„Blut an euren Händen“ ist ihre Parole

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Olaf Scholz lästert auf der Bühne gerade über Friedrich Merz, als im Publikum eine junge Frau aufspringt, Palästinensertuch um den Hals. „Olaf Scholz, Sie sind für den Genozid in Palästina mitverantwortlich!“ Die junge Frau brüllt. „Das ist der Grund, warum Tausende Zivilisten in Gaza ermordet werden! Wann hören Sie auf, Israel zu unterstützen?“ Einige Besucher im Rhein-Main-Congress-Center drehen ihre Köpfe zu der Demon­strantin, eine Frau direkt vor ihr hält sich die Ohren zu.

Scholz redet weiter über Merz und dass er ihm nach dem gemeinsamen Abstimmen mit der AfD nicht mehr trauen könne. Er redet jetzt lauter. Jemand im Publikum ruft „Ruhe“, offenbar in Richtung der jungen Frau. Jetzt steht ein Mann an ihrer Seite, er will wohl eine Barriere sein für die Sicherheitsleute, die angestürmt kommen.

An der Stelle gibt es einen Schnitt in dem Video, das die Szene zeigt und das bei Instagram viele Menschen gesehen haben. Jetzt ist ein etwas älterer Mann mit schwarzer Kappe und in einem weißen Pullover zu sehen. Darauf die Parole „Free Palestine“. „Scholz, was ist mit Waffenexporten zu Rechtsextremen? Was ist mit Waffenexporten an Kriegsverbrecher? Hören Sie auf!“

Die Ordner kommen, auch ein Fotograf. Der Mann wird aus der Halle gedrängt, er brüllt weiter. „Sie sind Komplize!“ Scholz’ Stimme wird noch einmal energischer, das Publikum applaudiert ihm demonstrativ.

„Scholz ignoriert Gaza“ steht unter dem Video vom 25. Januar in Wiesbaden. Aufgenommen hat es jemand von der Initiative „Free Palestine Mainz“. Solche Gruppen gibt es in vielen Städten Deutschlands. Sie wollen den Nahostkonflikt in den Wahlkampf tragen.

Außenpolitik spielt nur selten eine Rolle bei der Frage, wer der nächste Kanzler wird oder wie sich der Bundestag zusammensetzt. Bundestagswahlkämpfe werden von Innenpolitik bestimmt. Aber die Grenzen zwischen innen und außen verschwimmen immer mehr. Und beim Thema Nahost ganz besonders.

Strengere Regeln für Demonstrationen

Nachdem am 7. Oktober 2023 die Hamas Israel überfallen hat, suchte sich der Konflikt auch ein Ventil auf deutschen Straßen. Es gab Demonstrationen pro Israel – aber deutlich mehr propalästinensische. Manche waren auch antiisraelisch. Die Behörden versuchen, mit Auflagen die Demonstrationen in den Griff zu bekommen, indem sie etwa das Verbrennen von Flaggen verbieten. Wegen zunehmender Straftaten bei solchen Demonstrationen hat die Polizei für eine an diesem Samstag stattfindende Kundgebung in Berlin die Regeln noch enger gefasst: Parolen dürfen nur auf Englisch und Deutsch gerufen werden. Sonst wird die Demonstration aufgelöst.

Denn zuletzt sei es zu Propagandastraftaten in arabischer Sprache gekommen, erklärt ein Polizeisprecher. Es werde außerdem geprüft, ob man einzelne Personen die Teilnahme verbieten könne, weil sie in der Vergangenheit agitiert haben. Die Polizei kennt nach eigener Aussage etwa 100 bis 200 Personen, die das Geschehen bei solchen Demos bestimmen.

SonntagsfrageWie stehen die Umfragen vor der Bundestagswahl?

Gerichte mussten schon entscheiden, ob die Parole „From the river to the sea“ antisemitisch ist und verboten gehört. Juden berichten von einem insgesamt feindlichen Umfeld in Deutschland, dass sie sich nicht mehr sicher fühlten in der Öffentlichkeit.

Trotzdem spielt der Konflikt kaum eine Rolle im Wahlkampf. Das außenpolitische Topthema ist der Ukrainekrieg. Und doch kommen die Spitzenpolitiker nicht um die Auseinandersetzung zwischen Israel, der Hamas und den Palästinensern herum. Das Thema wird ihnen von außen aufgezwungen: von einzelnen Personen, die Wahlkampfveranstaltungen stören. Scholz erlebt das schon mehrfach am Tag. Als er in Nordrhein-Westfalen unterwegs war, wurden seine Auftritte in Bielefeld und Münster gestört. Oft gibt es auch eine kleine Demo vor der Halle.

Nicht nur Scholz bekommt es ab, auch Robert Habeck und Annalena Baerbock. Ihnen wird vorgeworfen, den „Genozid“ in Gaza zu verschweigen oder schönzureden, Israel mit Waffen zu unterstützen. „Blut an euren Händen“ ist die Kampfparole. Offenbar sind die Pro-Palästina-Demonstranten vor allem von linken Parteien enttäuscht.

Der Mann im weißen Pullover, der in Wiesbaden Scholz anschrie, heißt Lazhar Chaari. Er ist schon seit einiger Zeit bei der 2014 gegründeten Gruppe „Free Palestine Mainz“ aktiv und zu einem Gespräch bereit. Chaari, 59 Jahre alt, nennt sich selbst einen Deutschen mit Migrationshintergrund. In Tunesien geboren, sei er 1984 im Rahmen eines Kooperationsprogramms nach Deutschland gekommen.

Chaari hat in Karlsruhe Maschinenbau studiert, ist verheiratet und hat drei Kinder. Er war viele Jahre Vorsitzender des Arbeitskreises Mainzer Muslime. Bei „Free Palestine Mainz“ seien neben ihm noch viele andere Privatpersonen ehrenamtlich aktiv – verschiedener Nationalität, Konfession und politischer Überzeugung. Chaari, der den Bundeskanzler anschrie, will auf keinen Fall den Eindruck hinterlassen, er und seine Mitstreiter seien Krawallmacher. „Wir sind vernünftige Menschen.“

Vorwurf der Einseitigkeit an Politik und Medien

Warum hat er dann aber geschrien? Laut Chaari hat die Veranstaltung mit Scholz in Wiesbaden verspätet begonnen. Eigentlich sei der Plan gewesen, sich in der Fragerunde zu melden und Scholz „respektvoll“ mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Man habe aber befürchtet, dass es wegen der knappen Zeit keine Möglichkeit für Fragen geben würde. Also entschied man sich für den lautstarken Protest. Der sei „spontan und ungeplant“ gewesen, sagt Chaari. Dass die Sicherheitsleute ihn und seine Mitstreiterin dann zügig aus dem Saal führten, akzeptiere man.

Chaari erzählt, dass 46 Personen, die ihm sehr nahegestanden hätten, während der letzten 13 Monate in Gaza von der israelischen Armee getötet wurden. So wie er seien viele vom Krieg betroffen.

„Free Palestine Mainz“ tritt nicht nur bei Wahlkampfveranstaltungen in Erscheinung. Auf dem Instagramprofil sind Videos von vielen Demos und Infoständen zu sehen. Die Botschaft ist immer dieselbe: Die deutschen Politiker und Medien würden einseitig über den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern informieren. Die Siedlungspolitik, von den propalästinensischen Aktivisten Besatzungspolitik genannt, sei brutal; regelmäßig fänden Massaker an der Bevölkerung durch israelische Truppen statt, ein Genozid und eine seit 1948 stattfindende ethnische Säuberung im besetzten Palästina mit „bedingungsloser Unterstützung von Deutschland“.

Am 25. Januar in Wiesbaden: Demonstranten mit Palästina-Flaggen bei einer Wahlkampfveranstaltung von Scholz
Am 25. Januar in Wiesbaden: Demonstranten mit Palästina-Flaggen bei einer Wahlkampfveranstaltung von ScholzReuters

Dass Scholz während des Protests in der Halle nur lauter in sein Mikrofon gesprochen habe, aber nicht auf die Vorwürfe eingegangen sei, bestätigt Chaari darin, dass Kritik an der deutschen ­Nahostpolitik unerwünscht sei. Wieder habe es kein Gespräch gegeben. Ähnlich sei es gewesen, als Vertreter von „Free Palestine Mainz“ am 19. Januar bei einer Veranstaltung mit dem Grünen-Kanzlerkandidaten Robert Habeck in Mainz ­gewesen seien. „Es ist an der Zeit, den Ökozid in Gaza zu stoppen und für echte Friedenspolitik einzustehen“, hieß es vorab. Wegen des großen Andrangs sei die Gruppe nicht in die Halle ge­kommen, sondern habe in Absprache mit der Polizei spontan davor demons­triert, sagt Chaari.

Was sagt die SPD dazu, die wohl überdurchschnittlich oft von Protestaktionen betroffen ist? Ein Sprecher teilt auf Anfrage mit, dass das Personal der Partei solche Gruppen vorab identifiziere und direkte Gespräche anbiete. Aber: „Zudem stehen wir mit den örtlichen Behörden im Austausch, um unser Sicherheitskonzept für große Veranstaltungen umzusetzen. Dazu gehört auch der Einsatz von Sicherheitspersonal.“

Die Reaktionen stellen sie dann ins Internet

Zu Beginn seines Wahlkampfs hat Scholz nicht einfach nur lauter gesprochen, wenn demonstriert wurde. Er ging ins Gespräch, genauer: Er brüllte zurück. So war es in Bielefeld. Auch da sprang eine junge Frau auf, hielt ihre rot eingefärbten Hände in die Höhe. Scholz sprach eigentlich gerade über die Unterstützung von Hebammen, wechselte aber sofort das Thema. „Das war ein fürchterlicher Terrorangriff, den die Hamas da auf Israel verübt hat.“ Das Publikum gab lautstarken Beifall, es hatte sich in der Sekunde mehrheitlich mit Scholz solidarisiert. Als die Frau aus dem Saal gebracht war, wurde Scholz wieder ruhig und sagte noch etwas zu den Hebammen.

Die Demonstranten wollen die Politiker stellen, vielleicht auch eine Reaktion provozieren, die sie dann als Video ins Internet stellen können. Spitzenpolitiker, wie Annalena Baerbock. Ende Januar trat sie unter freiem Himmel in Potsdam auf, ihrem Wahlkreis. Auf einem Videoausschnitt des Auftritts sind Rufe und Pfiffe zu hören. Baerbock stockt in ihrer Rede, sagt, sie würde gleich noch etwas zur Außenpolitik sagen, immerhin sei sie die Außenministerin. Und weil die Leute „Free Palestine“ rufen, wiederholt sie das noch mal auf Englisch.

Am 13. Januar in Bielefeld:
  Scholz’ Rede wird  von propalästinensischen  Demonstranten gestört.
Am 13. Januar in Bielefeld:
Scholz’ Rede wird von propalästinensischen Demonstranten gestört.
EPA

Es trifft aber auch Lokalpolitiker. Auf dem Instagramprofil von „Free Palestine Mainz“ wird der parteilose Oberbürgermeister der Stadt, Nino Haase, dafür kritisiert, dass er zu den Anliegen der Gruppe schweige. Man bekomme den Eindruck, dass es Menschen erster und zweiter Klasse gebe. In einem Video auf dem Kanal sagt ein junger Mann, es sei gut, dass es Demonstrationen gegen Rechtsextremismus gebe. Aber man müsse auch gegen den Faschismus in anderen Ländern vorgehen. „Einig gegen Zionisten, Siedler, Mörder und Faschisten.“

Unter dem Video einer Demonstration ist ein poppiger Song gelegt, der Text „Free Palestine“. Dazu mischen sich Rufe: „Hoch die internationale Solidarität.“ Es ist ein bekannter Schlachtruf der politischen Linken, der sich nach eigener Aussage gegen Unterdrückung wendet. Die Anliegen der Gaza-Protestierer und der politischen Linken sind ähnlich. Eine Zusammenarbeit auf politischer Ebene ergibt sich daraus aber noch nicht.

„Wählt keine Parteien, die die Zerstörung Gazas und das Ermorden von 15.000 Kindern unterstützt haben“, heißt es auf einer Kachel, die eifrig geteilt wird. Darunter sind die Parteien aufgezählt und durchgestrichen, die man nicht wählen könne: CDU/CSU, Grüne, FDP, SPD, AfD. Darunter noch der Hinweis: Auch die „Opportunisten“ der Linken solle man nicht wählen, die erst dann gegen Israels Krieg gewesen seien, als der Protest außerhalb der Parteien Fahrt aufgenommen habe.

Auch in den Parteien finden Auseinandersetzungen statt

Innerhalb der Linken findet auch eine heftige Auseinandersetzung statt. Henriette Quade, Landtagsabgeordnete in Sachsen-Anhalt, ist nach 24 Jahren aus der Partei ausgetreten – weil es „unerträglichen Antisemitismus“ in den eigenen Reihen gebe. Sie bezieht sich auf einen Antrag, der beim vergangenen Bundesparteitag verabschiedet wurde. Darin werde zwar treffend festgestellt, dass der Nahostkonflikt nicht am 7. Oktober 2023 mit dem Überfall der Hamas auf Israel begonnen habe, schreibt sie zur Erklärung. Aber es werde mit keinem einzigen Satz der „mörderische Antisemitismus“ erwähnt. Ein kompromissloser Kampf gegen jeden Judenhass sei ihr in und mit dieser Partei nicht möglich.

Auch in der SPD gibt es Streit mit einer prominenten Politikerin. Aydan Özoğuz hatte auf Instagram einen Beitrag der israelkritischen Organisation „Jewish Voice for Peace“ zum Krieg im Gazastreifen geteilt. Zu sehen waren ein brennendes Gebäude und der Satz „Das ist Zionismus“. Özoğuz ist nicht irgendwer, sie ist Bundestagsvizepräsidentin. Nach heftiger Kritik entschuldigte sie sich im Bundestag, es sei ein Fehler gewesen, den Beitrag zu teilen. Die Hamburger SPD aber wollte Özoğuz nicht mehr auf Platz eins der Landesliste für die Bundestagswahl setzen. Sie rutschte einen Platz nach unten, Spitzenkandidat für die Hamburger SPD ist jetzt Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt.

Am 17. Januar in Wolfsburg: Ein Sicherheitsmann versucht bei einer Wahlkampf­veranstal­tung von Scholz,  den Protest eines Mannes mit Palästinensertuch zu stoppen.
Am 17. Januar in Wolfsburg: Ein Sicherheitsmann versucht bei einer Wahlkampf­veranstal­tung von Scholz, den Protest eines Mannes mit Palästinensertuch zu stoppen.AFP

Die Gruppe „Free Palestine Wiesbaden“ scheint nur noch eine Partei teilenswert zu finden: das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). In einem Redeausschnitt spricht Wagenknecht über die angebliche Doppelmoral der USA. Auch wird geworben für eine BSW-Veranstaltung, Titel: „Waffenstopp für Israel – Frieden in Nahost“.

Wählbar sei eigentlich nur noch die Partei Mera25, sagt eine Demonstrantin vor einem Scholz-Auftritt in Berlin Ende Januar. Mera25? Noch nie gehört? Es handelt sich um eine Kleinstpartei, die es auf den Wahlzettel für die Bundestagswahl geschafft hat. Sie will nach eigener ­Aussage „linke Politik für Frieden, Solidarität und Freiheit“ machen. In einem Video vergleicht ein Mitglied die Grünen mit der AfD, wegen des Mi­grationsplans von Habeck. „Freiheit für Palästina“ ist ein Plakatmotiv, „Menschenrechte statt Deportationen“ ein anderes. Was findet die Demonstrantin in Berlin daran ­attraktiv?

Am 13. Januar in Bielefeld: Eine Frau springt auf und hält ihre rot eingefärbten Hände in die Höhe.
Am 13. Januar in Bielefeld: Eine Frau springt auf und hält ihre rot eingefärbten Hände in die Höhe.dpa

Regen nieselt auf ihr kleines Pappschild. Es ist dunkel und kalt, aber sie und vier weitere junge Frauen sind trotzdem zum Scholz-Auftritt gekommen. Zwei Poli­zisten stehen neben ihnen. Die Frauen singen mit hellen Stimmen: „Free Palestine“. Erst wollen sie nicht mit der Journalistin der F.A.Z. sprechen. Denn die Berichte der Zeitung seien ja immer einseitig und gäben nicht die ganze ­Wahrheit wieder.

Dann erzählen sie doch. Sie fänden diese Protestform auch nicht toll, sagen sie. Aber immerhin wüssten sie, dass sie etwas getan haben. Politik und Veranstalter bemühten sich, propalästinensischen Protest an den Rand zu drängen. Sie hätten beobachtet, dass die Polizei einige Demonstranten mit Palästinaflaggen rausgefischt habe, erzählt eine der Frauen.

Die Besucher der Scholz-Veranstaltung würden meist wegschauen, wenn sie die singenden Palästina-Demonstrantinnen sähen. Einer habe diskutieren wollen, dass es keine Palästinenser gebe, nur Araber. Die kleine Gruppe demonstriert nach eigener Aussage gegen die SPD, aber auch die CDU und die Grünen. Die seien schon lange keine Friedenspartei mehr. Man müsse ein Zeichen setzen, sagt eine andere Frau im Nieselregen. Über viele Menschen sage man, sie seien Spinner oder Kriegsverbrecher – und dann bekämen sie irgendwann den Friedensnobelpreis. Soll heißen: Die Zukunft wird uns recht geben.