129 Tage hat es nach der Nationalratswahl gedauert, bis sich die beiden stimmenstärksten österreichischen Parteien widerstrebend darauf einigen konnten, abermals eine Koalition zu bilden. Das war im Jahr 1962. Damals brachten Christdemokraten (ÖVP) und Sozialdemokraten (SPÖ) zusammen noch Zweidrittelmehrheiten auf. Der mehr als 60 Jahre alte Rekord für die längstdauernde Regierungsbildung wird am kommenden Mittwoch übertroffen werden. Diesmal ist es die rechte FPÖ, die als stärkste Kraft mit dem Zweiten, der ÖVP, verhandelt. Die Wortmeldungen aus beiden Lagern klingen dissonant und misstrauischer denn je. Und selbst wenn es den Parteivorsitzenden Herbert Kickl (FPÖ) und Christian Stocker (ÖVP) gelingen sollte, die zahlreichen immer noch eng gezogenen Knoten zu durchschlagen, würde es bis mindestens kommende Woche dauern, bis die neue Regierung reif zur „Angelobung“ durch Bundespräsident Alexander Van der Bellen wäre.
An diesem Dienstag wollen sich Kickl und Stocker zusammensetzen, um über die Themen zu sprechen, über die in den fachlichen Verhandlungsgruppen noch keine Einigung erzielt werden konnte. Welche es sind, darüber ist das Publikum recht gut informiert. Schon das lässt ahnen, wie groß die Differenzen sind. „Gekocht wird in der Küche, und wenn es fertig ist, wird es serviert“, so zitiert die Zeitung „Der Standard“ einen „blauen“ Unterhändler von der FPÖ. „Zuvor etwas an die Medien zu tragen, macht verdammt viel Vertrauen kaputt.“
Allerdings sind es beide Seiten, die Positionen durchsickern lassen. Ein Beispiel ist die sogenannte Bankenabgabe. Seit Mitte Januar ist bekannt, dass die FPÖ einen Beitrag der Finanzinstitute zur Sanierung des maroden Budgets fordert. Das Thema ist brisant, weil es angeblich die Bruchstelle war, an der schon die Koalitionsverhandlungen zwischen ÖVP und SPÖ zu Jahresbeginn gescheitert waren. Bis dahin hatten die Christdemokraten mit Sozialdemokraten und Liberalen (Neos) über die Bildung einer „Zuckerl-Koalition“ zu dritt verhandelt. Zuerst waren die Neos ausgestiegen, mit der Begründung, dass mit der SPÖ unter ihrem linken Vorsitzenden Andreas Babler auf keinen grünen Zweig zu kommen sei. Dann stand auch die ÖVP vom Verhandlungstisch auf. Erst dann wurde öffentlich über Inhalte gestritten: Babler warf der ÖVP vor, sie habe sich mit Rücksicht auf die Banken-Lobby dagegen gesperrt, die Lasten auch auf diese Schultern zu verteilen.
Auch die Finanzierung des ORF ist ein Streitthema
Als die ÖVP sich daraufhin zu Verhandlungen mit der FPÖ bereit erklärte, war der öffentliche Hohn groß. Schließlich hatte die Partei Kickl bis dahin als gefährlichen Menschen und Sicherheitsrisiko für Österreich dargestellt und eine Koalition mit ihm ausgeschlossen. Zwar machte der bisherige ÖVP-Vorsitzende und Bundeskanzler Karl Nehammer die Kehrtwende nicht mit, sondern trat zurück. Aber die gesamte übrige „türkise“ ÖVP-Parteiführung, allen voran der bisherige Generalsekretär Stocker, hatte genau so über die FPÖ gesprochen. Und nun soll Stocker also mit Kickl die Steine aus dem Weg zu Blau-Türkis räumen.
Die außenpolitischen Brocken waren von Anfang an sichtbar: die politische Rückendeckung Österreichs für die Ukraine, die EU-Sanktionen gegen Russland, das europäische Luftabwehrprogramm Sky Shield. Aus ÖVP-Kreisen wurden allerlei Konstruktionen lanciert, wie ein Kanzler Kickl an europafeindlichen Alleingängen gehindert werden solle. Eine Rolle spielt auch die Kontrolle über die Nachrichtendienste (Verfassungsschutz und militärische Dienste) – da geht es schon über Verteilung und Zuschnitt der Ressorts, vor allem des Innen- und Verteidigungsministeriums.
Mehr Konflikt als gedacht gibt es beim Thema Medien, vor allem den öffentlich-rechtlichen. Die FPÖ will den ORF aus dem Staatshaushalt finanzieren und vorher gewaltig schrumpfen. Von 15 Prozent Kürzung pro Jahr ist die Rede. Die ÖVP, einst auch für eine Finanzierung aus dem Staatshaushalt, inzwischen aber für die von ihr eingeführte Haushaltsabgabe, will die Finanzierung nicht zurückfahren, sondern nur auf eine geplante Inflationsanpassung verzichten, was auch schon Einschnitte bedeuten würde.
ÖVP dementiert, Parallelverhandlungen zu führen
Zuletzt wurde von ÖVP-Seite ein Vorschlag lanciert, wie die Bankenabgabe vermieden werden könne: Die Geldinstitute sollten stattdessen veranlasst werden, günstige Kredite für den Hausbau zu vergeben und Investitionen österreichischer Unternehmen zu fördern. Kickl brachte seinerseits eine Verschärfung für Asylbewerber ins Spiel: Sie sollten erst nach 15 Jahren unbescholtenen rechtmäßigen Aufenthalts die Staatsbürgerschaft erwerben können; bislang sind es zehn Jahre. Einig ist man sich eher in Randbereichen. So meldete die „Kronen-Zeitung“, das Tempolimit auf Autobahnen solle von 130 auf 150 Stundenkilometer erhöht werden.
Kann Blau-Türkis also noch scheitern? Aus der ÖVP heißt es, man werde nicht um jeden Preis in die Koalition gehen, Europafreundlichkeit, Rechtsstaat und Medienfreiheit seien unverhandelbar. Aus der FPÖ wurde gestreut, die Türkisen führen zweigleisig und verhandelten auch mit der SPÖ. SPÖ, Grüne und interessanterweise auch die Neos, die doch zuerst die „Zuckerl“-Koalitionsgespräche verlassen hatten, erklärten, es sei noch nicht zu spät, einen Kanzler Kickl zu verhindern. Wie die ÖVP einen solchen Looping hinbekommen sollte, ist aber schwer vorstellbar. Sie dementierte jedenfalls die Behauptung von Parallelverhandlungen.