Einigung auf Sondertribunal für Putin

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Fast drei Jahre lang ist darum gerungen worden, wie das schlimmste Verbrechen Russlands gesühnt werden soll: die völkerrechtswidrige Aggression gegen die Ukraine, die im Februar 2022 begann. Der Internationale Strafgerichtshof kann nur gegen deren Folgen vorgehen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Für den Verstoß gegen das Gewaltverbot in der UN-Charta wird dagegen ein Sondertribunal benötigt. Jetzt steht in Grundzügen fest, wie es aussehen soll. Nach zwei Tage währenden Beratungen in Brüssel haben sich Rechtsfachleute aus der Ukraine, der Europäischen Union, dem Europarat und 37 weiteren Staaten auf das Statut eines solchen Gerichts verständigt. Es wird den russischen Präsidenten Wladimir Putin anklagen, aber nicht verurteilen können, solange er im Amt ist – ein Kompromiss, der die bisherige Blockade auflöst.

„Niemand in der russischen Führung ist unantastbar“, sagte die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas, als sie die Einigung am Dienstagabend bekannt gab. Alain Berset, Generalsekretär des Europarats, sagte: „Das wird Auswirkungen auf die Ukrainer für die nächsten Generationen haben.“ Auch Iryna Mudra, stellvertretende Leiterin des ukrainischen Präsidialamts, zeigte sich zufrieden. Bei der Annexion der Krim 2014 habe die Welt noch weggesehen, sagte sie. Straffreiheit habe Moskau ermutigt, immer weiter zu gehen und das Völkerrecht „vollständig zu zerstören“. Um das zu beenden, habe man nun eine „maßgeschneiderte Lösung“ gefunden.

Die wurde zwar nicht veröffentlicht, noch sind technische Arbeiten am Entwurf für ein „Schuman-Statut“ notwendig. Doch erfuhr die F.A.Z. die wesentlichen Elemente aus Gesprächen mit Beteiligten. Errichtet wird das Tribunal auf der Grundlage ukrainischen Rechts, „soweit dieses mit dem Völkerrecht vereinbar ist“, um höchste Verfahrensgarantien und Menschrechtsstandards zu gewährleisten. Die Richter sollen international sein. Der Europarat will bis Ende des Jahres eine bilaterale Vereinbarung mit der Ukraine schließen. Der Institution mit Sitz in Straßburg gehören alle 46 Staaten Europas an, mit Ausnahme Russlands, das kurz nach dem Überfall auf die Ukraine ausgeschlossen wurde.

Beweise für Angriffskrieg sammeln

Sodann soll es ein erweitertes Teilabkommen des Europarats geben, dem auch Länder außerhalb Europas beitreten können, etwa die Vereinigten Staaten. Es wird die Finanzierung des Tribunals, seinen Sitz und die Bestellung der Richter festlegen. Voraussichtlich wird das Tribunal in Den Haag angesiedelt, in der Nähe des Internationalen Gerichtshofs und des Strafgerichtshofs. Die Niederlande hatten früh ihre Bereitschaft dazu bekundet. Auch ein internationales Zentrum, das Beweise für einen Angriffskrieg sichert, und ein Schadensregister haben dort schon ihren Sitz. Letzteres nimmt Kriegsschäden auf, um eine spätere Kompensation zu ermöglichen. Bisher wurden dort nach Angaben Bersets schon 13.000 Anträge wegen der Zerstörung von Häusern und 1000 Anträge wegen des Verlusts von Familienangehörigen gestellt.

Ein solches Modell wird hybrides Tribunal genannt, weil es Elemente des nationalen und internationalen Rechts vereint. Es entspricht nicht dem Wunsch des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und vieler EU-Staaten. Sie wollten ein echtes internationales Gericht schaffen, beauftragt von der UN-Generalversammlung. Dort hat Russland, anders als im UN-Sicherheitsrat, kein Vetorecht. Das hätte einen großen Vorzug: Nur in einem solchen Rahmen könnte der obersten russischen Führung der Prozess gemacht werden. Gegenüber einem Tribunal nach nationalem Recht besitzt sie dagegen eine absolute Immunität, die aus dem Grundsatz abgeleitet ist, dass souveräne Staaten nicht übereinander richten dürfen. Das betrifft nach Völkergewohnheitsrecht den Präsidenten, den Ministerpräsidenten und den Außenminister eines Staates, die sogenannte Troika.

Allerdings gab es dagegen zwei Einwände. Zum einen bezweifelten Diplomaten, dass man die für eine Legitimation erforderliche Zweidrittelmehrheit in der UN-Generalversammlung bekommen werde. Zum anderen lehnte Washington dieses Vorgehen ab, weil die USA befürchteten, dann für Kriegsverbrechen im Irak zur Rechenschaft gezogen zu werden. Deutschland schlug sich früh auf die Seite der Amerikaner, die ihre Vorstellung eines Tribunals nach ukra­inischem Recht im G-7-Rahmen durchsetzten. Es hätte Präsident Wladimir Putin, Ministerpräsident Michail Mischustin und Außenminister Sergej Lawrow nicht einmal anklagen dürfen. Weil Kiew und andere das ablehnten, herrschte seit Mitte 2023 eine Blockade.

Sondertribunal soll gegen die Troika ermitteln

Gut ein halbes Jahr später verständigte sich eine „Kerngruppe“ mit 41 Mitgliedern, den Europarat einzuschalten, um das Tribunal weiter zu internationalisieren. Im November gelang auf der Grundlage eines deutsch-amerikanischen Diskussionsvorschlags eine Annäherung zur Immunitätsfrage, die nun in Brüssel finalisiert wurde. Nach Angaben von Teilnehmern soll der Chefankläger des Sondertribunals ermächtigt werden, nicht nur gegen die Troika zu ermitteln, sondern sie auch anzuklagen. Allerdings darf das Gericht keine Zwangsmaßnahmen gegen die Betroffenen verhängen, solange sie durch ihre Immunität (Ratione personae) geschützt sind. Ein Haftbefehl könnte gegen Putin deshalb erst ausgestellt werden, wenn er nicht mehr an der Macht ist. Das unterscheidet das Sondertribunal vom Internationalen Strafgerichtshof, der im März 2023 einen Haftbefehl gegen den Präsidenten wegen der Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland verhängte.

Ohne Einschränkungen wird das Sondertribunal gegen andere Spitzenpolitiker wie den früheren Verteidigungsminister Sergej Schoigu, Generalstabschef Walerij Gerassimow und weitere Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats vorgehen können, auch in ihrer Abwesenheit. Beweismaterial dafür wird seit Mitte 2023 gesammelt.