Die FDP ist die Partei der Meinungs- und Gewissensfreiheit. Und wie alle Kollegen habe auch ich darum gerungen, wie man mit dieser von Friedrich Merz herbeigeführten Situation richtig umgeht. Wir alle wollen eine grundlegend andere Migrationspolitik. Aber soll man – auch mit Blick auf all die Folgen – dafür zum ersten Mal im Bundestag ein Gesetz beschließen, das nur mit Stimmen der AfD zustande kommt?
Ich habe Respekt davor, dass die Mehrzahl der Kollegen das anders abgewogen hat. Für mich überwog, dass eine Mehrheit aus dem Spektrum der demokratischen Mitte die unzweifelhaft nötige Wende in der Migrationspolitik erreichen muss. Genau das haben wir als FDP-Fraktion ja auch noch mit einem Vorstoß versucht, diese Woche erneut.
Ein Entschließungsantrag ist wahrlich nicht dasselbe wie ein Gesetz. Das sehen viele in der Union übrigens auch so. Hätte deren Fraktion geschlossen für Merz’ Gesetz gestimmt, hätte es eine Mehrheit gegeben. Ebenso war klar: Bei Beschluss nur mit Stimmen der AfD hätte es keine ausreichende Zustimmung unionsgeführter Länder im Bundesrat gegeben. Jemand, der kein Recht hat, hier im Land zu sein, darf aber nicht mehr kommen, einfach bleiben und gar noch schwere Straftaten begehen. Das zerreißt die Gesellschaft. Deswegen brauchen wir wirklich umfassende Gesetze, die dann auch wirksam werden. Dafür braucht es eine Mehrheit in der Mitte.
Wie soll ein gesellschaftlich befriedender Umgang damit gelingen, wenn die Parteien der Mitte derart zerstritten sind?
Es müssen sich in der Tat alle Beteiligten prüfen, was sie Konstruktives beitragen können. Wir als FDP haben dazu unseren Vorschlag für eine Lösung aus der Mitte gemacht. Aber man sieht leider, dass sich besonders die Grünen verweigern, an einem solchen Konsens mitzuwirken. Die SPD kann sich vor der Wahl offenbar nicht aus der Umklammerung durch die Grünen lösen. Umso mehr verwundert es mich übrigens, dass Friedrich Merz jetzt auf die Frage nach Koalitionspräferenzen erst mal ein Lob für die migrationspolitischen Vorschläge von Robert Habeck formuliert – die Habeck ja sogar nach Druck aus der eigenen Partei schon wieder kassieren musste.
Die Migrationswende ist mit den Grünen derzeit nicht zu machen. Daher unterstütze ich die Schlussfolgerung unseres Parteivorsitzenden und Spitzenkandidaten Christian Lindner, dass wir uns nach dieser Wahl keine Koalition mit den Grünen vorstellen können. Wir sollten das auf unserem Parteitag an diesem Wochenende so beschließen. Friedrich Merz wirkt da hingegen wankelmütig. Er hat ja kürzlich sogar betont, dass er sich Habeck weiter als Bundeswirtschaftsminister vorstellen kann . . .
. . . und warnt neuerdings davor, die FDP zu wählen. Ist das jetzt auch das Ende der Idee von einer bürgerlichen Koalition?
Das entscheidet ja nicht Friedrich Merz, sondern die Wählerinnen und Wähler. Ich darf daran erinnern, dass Deutschland in der Rezession steckt und wir neben der Migrationswende auch dringend eine Wirtschaftswende brauchen, um weitere Wohlstandsverluste zu verhindern. In beiden Fällen steht der grüne Wirtschaftsminister für den falschen Kurs.
Zwischen der FDP und einer Koalitionsfrage steht aber auch noch die Fünfprozenthürde. Muss man nicht nüchtern feststellen, dass Merz Sie deswegen jetzt abgeschrieben hat?
Merz’ Lavieren macht uns doch nur stärker und für alle klar: Wer einen Politikwechsel will, muss FDP wählen. Viele Wählerinnen und Wähler würden sich doch schwarzärgern, wenn sie die Union wählen und mit Schwarz-Grün aufwachen. Je stärker die FDP ist, desto unmöglicher wird das. In der Regierung verhält sich die Union ja gerne wie ein Chamäleon – sie nimmt dann die Farbe ihrer Koalitionspartner an. Ob die Union mit ein paar Stimmen mehr oder weniger vorne liegt, ist daher egal – sie liegt eh vorne. Jede Stimme mehr oder weniger für die FDP kann aber Parlament und Republik verändern. Und auch eine bürgerliche Parlamentsmehrheit ist nach wie vor in Reichweite.
Anlass für die vorgezogene Wahl war ein Richtungsstreit der Ampel über Antworten auf die Wirtschaftskrise. Wie konnte es passieren, dass das Thema Wirtschaft derart in den Hintergrund geraten ist?
Ich verbringe seit Wochen den Großteil meiner Zeit auf Veranstaltungen im Land. Da sprechen mich viele Menschen an, wie wichtig die Wirtschaftswende ist. Ich will, dass sich Innovationskraft, Leistungswille und Unternehmergeist wieder entfalten und nicht länger durch unnötige Bürokratie, hohe Steuern und Abgaben und einen ineffizienten Sozialstaat gebremst werden. Bei allem Ärger darüber will ich aber auch nicht, dass irgendwelche Ränder unserem Land einreden, es habe seine besten Zeiten hinter sich, um daraus Kapital zu schlagen. Wir wollen anpacken und das Land nach vorne bringen. Menschen sollen wieder darauf vertrauen, dass sie ihre Pläne und Träume verwirklichen können. Wir wollen, dass ein Aufbruch gelingt und Zuversicht schafft.
Die Sozialbeiträge für Arbeitnehmer und Arbeitgeber steigen in der kommenden Legislaturperiode wohl auf 45 Prozent des Bruttolohns. Wird es nicht ehrlicherweise Zeit, die Menschen auf Kürzungen im Sozialstaat einzustellen?
Für die Wirtschaftswende ist eine Entlastung von Steuern und Abgaben zentral. Wir liegen bei der Belastung der kleinen und mittleren Einkommen wie auch bei den Unternehmenssteuern ganz oben im internationalen Vergleich. Und wir haben das niedrigste Wachstum. Beides ist kein Zufall, sondern Ursache und Wirkung. Millionen Beschäftigte haben es seit Ende Januar auch schwarz auf weiß: Obwohl die FDP den Ausgleich der Kalten Progression durchgesetzt hat, steht auf ihren Lohnabrechnungen weniger Netto vom Brutto. Warum? Weil die Sozialbeiträge gestiegen sind. Olaf Scholz lässt dennoch „Mit Sicherheit mehr Netto“ plakatieren. Er lebt offenbar in einer anderen Welt.
Umso mehr die Frage: Wäre es ehrlicher, die Menschen auf Kürzungen im Sozialstaat einzustimmen?
Nein, denn wir können die Sozialbeiträge auch anders begrenzen. Nötig sind zum einen effizientere Strukturen im Sozialstaat. Und zum anderen braucht es eine generationengerechte Finanzierung im demographischen Wandel. Wie das gehen kann, zeigt unser Modell einer gesetzlichen Aktienrente nach schwedischem Vorbild. Und in ähnlicher Weise schlagen wir zum Beispiel auch mehr Kapitaldeckung im Bereich der Pflegeversicherung vor.
Was steht für Sie hinter dem Begriff „effizientere Strukturen“ im Sozialstaat – was unterscheidet sie von Kürzungen?
Natürlich lässt sich im Gesundheits- und Pflegewesen durch Digitalisierung, Entbürokratisierung und durch mehr ambulante statt stationäre Versorgung vieles so verbessern, dass es sowohl Beitragszahler entlastet als auch Beschäftigte. Wenn man Schwarz und Rot allein lässt, gibt es bei den Sozialversicherungen keine Reformen. Ich erinnere auch an unseren Vorschlag, das Renteneintrittsalter nach schwedischem Vorbild zu flexibilisieren. Die Erfahrung damit zeigt: Arbeitnehmer bleiben im Durchschnitt freiwillig länger im Berufsleben, wenn sie individuell darüber entscheiden und man sie nicht mit einer starren Altersgrenze lenkt.
Mehr Kapitaldeckung mag längerfristig helfen. Es wirkt aber nicht sofort. Müssen wir uns also erst mal auf Beitragssätze von 45 Prozent einstellen?
Modelle wie die Aktienrente zielen darauf, die Belastung der umlagefinanzierten Sozialversicherung durch den demographischen Wandel aufzufangen. Das ist ja die große Herausforderung, die gerade erst beginnt. Und sie wird nicht dadurch kleiner, dass andere Reformaufgaben liegen geblieben sind und nun auch noch die schlechte Wirtschaftslage auf die Einnahmen der Systeme drückt. Leider muss man ja feststellen, dass neben Rot-Grün auch die Union bisher keinen konkreten Vorschlag anzubieten hat, die Sozialbeiträge zu begrenzen.
Für die Grünen schlägt Robert Habeck aber unter anderem vor, Beiträge auf Kapitalerträge zu erheben. Zählt das nicht?
Das macht es noch schlimmer. Robert Habeck will Sparer zur Kasse bitten, um Löcher bei den Krankenkassen zu stopfen – das löst keines der Probleme, bedeutet aber tatsächlich rabiate Kürzungen für die Betroffenen. Wir wollen dagegen den Kapitalmarkt nutzen, um die Sicherungssysteme zukunftsfest zu machen. Und wir wollen gleichzeitig, dass es für die Menschen attraktiver wird, durch privates Aktiensparen eigenes Vermögen aufzubauen. Robert Habeck möchte mehr Abgaben auf Erspartes, die FDP will mehr Menschen mit Erspartem.
Habeck kann versprechen, den Beitragsanstieg sofort zu bremsen, weil man Beiträge auf Kapitalerträge schneller erheben könnte, als neu einen Kapitalstock aufzubauen. Ist er damit taktisch im Vorteil?
Im Wolkenkuckucksheim. Was er da sagt, wäre gar nicht umsetzbar – ist aber entlarvend. Am Ende müssten eben doch die Kleinsparer herangezogen werden, sonst kämen die erhofften Summen gar nicht zusammen. Und schon rechtlich wäre es ebenso wenig zulässig, Einkommen oberhalb der heutigen Beitragsbemessungsgrenze beliebig mit Beiträgen zu belasten. Beiträge sind keine Steuern, sie begründen Leistungsansprüche, und beides muss in einem plausiblen Verhältnis zueinander stehen. Habecks Vorschlag ist also entweder eine Gefahr für Kleinsparer oder absehbar verfassungswidrig.
Vor zwanzig Jahren galten hohe Lohnnebenkosten als Hauptursache von Massenarbeitslosigkeit. Spüren wir jetzt vielleicht weniger Reformdruck, weil es demographisch bedingt weniger Arbeitslose gibt?
Wer seine Lohnabrechnung von Januar vor Augen hat, sieht das vermutlich anders. Und Unternehmer, die inzwischen an allen Ecken mit Kostenproblemen kämpfen, auch.
Aber der politische Druck scheint nicht so groß zu sein. Würde sonst nicht auch im Wahlkampf mehr darüber diskutiert?
Mich sprechen die Menschen täglich mit der Frage an, ob es zukünftigen Generationen besser gehen wird. Angela Merkels Politikmodus, Politik nur in Legislaturperioden zu denken, ist genau die Ursache vieler Probleme heute. Stattdessen brauchen wir eine Politik, die endlich in Jahrzehnten denkt. Dieses Land kann das Ruder rumreißen, das haben wir schon so oft bewiesen – zuletzt Anfang der Zweitausenderjahre. Einen solchen Agenda-Moment brauchen wir auch jetzt.