Neues Chamäleon und andere Entdeckungen

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Tagesausflug: Furcifer pardalis auf tief hängendem AstFoto: Joachim Müller-Jung




Schlafende Tiere im Wald sind ein gefundenes Fressen für Biologen. Manche zwinkern immerhin kurz vom Ast herunter, sobald das grelle Licht der LED-Stirnlampe sie anstrahlt. Manchmal passiert es auch, dass das schlummernde Etwas seinen Kopf wegdreht, reichlich unbekümmert, so als wollte es dem Lichtgewitter aus Blitzen und Lampen die kalte Schulter zeigen. Aber niemals reagieren die Tiere panisch. Keines nimmt hektisch Reißaus oder fällt vom Ast. Die Dunkelheit, die sie bis zum Moment des Entdecktwerdens umhüllt, gibt ihnen Sicherheit. Bis dann eben einer zugreift von den Biologen und das Tier pflückt wie eine reife, süße Frucht: mit einem sanften Griff, aber ohne einen Augenblick zu zögern. An diesem Abend ist es Timon, der zwanzigjährige Sohn von Expeditionsleiter Frank Glaw, Biologie-Student in Wien, der eine besondere Entdeckung macht: „Ja!“, ruft er zwei- oder dreimal, seinen Kopf im Nacken, der scharfe Lichtkegel reicht bis unters Kronendach. Nichts! Blätter, Äste, sonst nichts. Kein anderer von uns, nur Timon mit seinen messerscharfen Augen sieht auf sieben Metern Höhe, was er im nächsten Augenblick schon wissenschaftlich im Kopf sortiert: „Was Neues, bestimmt, mindestens eine Unterart.“




Es ist ein schlafendes grünes Chamäleon, das quer auf einem der Äste ruht. Noch bevor auch Frank die Konturen des Tieres entdeckt hat, scannt Timon den Waldboden ab. Er braucht einen dicken Ast, einen meterlangen Stab zum Reptilienpflücken. Auch Joris Fleck hilft mit, der enthusiastische Masterstudent mit Zopf aus Ostdeutschland, der bei Frank an der Zoologischen Staatssammlung München in Obermenzing an Zwergfröschen und Schlangen forscht. Bei so viel Entdeckertalent staunen auch die einheimischen Guides. Ohne mit der Wimper zu zucken wären sie hochgeklettert, um das Tier zu schnappen. Doch Timon war schneller, das Reptil fällt weich ins Laub.








Kurz darauf sind fünf Lichter auf das stattliche Chamäleon-Männchen gerichtet, ein grandioser Fang schon innerhalb der ersten Stunden und nur ein paar Meter vom neuen Camp entfernt. Stunden wird das noch so weitergehen mit der Suche, glücklicherweise tröpfelt es nur, den muffigen Duft von verrottendem Laub nimmt keiner wahr. Denn es gibt unfassbar viel auf kleinem Raum zu sehen: Frösche, Zwergchamäleons, Schlangen, Geckos, Stabschrecken, auch schlafende Spinnen, eine Maki-Familie, die an ihren spiegelnden Augen hoch oben in der Baumhöhle schon von Weitem zu erkennen ist. Nur die wuselnden Krabben am Boden gerieren sich hier als Unruhestifter. Wir sind im Bobangira-Park, einem ursprünglichen Waldgebiet, sandreich und fast trocken für den Nordosten Madagaskars.




Der Wald endet an einem kilometerlangen Traumstrand zum Indischen Ozean. Jeder andere würde hier Urlaub machen wollen, und vielleicht würde jeder andere chinesische Unternehmer, der dieses Dutzende Hektar große Stück Urnatur wenige Stunden entfernt von der Touristenstadt Sambava besitzt, genau auch das hier aufziehen: ein Touristenparadies. Aber „Monsieur Bruno“, wie der Besitzer aus Sambava sich nennen lässt, will dieses Stück Natur, das von Vanilleplantagen umgeben ist, nicht massentouristisch verschandeln. Es soll ein privates Schutzgebiet werden. Bruno setzt offenkundig auf sanften Ökotourismus, das Zeltlager am Rand des Parks ist klein, vielleicht spekuliert er auch auf öffentliche Fördermittel, ein heißes Thema inzwischen in artenreichen Hotspots rund um die Welt. Und deshalb kommen die drei deutschen Biologen wie gerufen, die das Areal zoologisch inventarisieren helfen und am Ende auch eine Artenliste hinterlassen werden – zusammen mit den Guides und den madagassischen Biologen Angelinah Rene de Roland von der Vogelschutzorganisation Peregrine Fund und James Rafanoharana von der Wildlife Conservation Society. Jede neue Tierart, die das Biologenteam entdeckt, bringt das verlassene Stück privaten Urwalds dem Etikett Naturparadies ein Stück näher.




Aus dem Bobangira-Park: Langaha, die über ein Meter lange Blattnasennatter.

Sahafary-Fund: Die tagaktive Natter, Tamnosophis lateralis, ernährt sich von Fröschen.




Fotos: div






Und mit Frank Glaw hat der Unternehmer nun quasi einen Meister der Madagaskar-Fauna in seinem Wald. Ein Forschungsreisender mit einem energischen Entdeckergeist viktorianischen Zuschnitts, eine Art moderner Alexander von Humboldt: grenzenlos enthusiastisch, ehrgeizig und akribisch – nur eben einer, der aus seinen Feldstudien nicht gleich ein Universalwissen wie Humboldt abzuleiten weiß. Frank und ich kennen uns seit mehr als dreißig Jahren aus der Universität Köln. Seine zweite von inzwischen rund dreißig Madagaskar-Expeditionen hatten wir zusammen im Auftrag des Bonner Alexander-Koenig-Museums unternommen, beide sammelten wir für die Diplomarbeit Tiere und Daten. Was damals keiner ahnte: Anfang der Neunzigerjahre begann für die Forschung auf Madagaskar eine neue Zeitrechnung. Die Erforschung der Artenvielfalt erlebte ein beispielloses Hoch. Nicht, weil die Insel, die für ihren Reichtum an biologischen Besonderheiten weltberühmt, ja nahezu einmalig ist, von aufstrebenden Naturforschern belagert oder mit Forschungsmitteln überschüttet worden wäre. Tatsächlich waren es nur einige wenige Feldbiologen und Taxonomen wie Frank, die nichts wollten als: Neues entdecken, entdecken, entdecken. Sein kongenialer Partner Miguel Vences, der ebenfalls seit Anfang der Neunzigerjahre mit Frank durch Madagaskar zog, baute parallel an der Universität Braunschweig eines der weltweit wichtigsten Labors für die Gensequenzierung von Amphibien und Reptilien auf und brachte damit die Systematik dieser Tiere auf ein neues Level.








Zusammen haben die beiden Deutschen die Erfassung der Reptilien- und Amphibienvielfalt im Biodiversitätshotspot Madagaskar revolutioniert. Auf seiner allerersten Forschungsreise 1987 machte Frank seine erste Neuentdeckung, ein Baumfrosch – ohne es zu wissen allerdings, Boophis calcaratus erhielt erst 23 Jahre später seinen wissenschaftlichen Namen. Frank fotografierte das Tier, ließ es aber wieder laufen. „Ich wollte damals doch keine Tiere umbringen und mitnehmen.“ Später, als Taxonom, erkannte er, dass verantwortliches Sammeln unverzichtbar ist, um herauszufinden, welche Arten wo leben und wie sie sich unterscheiden. Das wiederum ist eine entscheidende Voraussetzung für den effizienten Schutz der biologisch wertvollsten Gebiete (siehe Interview unten).




Geduldig bleiben ist dabei alles. Denn zwischen Entdecken und sicher Wissen liegen in der Taxonomie oft Jahre, immer wieder müssen Tiere beprobt und verglichen werden. Manchmal bleibt eine Art ein Forscherleben lang ein Rätsel. Ganze 131 madagassische Froscharten waren in Franks ersten Expeditionsjahren bekannt. Zusammen mit Miguel Vences und anderen Forschern aus Madagaskar und aller Welt hat er diese Zahl verdreifacht, es sind heute 433 Arten. Insgesamt fast 340 Frosch- und Reptilienarten hat der gebürtige Rheinländer, heute 58 Jahre alt, in der wissenschaftlichen Literatur schon beschrieben, dazu auch noch zwei riesige, bunte Stabschrecken. Eine Blütezeit an Entdeckungen und Neubeschreibungen begann also in den Neunzigern. Nur, wer wusste davon? Oder etwas pathetischer gefragt: Wer hat etwas davon? Es ist das Los einer Forschergilde, die die meiste Zeit im Verborgenen arbeitet und ihre Fortschritte in kleinen Schritten erreicht, dass der Mehrwert oft verzögert sichtbar wird. Während also zu jener Zeit, in der die Entdeckerhochphase begann, die Welt über die Entschlüsselung des Erbguts und übers Klonen debattierte, während die Hoffnung auf biomedizinische Durchbrüche so schnell wuchs wie auch der Wunsch der Menschen nach Selbstoptimierung, stapften Frank und einige wenige Dutzend Feldforscher nach alter Väter Manier wochenlang und oft völlig erschöpft durch den zusehends bedrohten Dschungel. Sein Ziel damals war klar: Die grüne Schatzkammer sichten, solange die Regenwälder noch stehen. Und dem Naturschutz auf die Beine helfen. Wie es aussieht, beginnen sich die Mühen allmählich zu lohnen.






Zwei Frösche aus der Gattung Boophis. Obwohl sie verschieden gefärbt sind, gehören sie wahrscheinlich zur selben, noch unbekannten Art.


Fotos: Frank Glaw, ZSM






Natürlich gibt es auch heute noch Brandrodung und Zerstörung aus der Not. Madagaskar gehört noch immer zu den ärmsten Ländern der Welt. Die Geburtenrate hat in den dreißig Jahren zwar abgenommen, heute sind es drei bis vier statt fünf bis sechs Kinder pro Familie. Aber der Bedarf an Brennholz ist bei dem weitgehend von Subsistenzwirtschaft lebenden Inselvolk immer noch gewaltig. Und obwohl die meisten Madagassen weiter am Existenzminimum kratzen, geht die Zuversicht offenbar nie verloren. Armut, Klimakrise, Artenschwund? Sie sind überall und nirgends. Selbst die klimabedingte Hungerkatastrophe im völlig ausgetrockneten Süden der Insel, die vergangenes Jahr Tausende Tote forderte und mehr als eine Million Menschen in die Verzweiflung zu treiben drohte, erträgt man mit einem Lächeln. Die Madagassen leben seit eh und je in und von ihrer Natur, aber ihren Wert lernen sie erst allmählich kennen. Die Aufklärungsarbeit von Biologen sowie einer inzwischen naturschutzfreundlicheren Bürokratie und Regierung zahlt sich aus.




Schöner Fang: Das Pantherchamäleon-Männchen ist groß und farbenprächtig.Foto: div




Der Farbwechsel der großen Chamäleons wurde beim Pantherchamäleon intensiv erforscht.




Foto: div






Wir fahren einen Fluss hinauf, Dutzende Kilometer südlich der Vanille-Hochburg Antalaha. Die unbefestigte Straße bis zur Anlegestelle, wo das Boot, eine kleinmotorisierte Piroge, das Expeditionsteam und das schwere Gepäck aufnahm, war immer schmaler geworden, die tiefen Fahrspuren auch für den Geländewagen eine Herausforderung. Sahafary ist der Zielort. Es geht flussaufwärts, stundenlang. Als wir ankommen, gibt es vor allem eins: freundliche Gesichter, nicht nur von den Kindern, und Neugier. Wie sagte doch Timon zu dem Bild, das die Frösche suchenden Ausländer bei den Einheimischen abgeben: „Manchmal denken sie wahrscheinlich, wir sind verkappte Goldgräber, weil sie sich gar nicht vorstellen können, warum man nach Fröschen und Reptilien suchen sollte.“ Tatsächlich zieht es in Madagaskar mittlerweile auch immer mehr echte Goldgräber in die Wälder und vor allem an die Flüsse. Allerdings hat ihre Suche nach dem Glück wenig mit den Motiven zu tun, die Franks Expeditionsgruppe in den tiefen Wald lockt.





„Manchmal denken sie wahrscheinlich, wir sind verkappte Goldgräber, weil sie sich gar nicht vorstellen können, warum man nach Fröschen und Reptilien suchen sollte.“

TIMON



Wir wurden in Sahafary erwartet, bekommen eine Hütte zugewiesen, ohne fließend Wasser wie überall hier, und doch wahrscheinlich eine der am komfortabelsten ausgestatteten Herbergen im Ort. Es gibt Strom, etwas Besonderes in Dörfern wie diesem. Ein großzügiger Franzose, so wird uns erzählt, hat in einem nahe gelegenen Bach ein kleines Wasserkraftwerk gebaut und ein Stromnetz mit tief hängenden Kabeln durchs Dorf eingerichtet. Für 1000 Ariary im Monat, ein paar Cent, kann damit jeder eine Glühbirne betreiben – oder die Steckdose zum Aufladen von Handys. Gut für uns, die vollgeladenen schweren Powerbanks werden im Wald dringend gebraucht.








Mit David Son, unserem lokalen Guide, gehen wir zwei Tage lang auf Krokodilsafari. Eigentlich sollte es in dieser Gegend keine Krokodile mehr geben, hat Frank vor der Reise erfahren. So eine blanke Behauptung wirkt auf ihn wie der Funken auf dem Zunder, der das Feuer entfacht. Während wir abends in den Wald gehen und nach neuen Arten suchen, schippert uns David tagsüber bei brütender Hitze im Einbaum durch den schmalen Seitenarm des Flusses. Er habe von Dorfbewohnern gehört, dass die Krokodile hier manchmal auch noch gejagt würden, sagt Son. Bei einem der Reptilien kommen wir bis auf fünfzig Meter heran, dann gleitet es in die trübe Brühe. Kein Foto, aber immerhin die Gewissheit, dass die Tiere hier noch leben. Am Ende kaufen wir den Einheimischen für kleines Geld einen vergammelten Krokodilkiefer mit losen Zähnen und Geweberesten ab. Kein grandioser Erfolg, aber immerhin ein Belegstück, das man sequenzieren kann. Ein wichtiges Puzzleteil. Insgesamt sieben Wochen lang dauert die Expedition, die Frank und sein junges Team vorher von Maroantsetra aus ins „Makira Reserve“ und durch den berühmten Masoala-Nationalpark führt. Wissenschaftlich ist sie wieder ein beachtlicher Erfolg. Wenn alles gut geht und die Auswertungen den Anfangsverdacht aus dem Feld durch morphologische Untersuchungen und Genanalysen erhärten, könnten sich unter den gesammelten Tieren wieder einige neu zu beschreibende Arten finden. Auch Wiederentdeckungen von bedrohten Arten sind heute wichtig. Die Naturschutzorganisation „Re:wild“ hat vor einiger Zeit Biologen und Naturfreunde weltweit aufgerufen, verschollene Tierarten wiederzufinden. Dabei geht es auch um die Gefährdungsbewertungen in der Roten Liste, die von der internationalen Naturschutzorganisation IUCN geführt werden. Angelinah, Franks madagassische Expeditionsbegleiterin, ist im Auftrag von Re:wild mit unterwegs. Der Haken an der taxonomischen Suchaktion: Als verschollen gelten nach Re:wild schon Arten, die mindestens zehn Jahre lang nicht gesichtet wurden. „Das ist eigentlich zu kurz, in entlegene Gebiete kommen Forscher meist in viel größeren Abständen wieder hin“, sagt Frank. Das herrliche Calumma vatosoa, ein Chamäleon, das die Biologen diesmal im Masoala-Nationalpark wiedergefunden haben, ist so ein Fall: Wiedergefunden nach einem Einzelfund von 1997 durch den italienischen Forscher Franco Andreone. Nun ist klar: das Chamäleon ist dort keineswegs so selten. Auch ein Jungtier von Zonosaurus boettgeri, einer langschwänzigen Gürtelechse, hat Franks Team unterwegs entdeckt.


Häufig zu sehen: Stummelschwanz-Chamäleon, Brookesia stumpffi.





Dieses Chamäleon gehört zum Calumma-nasutum-Komplex, aus dem zuletzt sehr viele Arten entdeckt wurden.

Schlafendes Weibchen aus dem Calumma-nasutum-Komplex




Fotos: div






Vor dreißig Jahren hatte ich mit Frank wochenlang erfolglos nach dem seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts verschollenen Tier auf der Insel Nosy Be vor Nordwestmadagaskar gesucht. Re:wild könne Anreize zum Suchen setzen, Forscher auch motivieren, meint Frank: „Aber es besteht die Gefahr, dass man den Fokus auf wirklich lange verschollene Arten verliert, bei denen es viel wahrscheinlicher ist, dass sie dem Aussterben nahe sind.“ Wiederfunde können niedrig hängende Früchte sein. Doch Frank, Timon und Joris lassen immer wieder durchblicken, wie wichtig ihnen wirklich spektakuläre Neufunde sind. Dafür müssen sie einiges in Kauf nehmen. Auch diesmal wieder, auf seiner, wie Frank vor der Abreise versicherte, „letzten schweren Expedition“: schlaflose Nächte in schwitzenden Klamotten und durchnässten Zelten, auch persönliche Rückschläge. Frank hat es zweimal erwischt. Zuerst gab es eine schmerzende Beule am Kopf nach einem Sturz in einen Bach. Und auf dem regennassen Weg von Ampokafo aus durch Masoala, der eigentlich eine Nationalstraße sein soll, kommt es zu einem schwereren Unfall. Frank stürzt vom Beifahrersitz seines Motorrads. Mit sieben Bikes sollten die Forscher und das Gepäck nach Antalaha an die Küste gebracht werden – zum Ausruhen und Chillen, wenigstens für einen Tag. Stattdessen geht es mit Wunden und einer verbrannten Wade zu Fuß weiter durch den Wald. Fast jeder würde bei solchen körperlichen Kollateralschäden an Abbruch denken. Oder ans Aufhören. Die drei Entdecker aus Deutschland verbuchen das jedoch, nachdem Frank seine Wunden versorgt hat, wie immer: Das Unbekannte lockt, das Abenteuer auch. Auf zur nächsten Expeditionsetappe.






Steven Goodman

„Beim Business sind wir raus“

Von JOACHIM MÜLLER-JUNG und TIMON GLAW



Wie rettet man einmalige Natur, wenn die Armut alles bremst? Deer US-Naturforscher Steven Goodman hat für Madagaskar eigene Ideen entwickelt und Projekte angeschoben.








Welche Rolle kann dann der Naturreichtum auf Madagaskar künftig spielen?

Das Problem ist, dass Naturschutz in Madagaskar extrem schwer umzusetzen ist. Wenn man sich im Kongo- oder Amazonasbecken fünfzig Kilometer nach Ost oder West bewegt, ändert sich nicht viel. Dort kann man riesige Flächen unter Schutz stellen. Auf Madagaskar ändert sich die Artenzusammensetzung innerhalb einer Strecke von fünfzig Kilometern massiv. Die Heterogenität der Wälder, auch klimatisch, schafft enorm komplexe Systeme, die viel schwerer zu schützen sind. Ein Gebiet von 150 Hektar kann eine einmalige Flora und Fauna enthalten, und diese Daten benötigen wir. Dort sollte der Schwerpunkt des Naturschutzes liegen.

Gibt es nicht auch schon Fortschritte, wie bei Ihnen nachzulesen ist?

Wir haben es tatsächlich inzwischen geschafft, Arten-Archive zu erstellen, viele neue und seltene Arten zu finden. Diese Archive sind kritisch für unsere Zukunft.

Wie viele Schutzgebiete wurden eingerichtet?

Inzwischen sind es 122 Reservate. Vor vierzig Jahren waren wir bei nicht einmal zwanzig. Das Hochland im Zentrum der Insel ist weitgehend zerstört. Es gibt zwar Klimaschutzprogramme, um Wälder wieder aufzuforsten, aber bis jetzt ist nicht viel passiert. Wir machen auch Projekte zur Langzeitüberwachung von Regenwaldarealen, und es gibt faszinierende Ansätze für die Renaturierung auf gerodeten Waldflächen.

Können Wiederaufforstungen die ursprüngliche Natur gleichwertig ersetzen?

Unser Ziel ist es, die Wälder zu rekonstruieren, nicht einfach Bäume zu pflanzen. Wir schaffen derzeit an einigen Orten 35 bis 50 Hektar große Waldareale mit 51 unterschiedlichen Baumarten. Sie werden jeweils standorttypisch und systematisch in der natürlichen Vegetationsfolge angepflanzt. Das funktioniert.

Geht es auch langfristig gut? Der Bevölkerungsdruck auf die Natur ist immer noch sehr hoch.

Was wir benötigen, ist eine „grünere“ Einstellung. In Madagaskar gibt es in keiner Buchhandlung Bücher oder Feldführer, die die Menschen motivieren, in die Natur zu gehen. Seit einigen Jahren geben wir deshalb Bücher für Laien in französischer Sprache heraus, die ihnen die Natur gerade in den Schutzgebieten näherbringen. Auch Ökotouristen können einen Boost erzeugen: Es gibt Beispiele dafür, wie dadurch die Dorfgemeinschaften lernen, dass sich der Naturschutz für sie lohnt. In einzelnen Projekten beschäftigen wir vier- bis fünfhundert Einheimische.

Das passt in das Bild der internationalen Biodiversitätspolitik, Natur- und Artenschutz wird immer öfter als ein vielversprechendes Geschäftsmodell verkauft. Ist es das?

Ganz offen, wir sind Biologen – wenn es ums Business geht, sind wir raus. Aber es stimmt, offenbar sehen viele ihre Chance auch im Ökotourismus, weil Menschen, die sich für die Natur interessieren, diese ungewöhnliche biologische Vielfalt sehen und erleben wollen, solange sie noch da ist.

Angesichts der weltweiten Finanzierungslücken im Naturschutz werden auch Marktinstrumente wie Artenvielfalts-Zertifikate, „Biodiversity Credits“, immer öfter als innovativ angepriesen. Wer solche Credits kauft, gibt Geld an Projekte, die die Artenvielfalt auf der Erde bewahren oder wiederherstellen. Was halten Sie davon?

Madagaskar muss zuerst sein aussichtsloses Wirtschaftssystem hinter sich lassen, bevor solche Zertifikate florieren können. Ihre Erträge nützen ohnehin nicht der madagassischen Bevölkerung, sondern landen auf den Schweizer Konten der entsprechenden Fonds. Da ist noch vieles zu klären.