgeordnete Throm das Gesetz zurück. Über Nacht und in aller Eile. Die Begründung hatte es in sich: Die Unionsfraktion wollte verhindern, dass das Gesetz mit den Stimmen der AfD eine Mehrheit bekommt. So war damals die Haltung, vor Magdeburg und Aschaffenburg.
Merz hat sich verzockt
In der Union dachten sie, sie könnten selbst bestimmen, wann das Gesetz wieder zur Abstimmung kommt. Falsch. Der Innenausschuss hatte den Entwurf schon behandelt, es gab eine Beschlussempfehlung. Also konnte ihn jeder auf die Tagesordnung setzen, auch die AfD. „Wenn etwas 75 Jahre nicht passiert, gucken Sie nicht jeden Tag in die Geschäftsordnung“, sagt einer aus der Unionsfraktion.
Merz hat sich verzockt, jetzt muss der Schaden begrenzt werden. Soll die Union ihren eigenen Entwurf ablehnen, wenn die AfD ihn einbringen würde? Oder mit der AfD abstimmen? Der stellvertretende CDU-Vorsitzende Jens Spahn sagt: „Da ist es doch besser, wir bringen das selbst ein, statt uns vorwerfen lassen zu müssen, wir wollten über unsere eigenen Gesetzesentwürfe nicht mehr sprechen.“
Auch Thomas Jarzombek aus dem CDU-Bundesvorstand sieht das so: „Wir können doch nicht gegen das stimmen, was wir im letzten Jahr selbst eingebracht haben, weil wir es für richtig hielten.“ Ein alter Weggefährte von Merz sagt: Als die AfD im Innenausschuss für das Gesetz stimmte, habe sich niemand daran gestört. Und jetzt solle es auf einmal illegitim sein, weil es plötzlich eine Mehrheit hat? Das sei doch absurd!
Sie können in der Union also genau erklären, was passiert ist: Aschaffenburg, dann Handlungszwang, eine gute Idee, ein versäumter Blick in die Geschäftsordnung und schließlich die Schadensbegrenzung.
Nicht allen ist diese Erklärung gut genug. Merz habe eine Zuspitzung gewagt, wie Deutschland sie im Wahlkampf lange nicht erlebt habe, sagt einer aus dem inneren Machtzirkel der CDU. Die sei notwendig gewesen, aber bei wem sie am Ende einzahle, sei offen. Es wäre wohl besser gewesen, gar nichts in den Bundestag einzubringen, sagen manche in der Unionsfraktion. Dann hätte es keine Brandmauer-Debatte gegeben, und dem Publikum wäre nicht vorgeführt worden, dass die Union ihre Wünsche nur mit der AfD durchsetzen kann.
Andere sprechen vorsichtig von einem Dilemma: Entweder die CDU billige der „Minderheit von SPD und Grünen“ eine „Blockademehrheit“ zu, die es in der Gesellschaft längst nicht mehr gebe. Dann akzeptiere sie den „Stillstand“ und mache die AfD stärker. Oder die CDU tue, was sie für richtig halte, und nehme in Kauf, dass die AfD zustimmt. „Das ist riskant, aber davon lebt Politik“, sagt einer. Wer dieses Risiko scheut, müsste in Zukunft alles von der Tagesordnung nehmen, bei dem die AfD mit Zustimmung droht. Das sei keine Option, findet Laschet: „Das geht an die Grundsubstanz des Parlamentarismus.“
Armin Schuster, der CDU-Innenminister von Sachsen, bittet, sich einmal vorzustellen, was passiert wäre, wenn Merz nach Aschaffenburg nichts getan hätte. „Wer hätte die Lage jetzt eine Woche lang dominiert? Die AfD.“ Throm, der oberste Innenpolitiker der Unionsfraktion, sagt: „Nervös wird gerade niemand.“ Er hat das Zustrombegrenzungsgesetz geschrieben. Es war eine Reaktion auf den Messerangriff von Solingen und sollte nur Maßnahmen enthalten, die schon erprobt waren.
![Die AfD-Vorsitzenden Chrupalla und Weidel im Bundestag, der CDU-Vorsitzende Merz läuft vorbei Die AfD-Vorsitzenden Chrupalla und Weidel im Bundestag, der CDU-Vorsitzende Merz läuft vorbei](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1738481922_497_Hat-Friedrich-Merz-einen-grosen-Fehler-gemacht.jpg)
Zum Beispiel die Aussetzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz, wie sie Union und SPD in den Jahren 2016 bis 2018 beschlossen hatten und wie es die Ministerpräsidentenkonferenz im Oktober 2024 vorschlug. Oder Polizeibefugnisse, die schon einmal in einem Gesetz standen, das im Bundesrat scheiterte. Nichts Anrüchiges also.
Soll man alles ablehnen, zu dem die AfD zustimmt?
Schweinsburg, die Abgeordnete aus Greiz, versteht das Problem nicht: „Ein Antrag wird nicht dadurch schlecht, dass er von den Falschen unterstützt wird.“ Im Kreistag habe sie oft gesagt: „Vorsicht, wir dürfen unseren Haushalt nicht beschließen! AfD droht mit Zustimmung!“ Und dann wurde gelacht. Weil es absurd war, alles abzulehnen, dem die AfD zustimmt. Dann hätte die AfD alles blockieren können.
Andere sagen, nicht die Zustimmung der AfD sei das Problem, sondern die Verweigerung der SPD. „Nichts an den fünf Punkten ist unzumutbar“, sagt der Abgeordnete Jarzombek. In Skandinavien schafften die Sozialdemokraten es doch auch, eine härtere Haltung in der Migrationspolitik einzunehmen. Deshalb versteht Jarzombek nicht, warum die SPD sich so sperrt.
![Feixende AfD-Abgeordnete während einer Rede von Friedrich Merz Feixende AfD-Abgeordnete während einer Rede von Friedrich Merz](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1738481922_249_Hat-Friedrich-Merz-einen-grosen-Fehler-gemacht.jpg)
Ein einflussreicher CDU-Mann sagt, er glaube nicht, dass die Empörung über Merz lange anhalten werde. Der müsse jetzt drei, vier Wochen standhaft bleiben und beweisen, dass er entschlossen Kurs halte. Das sei jetzt das „Momentum“, mit dem er gewinnen könne. Auch ein anderer Merz-Vertrauter hält das Risiko für überschaubar. Wird Merz von den Wählern abgestraft, kann er trotzdem Kanzler werden. Geht seine Rechnung hingegen auf und die Wähler belohnen ihn, hätte er mehr Durchsetzungskraft, könnte das Migrationsproblem lösen und die AfD kleiner machen.
Aber, aber. Manche in der Union werden ihr mulmiges Gefühl nicht los. Hat Merz der SPD und den Grünen geholfen? War das sein Laschet-Moment, ein Patzer mit großen Folgen? Schweinsburg zum Beispiel findet alles richtig, was Merz tut, aber sie glaubt nicht, dass nun alle zur CDU strömen. „Die Leute sind sehr, sehr skeptisch geworden. Wenige Wochen vor der Wahl versprechen die Parteien vieles. Herr Merz hat auch schon gesagt, dass Habeck ein guter Wirtschaftsminister wäre.“
Oder Kai-Uwe Hemmerich, Gewerkschafter und CDU-Landesvorstand aus Hessen. Er unterstützt Merz, sagt: „Jetzt ziehen wir das durch.“ Aber ihm fällt auf, dass niemand mehr über Industriepolitik, Arbeitsplätze und Strompreise spricht, sondern nur noch über Migration. Die CDU könnte also Kirchentreue und Merkeltreue verlieren und auf der anderen Seite nichts gewinnen.
Es ist ein Test. Die endgültige Antwort auf die Frage, was bei der Bundestagswahl besser abschneidet, die Merz-CDU oder die Merkel-CDU. Minister Schuster aus Sachsen sagt: „Dieses Angebot einer Kurskorrektur steht jetzt im Schaufenster. Eine klare politische Haltung. Jetzt bin ich wahnsinnig gespannt darauf, wie die Leute abstimmen.“