Stiftung legt Milliardenklage gegen Tiktok und X vor

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Dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump und den Chefs der großen amerikanischen Internetunternehmen ist die Regulierung von Social-Media-Plattformen in der Europäischen Union ein Dorn im Auge. Der Wille Trumps zu drastischen politischen Entscheidungen schürt in Europa bei manchen Befürchtungen, dass die Europäische Kommission dem Druck aus den USA nicht standhalten und Verstöße der Social-Media-Konzerne nicht entschieden genug untersuchen und ahnden könne. Marc Zuckerberg, der Chef von Meta (Facebook, Instagram), brachte schon drohende Geldbußen für die Technologiekonzerne in der EU gezielt in Zusammenhang mit dem drohenden transatlantischen Zollkonflikt.

Andere Akteure finden in dem Machtkampf hierzulande bisher wenig Beachtung. Eine Allianz europäischer Verbraucherschützer und Anwälte zieht mit dem Schwert der Sammelklage gegen Tiktok & Co zu Felde. Mit dabei ist nun auch eine deutsche Kanzlei. Die Leipziger Sozietät Spirit Legal vertritt die niederländische Verbraucherschutzorganisation Stichting Onderzoek Marktinformatie (SOMI) bei vier Sammelklagen gegen die Videoapp Tiktok und den Twitter-Nachfolger X.

Mittels deutscher Verbraucher, vor allem Eltern jugendlicher Nutzer, sollen die Plattformen zur Zahlung von Schadenersatz in Milliardenhöhe gezwungen werden, sagte Christian Däuble, Rechtsanwalt bei Spirit Legal, der F.A.Z. Außerdem zielen die Klagen darauf, angebliche Rechtsverstöße von Tiktok und X gegen deutsches Recht und EU-Recht zu unterbinden.

Bis zu 2000 Euro Schadenersatz pro Nutzer

Die Anwälte setzen darauf, dass sich Millionen Nutzer in Deutschland an den Sammelklagen beteiligen werden. Tiktok habe hierzulande rund 20 Millionen Nutzer und X rund elf Millionen, sagte Däuble. Für jeden Nutzer, der mitmache, wollen die Anwälte, gestaffelt nach dem Alter der betroffenen Kinder und jungen Menschen, Entschädigungen erstreiten – zwischen 500 Euro und 2000 Euro im Verfahren gegen Tiktok und zwischen 750 Euro bis 1000 Euro in der Sammelklage gegen X. „In der Summe landet man dann bei Schadenersatzforderungen im Milliardenbereich“, fasste der Anwalt zusammen.

Mit der Klage wird Tiktok vorgeworfen, junge Nutzer zu manipulieren und auszuspionieren. Ein weiterer Vorwurf lautet, die Videoapp missbrauche sensible Daten für Empfehlungsalgorithmen. Tiktok setze „gezielt süchtig machende Mechanismen ein“. Die Personalisierung von Empfehlungen auf Basis persönlicher Informationen („Profiling“) gefährde die psychische Gesundheit vor allem von Kindern und Jugendlichen. Diese Praxis verstoße gegen das EU-Verbot manipulativer, irreführender und ausbeuterischer KI-Systeme, das seit Anfang dieses Monats gilt.

Desinformation, Datenklau, Sucht

Der Plattform X wird vorgeworfen, gravierende Datenlecks weder gemeldet noch die Betroffenen informiert zu haben. Auch verarbeite X gezielt und ohne Rechtsgrundlage sensible Nutzerdaten für seine Empfehlungsalgorithmen. Dadurch werde die freie Meinungsbildung der Betroffenen beeinträchtigt und die gesellschaftliche Spaltung vorangetrieben. Beide Unternehmen, X und Tiktok, verbreiteten ferner Desinformation und irreführende Inhalte, tragen die Kläger vor. Politische Inhalte würden häufig verschleiert gesponsert, aus dem Ausland finanziert oder ohne klare Kennzeichnung verbreitet. Die Vorwürfe stützen sich nach Angaben von Däuble auf die Auswertung von Berichten von X und Tiktok, auf die Überprüfung der Apps durch die Kanzlei und auf wissenschaftliche Studien etwa zur Social-Media-Sucht.

In der Klage wird gefordert, beiden Plattformen das rechtswidrige Profiling gerichtlich zu untersagen und die Konzerne zu mehr Kinder- und Jugendschutz zu verpflichten, besonders mit Blick auf „Challenges“, also Mutproben, die lebensbedrohliche Risiken bergen. Außerdem müssten wirksamere Maßnahmen gegen Desinformation und Einflussnahme ergriffen werden. Die Behörden sorgten nicht für ausreichenden Schutz der Nutzer, kritisierte Däuble.

Behörden sind zu langsam für die Kläger

„Die Datenschutz-Grundverordnung hat ein Durchsetzungsdefizit“, sagte der Anwalt. Die irische Datenschutzbehörde am EU-Sitz von Tiktok und X unternehme zu wenig. Die Verfahren der EU-Kommission, in denen derzeit Verstöße gegen den Digital Services Act geprüft werden, verliefen schleppend. „Private Rechtsdurchsetzung ist als effektive Ergänzung unverzichtbar“, sagte Däuble.

In dieser Woche wurden die Klagen am Kammergericht Berlin eingereicht. Es sei bekannt für „gute und stabile Gerichtsentscheidungen“, erläuterte der Anwalt. Eine Sprecherin von Tiktok wollte die Klagen nicht kommentieren, bis die Anwälte des Unternehmens sich damit auseinandergesetzt hätten. X reagierte auf eine Anfrage der F.A.Z. nicht.

Beide Plattformen stehen schon länger unter der Beobachtung von EU-Behörden. Ein Verfahren der EU-Kommission gegen X läuft seit Ende 2023 und drehte sich ursprünglich vor allem um die mangelnde Bekämpfung illegaler Inhalte und Falschinformationen. Mitte Januar verschärfte die Kommission ihre Bemühungen und verlangte Dokumente, die über die Funktionsweise des Algorithmus Auskunft geben, der Nutzern Inhalte automatisch ausspielt. Später kamen Bedenken hinzu, ob X-Eigentümer Elon Musk unzulässigerweise hiesige Wahlen beeinflusst, nachdem er eine Wahlempfehlung für die AfD ausgesprochen hatte. Aufgrund seiner großen Abonnentenzahl von mehr als 210 Millionen erlangt Musk auf seiner Plattform große Reichweite bis hin zu Nutzern, die ihm nicht folgen. Soweit bekannt, bevorzugt der Algorithmus Inhalte von genau solchen Konten und verstärkt die Reichweite dadurch noch mehr.

Begegnen die Plattformen den Bedenken?

Musk betonte immer wieder, X solle im Einklang mit nationalen Gesetzen maximale Rede- und Meinungsfreiheit ermöglichen. Die Plattformen sind nach deutschem Recht und EU-Recht verpflichtet, Inhalte zu entfernen, die etwa gegen den Digital Services Act verstoßen. Auch unter Musks Ägide gibt es immer wieder Berichte von X-Nutzern im Ausland, die Meldungen sehen, dass ihre Beiträge auf der Plattform in Deutschland oder anderen Ländern nicht sichtbar seien.

Tiktok auf der anderen Seite versucht an mehreren Fronten, Bedenken zu begegnen. Während die Plattform sich in den USA gegen einen erzwungenen Verkauf seines dortigen Geschäfts wehrt, versucht sie in Europa, Datenschützer und Behörden zu beschwichtigen. Das Unternehmen hat in Skandinavien und Irland mehrere Rechenzentren gebaut, um versichern zu können, dass alle Nutzerdaten auf europäischem Boden verarbeitet werden. Die Anschuldigung der bewussten Förderung von Sucht unter Jugendlichen versucht die Plattform mit speziellen Einstellungen für die Konten von Jugendlichen zu entkräften. Eltern können zum Beispiel die tägliche Bildschirmzeit ihrer Kinder begrenzen oder auch deren Möglichkeit, private Nachrichten zu senden und zu empfangen.

SOMI hat es in den Niederlanden schon versucht

Mit den Sammelklagen gegen Tiktok und X nutzt die niederländische Organisation SOMI die erweiterten Möglichkeiten kollektiven Rechtsschutzes in der EU. Vor fünf Jahren trat die EU-Verbandsklagerichtlinie in Kraft, um die Rechte der Verbraucher gegenüber Unternehmen zu stärken. Auch anerkannte Einrichtungen aus anderen EU-Mitgliedstaaten wie SOMI dürfen nun bei deutschen Gerichten grenzüberschreitende Sammelklagen erheben. Nutzer, die sich den Schadenersatzklagen anschließen wollen, können sich online ins Verbandsklageregister beim Bundesamt der Justiz eintragen. Es werde aber womöglich noch einige Wochen dauern, bis eine Anmeldung möglich sei, sagte Däuble. Der Nachweis individueller Betroffenheit durch die angeblichen Rechtsverstöße der Social-Media-Plattformen sei erst bei einer möglichen Auszahlung von Schadenersatz nötig.

In den Niederlanden und in Belgien laufen bereits Milliarden-Sammelklagen von SOMI gegen Tiktok und X. Das Schema dort ist in etwa das gleiche wie nun auch in Deutschland. SOMI besteht nach eigenen Angaben aus einem Team von IT- und Rechtsexperten, die sich für den Grundrechtsschutz von Verbrauchern und Minderjährigen einsetzen, die Onlinedienste nutzen. Die Stiftung ist als gemeinnützig anerkannt und finanziert sich nach eigener Darstellung vor allem über Mitgliedsbeiträge und Spenden.

Der größte Teil des Stiftungskapitals wurde demnach von der niederländischen Finanzholding Reunion Ventures B.V. gespendet – „ohne Gegenleistung, mit dem Ziel, die sozialen Veränderungen herbeizuführen, für die SOMI gegründet wurde“, wie es von der Stiftung heißt. Die Leipziger Kanzlei Spirit Legal bezeichnet sich als Wirtschaftskanzlei, führt aber auch Prozesse für Verbraucherschützer, etwa eine Sammelklage für die Verbraucherzentrale Sachsen gegen Amazon Prime.