Der EU-Austritt ihres Landes vor fünf Jahren hat die Briten in vieler Hinsicht enttäuscht. Auch die einst glühendsten Brexit-Befürworter sind unzufrieden. Gleichzeitig aber kann man nicht sagen, dass es eine breite Bewegung für einen Wiederbeitritt gebe. Der seit Juli in der Downing Street regierende Labour-Premierminister Keir Starmer hat gesagt, Britannien werde „zu meinen Lebenszeiten nicht wieder beitreten“.
Der Brexit hat zu zahlreichen Paradoxien und Widersprüchen geführt. Während die Brexiteers versprachen, die britische Wirtschaft von (EU-)Bürokratie zu befreien, ist im Ergebnis neue Bürokratie hinzugekommen, nämlich die Zollbürokratie an den Grenzen. Der EU-Markt, in den mehr als fünfzig Prozent der Exporte gehen, ist nun schwerer zu erreichen. Viele kleinere Händler haben aufgegeben. Das Versprechen neuer Freihandelsabkommen mit dem Rest der Welt, das ein „Global Britain“ aufblühen lassen sollte, hat sich als hohl erwiesen. Abkommen mit fernen Ländern wie Japan haben allenfalls kleine positive Effekte. Und die Hoffnung auf einen baldigen Freihandelsvertrag mit den USA kann London angesichts von Trumps Zoll-Gelüsten wohl vergessen.
Paradox ist auch, dass die versprochene Deregulierung, das „Freudenfeuer von EU-Vorschriften“, das die Brexiteers erträumten, nie zustande kam. Die Regierung Johnson hatte zwar versucht, Tausende Regulierungen aus EU-Zeiten auslaufen zu lassen. Doch dann schreckte sie davor zurück, zu groß wäre die Rechtsunsicherheit gewesen. Regulatorische Abkehr von der EU bedeutet eben auch zunehmende Schwierigkeiten mit dem Zugang zum EU-Binnenmarkt. Die Regierung Starmer steht daher nun vor der Frage, wie sehr sie sich der EU annähern und deren Regulierung folgen soll.
EU fordert Zugeständnisse von Großbritannien
Fünf Jahre nach dem EU-Austritt wirken der Premierminister und die Labour-Regierung keineswegs selbstsicher, was die künftigen Beziehungen angeht. Starmer spricht von einem „Reset“, einem Neustart der Beziehungen – auch ein Thema des Treffens mit Bundeskanzler Olaf Scholz letzten Sonntag auf dem Landsitz Chequers bei London. Die EU fordert von Großbritannien etwa Zugeständnisse zum Thema „Jugendmobilität“. Mehr Arbeitsvisa für junge EU-Bürger wären sicher wünschenswert. Doch Starmer hat klargemacht, dass es bei aller Annäherung an die EU „rote Linien“ gibt: keine Rückkehr in den EU-Binnenmarkt oder die Zollunion und keine Freizügigkeit.
Er wirkt insgesamt defensiv. Eine Debatte, dass er das Land „durch die Hintertür“ wieder zurück in die EU führe, will er vermeiden, denn das würde den alten Brexiteers wieder Auftrieb geben. Zu den Paradoxien des Brexits zählt auch, dass der populistische Ober-Brexiteer Nigel Farage heute politisch wieder ganz obenauf ist. Seine neue Partei Reform UK erlebt in Umfragen einen phänomenalen Höhenflug und liegt mit fast 25 Prozent annähernd gleichauf mit Labour und den Konservativen, die noch immer die Wunden ihrer Wahlniederlage vom Juli lecken. Der Medienprofi und Menschenfischer Farage entfaltet gewaltige öffentliche Wirkung.
Dass der Brexit-Vorkämpfer nicht in der Versenkung verschwunden ist, liegt auch an einer weiteren Brexit-Paradoxie: Zum Referendum im Jahr 2016 warben die Befürworter mit dem Versprechen „Take back control“. Die Wähler glaubten, dass Großbritannien sein Schicksal und seine Grenzen wieder kontrollieren und damit die Einwanderung reduzieren könne. Das Gegenteil ist geschehen. Die Zuwanderung hat nach dem Brexit Rekordhöhen erreicht. Das lag zum Teil an einem liberalen Punktesystem für Arbeitsmigranten und an sehr lockeren Visaregeln für Studenten und Familiennachzug. Der Netto-Zuwanderungssaldo erreichte zuletzt eine Dreiviertelmillion. Es kommen allerdings weniger (Ost-)Europäer, dafür viel mehr Asiaten oder Afrikaner.
Das Statistikamt ONS veröffentlichte vor Kurzem eine neue Prognose, wonach die Bevölkerung aufgrund der hohen Nettozuwanderung in sieben Jahren, bis 2032, um fünf Millionen auf 72,5 Millionen Menschen wachsen soll. Man muss kein Rechtspopulist sein, um in einem solchen Immigrationsdruck Probleme zu sehen. Schon jetzt herrscht besonders im Großraum London Wohnungsknappheit, sind Mieten kaum noch zu bezahlen, ist das Gesundheitswesen NHS hoffnungslos überlastet. Labour hat 1,5 Millionen Wohnungen versprochen – das wäre viel zu wenig bei solcher Zuwanderung. Wenn es Starmer nicht gelingt, diese Probleme zu lösen, dürfte Farage bei der nächsten Wahl reiche politische Ernte einfahren.