Shou Zi Chew: Tiktoks freundliches Gesicht

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Der Platz in der vordersten Reihe, den der jugendlich wirkende Mann aus Singapur ergattert hatte, war der deutlichste Ausdruck seines Erfolgs. Ziemlich genau dreißig Jahre war es her, dass Shou Zi Chew, damals zwölf Jahre alt, in einem landesweiten Test seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt und so den Zugang zu einer Eliteschule erhalten hatte. Dreißig Jahre, die ihn ins Zentrum der Macht erst in China und dann in Amerika geführt hatten. Und nie war Chew diesem Zentrum so nah wie an diesem bitterkalten Montag im Januar in Washington. Chew saß in der Rotunde des Kapitols und verfolgte als einer der einflussreichsten Männer der globalen Tech-Welt die Amtseinführung des neuen US-Präsidenten Donald Trump.

Chew hat, zurückhaltend ausgedrückt, bewegte Tage hinter sich. Der Chef der Kurzvideo-App Tiktok kämpft seit vielen Monaten um das Überleben der Plattform. Tiktok droht aufgrund eines neuen Gesetzes ein Verbot in den USA, sofern der chinesische Mutterkonzern Byte­dance die App nicht verkauft. Eigentlich war am 19. Januar die Frist hierfür abgelaufen.

Auch in Europa steht Tiktok im Fokus der Politik. Die Europäische Kommission hat im Dezember ein Verfahren gegen das Unternehmen eingeleitet. Tiktok steht unter Verdacht, nicht genug getan zu haben, um die Einflussnahme auf europäische Wahlen zu verhindern.

Showdown zum Amtswechsel

Chew geriert sich auf seiner Plattform als oberster Influencer, der den 170 Millionen Tiktok-Nutzern in den USA einheizt, damit sie sich für das Überleben der App einsetzen. Er, der mit seinem Privatleben sonst sehr zurückhaltend umgeht, postet Videos mit Starbucks-Beschäftigten oder spricht einen großen Dank an Trump in die Kamera, der mit einem Dekret der App weitere 75 Tage Zeit verschafft hat. In den politischen Fluren von Washington ist er längst Stammgast.

Am Wochenende vor Donald Trumps Amtseinführung gipfelte Chews Kampf in einem spektakulären Showdown. Tiktok ging noch vor Ablauf der Frist für ein paar Stunden offline. Doch nachdem Trump deutlich gemacht hatte, dass er der App eine Fristverlängerung einräumen wolle, konnte Amerikas Tiktok-Gemeinde die Kurzvideos dieser Welt wieder abrufen. Die App schickte eine Botschaft an die Hälfte der Amerikaner, die Tiktok nutzt: „Dank des Einsatzes von Präsident Trump ist Tiktok zurück in den USA!“

Bemerkenswerter Sinneswandel

Chew ist, wenn man so will, einen Pakt mit dem Teufel eingegangen. Vor einer halben Dekade war es Trump gewesen, der ein Verbot von Tiktok erstmals propagiert hatte, es letztlich aber nicht umsetzte. Trumps Drohungen stürzten die App ins Chaos. Chews Vorvorgänger, der frühere Disney-Manager Kevin Mayer, gab seinen Posten nach nur vier Monaten wieder auf. Chew übernahm von einer Interimschefin.

Es dauerte bis zum letzten Tag der Amtszeit von Trumps Nachfolger Joe Biden, bis nun doch ein Verbot wirksam werden sollte. Doch Chew war es, zusammen mit Anteilseignern von Bytedance, in der Zwischenzeit gelungen, den einstigen Widersacher Trump umzubiegen. Trump, der Tiktok-Teufel, wurde zu Trump, dem Tiktok-Engelchen. Wie erfolgreich Chew mit seiner Lobby-Kampagne war, zeigte sich kurz nach der Amtseinführung. In seinem ersten Interview spielte der neu gewählte Präsident die Gefahren durch die App herunter. Plötzlich hatte er keine Sorgen mehr, der große Widersacher China könne mithilfe von Tiktok Einfluss üben auf die USA und Informationen sammeln über Amerikaner. Stattdessen befand er, dass ein paar Kinder, die sich lustige Videos anschauen, nun wirklich kein Risiko für die nationale Sicherheit seien. Wenn das schon ausreiche, sei alles, das aus China komme, gefährlich.

Chew hat einen bemerkenswerten Sinneswandel beim mächtigsten Mann der Welt bewirkt. Trump schlug vor, Tiktok in ein Gemeinschaftsunternehmen zu überführen, an dem US-Unternehmen die Hälfte halten sollten. Ein amerikanisches Aufsichtsratsmitglied von Byte­dance, das sich am Freitag auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos zu Wort meldete, klang nicht abgeneigt.

Es wäre der nächste Erfolg in einer mustergültigen Karriere, die von außen betrachtet fast beängstigend glatt verläuft. Chew kommt aus einfachen Verhältnissen, heißt es häufig. Die Mutter war Buchhalterin, der Vater auf Baustellen tätig. Mit 12 Jahren überzeugte er in einem landesweiten Test in Singapur und wechselte auf eine Eliteschule. Während seines Militärdienstes brachte er es bis zum Offizier, was jedes Jahr nur einigen Hundert Singapurern gelingt. Danach studierte er Wirtschaftswissenschaften am University College in London, einer der besten Universitäten der Welt. Von dort ging es in den akademischen Olymp, an die Business School der Universität Harvard, an die er laut einer Alumni-Plattform regelmäßig Geld spendet. Dort lernte er seine Frau Vivian Kao kennen, eine Amerikanerin mit taiwanischen Wurzeln, die heute das Family Office in Singapur leitet und die Reichtümer der Familie investiert. Drei Kinder haben die beiden.

Berufseinstioeg bei Goldman Sachs

Ähnlich gemalt lesen sich Chews berufliche Stationen. Er kokettiert damit, dass er als Student ein Praktikum bei einem kleinen, damals noch recht unbekannten Start-up namens Facebook absolvierte. Sein Berufseinstieg war, genau wie der seiner Frau, einst bei der Investmentbank Goldman Sachs in London. Später wechselte er zum Technologieinvestor DST Global des russisch-israelischen Milliardärs Yuri Milner.

Dieser gehörte zu den frühen Investoren in der russischen und US-amerikanischen Internetwelt, war etwa bei Facebook, Twitter oder Whatsapp an Bord. Chew kümmerte sich als Partner um die Investments in Chinas damals boomenden Technologiesektor. Dazu gehörten heutige Großkonzerne wie das chinesische Uber-Äquivalent Didi, die Shopping-Plattform JD.com oder der Tech-Riese Alibaba.

Es war diese Zeit, die seine Karriere bestimmen sollte. Zwei Firmen, in die er damals mit DST investierte, sollten später zu Arbeitgebern werden. Zunächst wechselte er im Jahr 2015 zum Technologiekonzern Xiaomi, der im Westen vor allem für seine Handys bekannt ist. Dort wurde er im zarten Alter von 32 Jahren zum Finanzvorstand. In einem alten Facebook-Post heißt es, dass er sich um die globale Expansion kümmern solle.

Schon damals also profitierte er von der Rolle, die er seitdem immer wieder ausfüllt: als Bindeglied zwischen der chinesischen Tech-Welt und dem Rest der Welt. Chinesisch genug, um in der Volksrepublik zu funktionieren, aber so global vernetzt, dass er Verbindungen zu Geldgebern und Partnern in den USA und Europa aufbauen kann. Wenige Jahre später führte er Xiaomi in Hongkong an die Börse und wurde schließlich Internationaler Präsident des Unternehmens.

Gefechte mit US-Politikern

Sehr zum Missfallen des Xiaomi-Gründers Lei Jun, einem der bekanntesten und beliebtesten Unternehmer Chinas, warb ihn vor vier Jahren dann einer der reichsten Männer der Volksrepublik ab: Bytedance-Gründer Zhang Yiming. Chew hatte einst in den Konzern investiert und die Beziehungen zum gleichaltrigen Zhang weiter gepflegt. Bytedance hatte als Nachrichtenaggregator angefangen, war inzwischen aber ein breit aufgestellter Techkonzern geworden. Die wichtigste Säule waren die Kurzvideo-App Tiktok und die chinesische Schwester-App Douyin.

Chew sollte erst Finanzchef des Konzerns werden. Angesichts seiner Erfahrungen bei Xiaomi nährte das Spekulationen, Bytedance, das wertvollste Start-up der Welt, würde endlich an die Börse gehen. Doch ein Vierteljahr später kam es anders, als Tiktok-Chef Kevin Mayer das Unternehmen abrupt verließ. Bytedance-Chef Zhang setzte auf Chew als neuen Blitzableiter. Wieder kam Chew seine Rolle als Bindeglied zugute: Er war chinesischer als Mayer und doch global und amerikanisch genug, um auch öffentlich anzukommen.

Chew übernahm und stürzte sich in den Kampf. Er wurde in Amerika zu einer Person des öffentlichen Lebens, doch stets kontrolliert und nur so sehr, wie es nötig war für seine Mission, Tiktok zu retten. Er übernahm den Ehrenvorsitz der jährlichen Gala des Metro­politan Museum of Art in New York. Er baute ein Tiktok-Profil auf, das „Shou.time“ heißt und inzwischen knapp 5 Millionen Follower hat. Dort gibt er sich nahbar und postet alte private Fotos aus seiner Zeit beim Militär oder als Teenager mit einer großen Schlange um den Hals. Er gibt sich so amerikanisch, dass es anbiedernd wird. Er tanzt etwas hölzern im Football-Stadion, er isst Hähnchen in Nashville, er schaut Feuerwerk am Nationalfeiertag, er feiert Halloween mit Messer im Kopf und geht mit der Familie zum Taylor-Swift-Konzert. Es ist die nächste Rolle, die er fast zu perfekt ausfüllt.

Einer breiten Öffentlichkeit wurde er vor allem durch seine Auftritte in Washington bekannt. Dort lieferte er sich Gefechte mit US-Politikern, die ihn angesichts der Verbindungen des chinesischen Mutterkonzerns Bytedance zur Kommunistischen Partei grillten. Chew, stets freundlich, jugendlich wirkend, klug und hervorragend vorbereitet, verwies immer wieder auf seine singapurische Herkunft. Die Politiker in Washington bissen sich die Zähne aus. Chew bestand die Feuertaufe.

In Chinas Wirtschaftsmedien ist Chew vor allem für zwei Eigenschaften bekannt: einerseits seine offenbar enorme Disziplin. In der Zeit des Börsengangs von Xiaomi schrieb er auf Weibo, Chinas Twitter-Äquivalent: „Im nächsten Jahr wird sogar Schlafen Zeitverschwendung sein.“ Andererseits hat er den Titel des Kaisers der Angestellten bekommen. Er sei der bestverdienende Angestellte Chinas, heißt es in den Berichten. Ob das stimmt oder es sich nur um plakative Zuspitzung handelt, lässt sich freilich nicht überprüfen. Chew würde vermutlich entgegnen, er lebe ja in Singapur.

Fraglich ist bis heute, wie einflussreich Chew im Bytedance-Konzern wirklich ist. Seit Jahren verfolgt ihn der Verdacht, dass er vor allem das freundliche Gesicht ist, das den Amerikanern die Angst vor Tiktok nehmen soll. Die tatsächlichen Entscheidungen treffe weiterhin Bytedance-Gründer Zhang, berichtete vor zweieinhalb Jahren die „New York Times“. Und auch die amerikanischen Bedenken rund um den Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas konnte Chew bis heute nicht wirklich ausräumen. Fachleute sind sich weitgehend einig, dass Bytedance, Zhang oder Chew sich im Zweifel nicht gegen Vorgaben aus Peking wehren könnten, Daten abzugeben. Tiktok dementiert, dass das je passiert wäre. Aber im Zweifel wäre auch die Möglichkeit ein Sicherheitsrisiko.

Die Amtseinführung in der Rotunde des Kapitols bot Chew eine gute Gelegenheit, für die kommenden Wochen vorzubauen und Beziehungen zu knüpfen. Der Manager, der wenige Monate zuvor im gleichen Gebäudekomplex noch als personifizierte Gefahr für die nationale Sicherheit gegolten hatte, wurde ausgerechnet neben Tulsi Gabbard gesetzt, die designierte Direktorin der nationalen Nachrichtendienste. Die Hüterin der nationalen Sicherheit neben dem Jungen aus Singapur, den nicht wenige in den USA fast als Agenten Pekings sehen. Offen blieb, ob es sich um Ironie der Geschichte oder einen Streich des Trump-Teams handelte. Chew jedenfalls tat, was er immer tut, und erfüllte diszipliniert seine Aufgabe.