So verdoppelt sich der Pflegebeitragssatz bis 2050

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Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen sich auf einen deutlich stärkeren Anstieg des Beitrags zur Pflegeversicherung einstellen als weithin angenommen. Ohne kostendämpfende Reformen steigt dieser in den kommenden 25 Jahren, also bis 2050, auf voraussichtlich mehr als sieben Prozent. Ge­genüber dem heutigen Stand würden sich diese Abzüge vom Bruttolohn damit verdoppeln. Das zeigt ein neues Gutachten des Konstanzer Gesundheitsökonomen Fried­rich Breyer, das der F.A.Z. vorliegt. Der Beitragssatz für alle Sozialversicherungen würde dann die Marke von 50 Prozent des Bruttolohns deutlich überschreiten. Im Pflege­fall käme überdies eine steigende Belastung durch Eigenanteile hinzu.

Das Gutachten kommt zu deutlich ungünstigeren Werten als eine Studie, die das Berliner Iges-Institut im vergangenen Jahr für die Bundesregierung angefertigt hatte. Demnach wäre für den Pflegebeitrag bis 2050 nur ein Anstieg auf 4,7 Prozent zu erwarten. Breyer zeigt, dass die dafür genutzten Annahmen kaum realistisch seien. Auch das Iges-Institut gibt heute pessimistischere Einschätzungen zu erkennen: In einer Analyse für die Krankenkasse DAK von Januar, die bis 2035 vorausblickt, erwartet es einen Anstieg auf 4,5 Prozent schon bis dahin; im Negativszenario drohten gar 5,2 Prozent. Der Gesamtbeitragssatz könnte demnach schon 2035 die Marke von 50 Prozent überschreiten.

„Robert Habeck will Aktiensparer belasten, wir wollen jedoch, dass alle für ihre Pflegevorsorge vom Aktienmarkt profi­tieren.“

Ähnlich wie die jüngsten Iges-Zahlen fallen auch Breyers Werte für 2035 aus – und steigen dann weiter auf 7,2 Prozent im Jahr 2050. Dass die Iges-Prognose von 2024 so viel günstiger ausfiel, liegt Breyer zufolge an wenig plausiblen Annahmen zur Entwicklung ökonomischer Rahmendaten: Man habe unterstellt, dass die beitragspflichtigen Löhne der Arbeitnehmer auf Dauer etwa doppelt so stark wachsen wie die Wirtschaft. Und man habe unterstellt, dass Lohn- und Sachkosten in der Pflege nicht nur langsamer steigen als bisher, sondern auch langsamer als die Löhne insgesamt. Das stehe den realen Erfahrungen aber „diametral entgegen“. Ohne den demographisch bedingten Anstieg der Zahl an Pflegebedürftigen müssten in diesem Szenario die Beiträge sinken.

Breyer, der auch dem Wissenschaft­lichen Beir­at beim Bundeswirtschafts­ministerium angehört, hat sein Gutachten für die FDP im Bundestag erstellt. Neben der Beitragssatzprojektion zeigt es ein Reformkonzept, das eine solidere Finanzierung erlauben soll. Dazu dockt es einen zusätzlichen Kapitalstock an den 2015 eingerichteten Pflegevorsorgefonds der Regierung an. Der empfohlene neue „Pflegevorsorgefonds II“ soll diesen aber im Hinblick auf Größe, Verlässlichkeit und Ren­dite seines Kapitals klar übertreffen. In Teilen ähnelt er dem FDP-Modell für eine Aktienrente oder dem von der Ampel­koalition daraus entwickelten „Generationenkapital“ für die Rente.

„Die Gefahr liegt nicht in mehr Kapitaldeckung der Pflegeversicherung, sondern darin, darauf zu verzichten“, sagt Jens Teutrine, pflegepolitischer Sprecher der Fraktion, mit Blick auf die politischen Kräfte links der Mitte, die solche Modelle oft als „Zockerei“ bekämpfen. Und in Richtung des Spitzenkandidaten der Grünen sagt er: „Robert Habeck will Aktiensparer belasten, wir wollen jedoch, dass alle für ihre Pflegevorsorge vom Aktienmarkt profi­tieren.“ Auf jeden Fall müsse die „Plünderung der jungen Generation“ durch ungebremst steigende Belastungen ein Ende haben, mahnt Teutrine.

Im Gegensatz zu radikaleren Vorschlägen, die auf eine obligatorische Privatvorsorge zielen, würde dieses neue Fondsmodell den Rahmen der Sozialversicherung nicht sprengen. Anders als beim heutigen Pflegefonds würden die Versicherten aber durch eigentumsrechtliche Garantien davor geschützt, dass Politiker die Vorsorge vorzeitig plündern. Der aktuelle Fonds, der derzeit bei zwölf Milliarden Euro steht, soll seine Mittel von 2035 an schrittweise ausschütten, um die Zahler zu entlasten; er könnte den Beitragssatz aber nur um wenige Zehntelprozentpunkte mindern.

Dass Gedanken an politisch motivierte Griffe in die Kasse keine böse Unterstellung sind, hat sich schon gezeigt. So wollten die Grünen im Wahlkampf 2021 Geld entnehmen, um lieber kurzfristig höhere Löhne für Pflegekräfte zu bezahlen. Zwar kam es dazu nicht. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kürzte dann aber aus Etatnot Bundesmittel, die eigentlich für den planmäßigen weiteren Aufbau des Kapitalstocks vorgesehen waren.

Demgegenüber wäre der neue Fonds so konstruiert, dass das rechtlich nicht mehr geht. Und er hätte dafür einen etwas an­deren Zweck: Er soll Zuschüsse zu den Ei­gen­anteilen für Pflege im Heim zahlen, die Betroffene ne­ben den Leistungen der Sozialkasse aufzubringen haben. Diese er­reichen heute zuweilen schon Beträge um 3000 Euro im Monat. Links der poli­tischen Mit­te nährt deren kräftiger Anstieg laute Rufe nach einer „Pflegevollversicherung“ oder zumindest nach Deckelung der Ei­gen­anteile durch höhere Zah­lungen der Pflegekassen; was auf noch höhere Beitragssätze hinausliefe. Das Fondskonzept der FDP dient auch als Antwort darauf.

Auf jeden Fall soll der neue Pflegefonds spürbar größer ausfallen und mit Aktienanlagen höhere Renditen erzielen als der bestehende. Dieser hat wegen extrem vorsichtiger Anlagerichtlinien bisher wenig eingefahren, wie Breyer zeigt: Ende 2023 war sein Guthaben mit 11,6 Milliarden Euro nur 2,5 Prozent höher als die Summe aller Einzahlungen seit 2015. Zum Vergleich: Der Aktienindex MSCI World hat sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt.

Jenseits davon soll der neue Pflegefonds aber auch höhere jährliche Zuführungen erhalten, zum Beispiel einen Betrag in Höhe von 0,5 Beitragssatzpunkten. Das wäre fünfmal so viel wie bisher oder nach heutigem Stand neun Milliarden Euro. Um diese ohne Nöte für den Bundeshaushalt und ohne erhöhte Belastung der Beitragszahler aufzubringen, setzt die FDP darauf, einen Betrag in dieser Größenordnung durch effizientere Strukturen in der Pflege einzusparen. Dass es da Reserven gebe, findet auch Karl-Josef Laumann, CDU-Vize und Sozialminister von Nordrhein-Westfalen.

Was auf der Habenseite winkt, zeigt Breyers Gutachten etwa für die Geburtsjahrgänge 1965 bis 1969, die um 2050 ins typische Pflegealter kommen: Ihnen dürften dann insgesamt 36 Milliarden Euro für zusätzliche Zuschüsse zu Eigenanteilen zur Verfügung stehen. Damit wäre zumindest der von heute an zu erwartende Anstieg der Eigenanteile für sie abgedeckt; für spätere Jahrgänge wäre es wegen der längeren Ansparzeit noch mehr.

Ein wichtiges Argument für eine solche Reform gibt Breyer zufolge der Zeitablauf: Denn in der Pflege ist es noch nicht zu spät. Die große Gruppe der Babyboomer wird zwar in Kürze die Rentenversicherung stark beanspruchen. Sie hat aber noch 20 Jahre vor sich, bis sie in großer Zahl Pflegeleistungen braucht – „genug Zeit also, um diesen Bereich des Sozialsystems durch mehr Kapitaldeckung darauf vorzubereiten“, findet auch Teutrine.