Das System Scholz löst sich auf

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Diese Wahl sei eine Richtungsentscheidung, heißt es. Und alles lasse sich ändern, wie die FDP meint. Aber vieles in diesem Wahlkampf wirkt doch gut bekannt. Christian Lindner will wieder Finanzminister werden. Die Union zurück in das ihr vertraute Kanzleramt. Und Olaf Scholz, klar, ist erfüllt vom Glauben an Olaf Scholz.

Doch an dem Punkt verändert sich etwas. Scholz glaubt zwar immer noch an Scholz. Aber wer glaubt eigentlich in der SPD noch an ihn? Das System Scholz, das ihn auch durch schwere Krisen begleitet und getragen hat, zerbröselt so langsam. Sie fangen in der Partei an, sich an den Gedanken an eine Zeit nach Scholz zu gewöhnen. Wie diese Emanzipation aussieht, kann man in Hamburg-Eimsbüttel beobachten. Dort kämpft Wolfgang Schmidt, derzeit noch Kanzleramtsminister, erstmals um den Einzug in den Bundestag. Der Mann, der 20 Jahre lang der Schatten von Scholz war, tritt ins Licht.

Schmidt ist ein sehr einflussreicher Mann in diesem Land, auf dem Isemarkt erkennt ihn an diesem klirrend kalten Wintermorgen aber nicht jeder auf Anhieb. Schmidt trägt Fußwärmer in den Schuhen. Gute Vorbereitung ist die Grundlage seiner Arbeit. Wenn er kurz vor der Pressekonferenz noch schnell einen Relativsatz im Abschlussdokument des Treffens seines Chefs mit dem polnischen Ministerpräsidenten einfügt – oder er eben stundenlang zwischen Honigstand und Hummusverkauf Flyer verteilt.

Wo Scholz keine Lust mehr hatte, blieb Schmidt unermüdlich

„Es geht um viel“, sagt Schmidt. Er meint den amerikanischen Präsidenten Donald Trump und die Anbandelung zwischen ÖVP und FPÖ in Österreich. Und ausgerechnet in dieser weltpolitisch brenzligen Lage begibt sich der Kanzleramtsmanager in die Niederungen des Straßenwahlkampfs?

Voller Tatendrang: Wolfgang Schmidt (Bildmitte) im Wahlkampf auf dem Wochenmarkt in Eidelstedt Ende Januar
Voller Tatendrang: Wolfgang Schmidt (Bildmitte) im Wahlkampf auf dem Wochenmarkt in Eidelstedt Ende JanuarDaniel Pilar

Ja, denn es geht ja auch um viel für die SPD und Olaf Scholz. Schmidt und er haben sich Anfang der Neunzigerjahre bei den Jusos in Hamburg kennengelernt. Seit 2002 arbeitet Schmidt für Scholz, er war sein Büroleiter zu Generalsekretärszeiten, sein Stabschef als Arbeitsminister, Staatssekretär im Finanzministerium, dann als Kanzleramtsminister Organisator der Ampelkoalition. Immer war er dabei Erklärer, Schönredner, Vermittler. Wo Scholz ernst guckte, machte Schmidt einen Witz.

Wo Scholz keine Lust mehr hatte, auf Vorwürfe wegen Cum-Ex-Geschäften zu antworten, hob Schmidt unermüdlich zu einer minutenlangen Verteidigungsrede an. Als die Koalition sich doch noch irgendwann mal einigte, twitterte Schmidt ein Bild aus seinem Büro vom Sonnenaufgang. Kein Sommerfest kann zu lange dauern, als dass Schmidt nicht bis zum Ende durchhielte. Politik ist anstrengend, darf aber auch Spaß machen – das ist Schmidts Angang. Scholz’ Aufstieg wäre ohne Schmidt nicht möglich gewesen. Und Schmidt stieg immer mit. Bis jetzt.

Inzwischen kann die Nähe zu Scholz schaden

Inzwischen kann eine zu große Nähe zu Scholz der eigenen Karriere schaden. Dieser Gedanke dürfte dem SPD-Parteivorsitzenden Lars Klingbeil hin und wieder durch den Kopf gehen, der als eine der wichtigen Personen nach Scholz gilt, den es auch ins Kabinett ziehen dürfte. Für Schmidt wiegt die Nähe zu Scholz noch schwerer. Eine Distanzierung von Scholz oder der Ampel ist zwecklos. Alles, was in den vergangenen drei Jahren passierte und schiefging, hat in irgendeiner Form mit Schmidt zu tun.

SonntagsfrageWie stehen die Umfragen vor der Bundestagswahl?

Es war seine wichtigste Aufgabe, das Bündnis aus SPD, Grünen und FDP am Laufen zu halten. Eine Weile hat das auch geklappt. Bei den Grünen und der FDP reden sie freundlich über Schmidt. Ein angenehmer Typ, der ganz für die Sache lebe, heißt es. In der SPD ist die Meinung nicht ganz so positiv. Weil Schmidt qua Amt eine Kompromissmaschine ist, er also in den Augen einiger Sozialdemokraten zu viele SPD-Inhalte verwurstet hat. Aber nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts reichte auch das nicht mehr. Einigungen hielten nicht mehr, die Fliehkräfte wurden zu groß. Das Ampel-Ende ist auch ein persönliches Scheitern für Schmidt.

Manche Marktbesucher, die Schmidt an diesem Wintermorgen erkennen, kommen natürlich auf das Ende der Koalition zu sprechen. Schmidt, meist einen Kopf größer als sein Gegenüber, bleibt auch dann zugewandt. Er zählt auf: der Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Inflation, unsichere Weltlage, falsche Themensetzung in den Medien. Die Marktbesucher begegnen Schmidt meist freundlich und freuen sich, mal einen von ganz oben vor sich zu haben. Aber ihn wählen?

„Die Menschen denken nicht in Gesetzen“

In Hamburg-Eimsbüttel, wo Schmidt kandidiert, sind die Grünen stark. 2021 holte Till Steffen das Direktmandat. Und selbst wenn Schmidt nun vorne liegen sollte, könnte ihm das – natürlich von ihm mit verhandelte – neue Wahlrecht einen Strich durch die Rechnung machen: Je schlechter das Zweitstimmenergebnis der SPD in Hamburg ausfällt, desto größer ist die Gefahr, dass selbst sein Direktmandat nicht zöge. Und die Zweitstimme ist bei der Bundestagswahl wie immer Kanzlerstimme, also in diesem Fall Scholz-Stimme. Schmidt kommt nicht los von Scholz, so sehr er sich auch unabhängig von ihm machen will.

Und er geht das Ganze generalstabsmäßig an. Schmidt will zwar nicht nach der Wahl Karriere machen in der Hamburger SPD, will nicht in den Kreisvorstand gewählt werden oder Ähnliches. Aber er will das Mandat. Und er weiß, dass er sich in diesen Wahlkampf werfen muss. Er hat überlegt: Wie kann er möglichst charmant Wochenmarktbesucher ansprechen, ohne dass es für die allzu peinlich ist, den Flyer mit seinem Gesicht anzunehmen? „Darf ich Sie kurz ansprechen?“ Schmidt grinst breit. Manche sagen Nein, manche sind unsicher. Eine Frau geht am SPD-Stand vorbei und ruft nur: „Wir wollen keinen Krieg, keinen Krieg!“

Schmidt ist derweil am Olivenwagen und spricht mit einer Kundin. Es geht um die Mietpreisbremse und Sanierung der Schulen. Schmidt ist in allen Themen drin. „Die Menschen denken nicht in Gesetzen“, sagt der Mann, der bislang fast nur in Gesetzen dachte.

Müdigkeit und Begeisterung im Wahlkampfteam

In seinem Hamburger Wahlkampfteam sind sie begeistert – und müde. Schmidt würde wann immer es gehe noch eine zusätzliche Verteilaktion an Bahnhöfen einplanen, morgens um 7 Uhr. Die drei Beamten des Bundeskriminalamts, die für Schmidts Sicherheit an diesem Morgen Sorge tragen, müssen flink sein, so schnell bewegt sich Schmidt. Jetzt holt er sich einen Nachschub an Holz-Pfannenwendern. Denn, so hat sich die SPD überlegt: Mit ihr soll nichts anbrennen. Schmidt, dessen Motto es ist, mit denen zu tanzen, die im Raum sind, denkt erst gar nicht über die Witzigkeit dieses Wahlkampf-Gimmicks nach und macht einfach weiter.

So engagiert wie Schmidt ist, könnte man fast vergessen, dass es schlecht steht um seine Partei. Die SPD hatte gehofft, sie könnte vom Verhalten des Unionskanzlerkandidaten Friedrich Merz profitieren, der gemeinsamen Abstimmung mit der AfD im Bundestag. Aber es geht einfach nicht rauf in den Umfragen. Immerhin sind die Veranstaltungen mit Scholz im ganzen Land gut besucht. Da hatten sie in manchen Orten durchaus Sorge. Schmidt hat inzwischen einen Gang hochgeschaltet, er erklärt nun nicht mehr nur die Rädchen, die er und Scholz alle gedreht haben, sondern wirft Merz Sprücheklopferei vor. Aber auch bleibt er in seiner Rolle, der Maschinist, der sich nicht plötzlich von der eigenen Politik glaubhaft distanzieren kann.

Aber was, wenn sich die Politik, die Macht von Scholz und Schmidt distanziert? „Es soll ja ein Leben außerhalb der Politik geben“, sagt Schmidt, was ein erstaunlicher Satz ausgerechnet aus seinem Mund ist. Aber vielleicht wird Schmidt ja noch gebraucht. Noch sind sie alle loyal zu Scholz. Sonst könnten sie den Wahlkampf gleich einstellen. Aber dann? Scholz hat für sich schon ausgeschlossen, dass er unter Merz Vizekanzler werden würde. Für ihn heißt es also: Kanzler oder nichts. Aber irgendwer müsste für die SPD ja dann am Tisch sitzen mit den Leuten von der Union und über eine Koalition verhandeln, wenn es das Wahlergebnis hergibt.

SPD-Chef Klingbeil wäre mit Sicherheit dabei. Dass auch für ihn ein Leben nach Scholz denkbar ist, merkte man an seiner Zurückhaltung in der Frage, ob nicht doch Verteidigungsminister Boris Pistorius der bessere Kandidat gewesen wäre. Pistorius ist weiterhin sehr populär, in der Bevölkerung und in der SPD. Auch den Namen von Anke Rehlinger, die im Saarland mit absoluter Mehrheit regiert, hört man immer häufiger.

Einen anderen auch noch: Helmut Schmidt. Zumindest als Vorbild. „Schon vor 50 Jahren hieß es in Hamburg: ,Zieh mit: Wähl Schmidt‘.“ So hat es der andere Schmidt auf seinen Flyer geschrieben. Er hat sich ja schon immer an den Erfolgreichen orientiert. Früher an Scholz. Jetzt an Schmidt.