Sechs Menschen auf elf Quadratmetern

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Von München dauert es mit dem Zug etwa siebzig Minuten. Zwei bis drei Umstiege sind nötig, dann ist man in Rott am Inn, Oberbayern, und steht irgendwo zwischen einer Straße, die in den Ort führt, und dem Gewerbegebiet. Dass hier Züge fahren, ist durchaus bemerkenswert, denn viel gibt es nicht. Rott hat einen Imbiss, eine Apotheke, einen Supermarkt, ein Gasthaus, eine Kirche, eine grüne Parkfläche und das Grab von Franz Josef Strauß. 2200 Menschen leben im Ortskern, etwa 2000 weitere in den umliegenden Ortschaften. Mehrere Hundert sollen dazukommen.

Neben der Straße, die in das Gewerbegebiet führt, steht ein Schild: „Wir sagen nein zu einer Sammelunterkunft für 506 Flüchtlinge in Rott“. Nicht weit davon entfernt befindet sich die riesige Gewerbehalle, die eigentlich schon bald umgebaut werden soll. Ein Bauzaun trennt das Gelände von seiner Umgebung. Keine Grünfläche, nur Beton. Hier sollen Flüchtlinge ankommen, mittlerweile ist die Rede von etwa dreihundert Menschen. Sie sollen von Rott aus verteilt werden. Eine Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber. Doch nicht alle sind damit einverstanden. Es gibt Protest.

Mitglieder der Bürgerinitiative und der Bürgermeister stehen gemeinsam vor der Gewerbehalle, in dem eine Flüchtlingsunterkunft entstehen soll
Mitglieder der Bürgerinitiative und der Bürgermeister stehen gemeinsam vor der Gewerbehalle, in dem eine Flüchtlingsunterkunft entstehen sollJana Islinger

Es sind Orte wie dieser, in denen über die Migration nach Deutschland nicht bloß anhand abstrakter Zahlen diskutiert wird. Hier geht es nicht, jedenfalls nicht vordergründig, um die Frage nach der politischen Haltung oder moralischen Ansprüchen. Das hier ist auch kein hassgetriebener Protest von Anhängern der AfD. In Rott geht es zunächst einmal um Sorgen und auch um Frustration. Ausgelöst durch eine, in den Augen vieler Rotter, fehlerhafte Migrationspolitik. Eine, die nicht bis zum Ende, nicht bis hin zur kleinen Gemeinde, gedacht ist.

Daniel Wendrock ist der Bürgermeister von Rott am Inn. Früher war er bei der SPD, heute ist er parteilos. Über dem weißen Hemd trägt er einen Janker. Wendrock gibt seit über einem Jahr immer wieder Interviews, in denen er erklärt, wie die geplante Erstaufnahmeeinrichtung seinen Ort verändern würde. Nach der Begrüßung, noch vor der ersten Frage, fängt er auch heute an, alles zu erklären.

Jana Islinger

Der Unmut in Rott beginnt am 9. Oktober 2023. Einen Tag nach der Landtagswahl in Bayern habe der Landrat ihn, den Bürgermeister, angerufen und vor vollendete Tatsachen gestellt, erzählt Wendrock. Niemand habe vorher mit ihm geredet. Die Entscheidung sei ohne Beteiligung der Gemeinde gefallen: Die Flüchtlinge, die bislang in zwei Sporthallen in umliegenden Gemeinden untergebracht werden, sollen künftig in Rott ankommen. Auch, um den Schulsport nicht weiter zu beeinträchtigen.

Kurz darauf bildet sich die Bürgerinitiative „Rott rot(t)iert“. An der ersten Demonstration im November 2023 nehmen etwa fünfhundert Menschen teil. Mehr als tausend sollen zudem einer Whatsapp-Gruppe der Bürgerinitiative beigetreten sein, so schildern es die Mitglieder. Zu diesem Zeitpunkt weiß die Gruppe noch nicht, mit welcher Ausdauer sie ihren Protest aufrechterhalten wird.

Sie wollen auch Flüchtlinge schützen

Die Initiative nennt viele Gründe gegen die Unterkunft. Solche, die – so sagen sie es – auch die Flüchtlinge schützen sollen. Etwa seien die geplanten Räume, in denen mehrere Menschen schlafen sollen, viel zu klein. Es fehle an Duschen und Toiletten. Zudem sei das Gebäude mit Quecksilber belastet, weil hier zuvor Lampen produziert wurden. Das Schild des Herstellers „Aladin“ hängt noch in einem der Fenster. Das Landratsamt Rosenheim veröffentlichte im Sommer ein Gutachten: Nur in zwei von aktuell acht Räumen werde der kritische Wert überschritten. Diese würden daher „nicht zur Beherbergung verwendet“ werden. Die Bürgerinitiative hält die Messung für fehlerhaft, sie bleibt dabei: Das kann man niemandem zumuten.

Bürgermeister Daniel Wendrock
Bürgermeister Daniel WendrockJana Islinger

Dann gibt es noch die Gründe, die praktischer Natur sind. Der Ort habe bereits jetzt Schwierigkeiten mit dem Trink- und Abwasser. Letzteres müsste zum Beispiel mit Lastwagen aus der Flüchtlingsunterkunft abtransportiert werden, um die Kläranlagen nicht zu überlasten, sagt Wendrock, der als Bürgermeister zwar nicht Teil der Initiative ist, aber eng mit ihr zusammenarbeitet.

Eine Gefahr für die Rotter selbst?

Und dann gibt es noch Gründe, die weniger greifbar sind und sich nicht an konkreten Zahlen festmachen lassen. Für diese Gründe gibt es kein einfaches „Wenn-dann“-Szenario. Sie stützen sich auf Befürchtungen, Sorgen und Ängste. Eine davon lautet: Die unmenschliche Unterbringung von Flüchtlingen könnte eine Gefahr für die Rotter selbst werden.

Eine dichte Nebeldecke legt sich auf Rott. Nicht mal der Kirchturm ist vom Gewerbegebiet aus zu sehen. Heike Bachert öffnet das Tor zu ihrem Grundstück. Auch sie ist Teil des Protests – und Nachbarin. Ihre Halle, die Bachert an einen Fischhändler vermietet, liegt direkt gegenüber von der geplanten Unterkunft. Seitdem die Pläne auf dem Tisch liegen, suche sie vergeblich nach einem Mieter für den leer stehenden Teil des Gebäudes. Aber es sind weniger finanzielle Sorgen, die Bachert umtreiben. Sie sagt: „Wenn man da Hunderte Rotter zusammenpfercht, dann werden die auch irgendwann aggressiv. Das hat nichts mit der Herkunft zu tun.“

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Bachert sagt, es gebe kein Sicherheitskonzept für die Unterkunft. Und die Polizei brauche zu lange, um im Notfall in Rott am Inn zu sein. Mit dem Notfall meint sie Gewalt, die von den Flüchtlingen ausgehen könnte. „Man kann uns nicht schützen.“ Es seien zu viele Asylbewerber für eine ländliche Region wie diese. Für einen Ort wie Rott.

Eine Landstraße führt von dem Gewerbegebiet in den Ort. Etwa zwei Kilometer, teils steil bergauf. Dann stehen dort, anders als im Gewerbegebiet, bayerische Häuser. Mit ihren großen Balkonen und den grünen Fensterläden aus Holz. Davor parken nicht selten Geländewagen. Und nicht selten haben sich ihre Besitzer für ein bestimmtes Kennzeichen entschieden: RO-TT. Lokalpa­triotismus an der Stoßstange. Eine eingeschworene Gemeinschaft. Für Menschen, die hier leben, mag das schön sein. Für Menschen, die dazukommen, kann es aber schwierig werden. Dass sich Hunderte Flüchtlinge, die nur für wenige Monate in einer Massenunterkunft leben, in die kleine Dorfgemeinschaft einfügen können, ist schwer vorstellbar.

Heike Bachert steht auf ihrem Grundstück, das an das Gebäude grenzt in dem die Unterkunft entstehen soll.
Heike Bachert steht auf ihrem Grundstück, das an das Gebäude grenzt in dem die Unterkunft entstehen soll.Jana Islinger

Anders, sagt Bachert, sei es bei den Flüchtlingen, die bereits seit Jahren in Rott leben, in Häusern und Wohnungen. Etwa hundert hat die Gemeinde bereits aufgenommen. Diese Flüchtlinge würden sie mit „Grüß Gott“ begrüßen, erzählt Bachert. „So weit würde ich jetzt selbst nicht gehen.“ Sie ist selbst Zugezogene, kommt ursprünglich nicht aus Bayern. „Ich antworte dann mit ‚Servus‘.“ Probleme gebe es jedenfalls keine.

Bachert und drei weitere Mitglieder der Bürgerinitiative treffen sich heute in dem Gewerbegebiet. Auch der Bürgermeister ist dabei. Gemeinsam setzen sie sich an einen Tisch, in einer der Gewerbehallen, direkt gegenüber von der geplanten Unterkunft. Schon oft haben sie über dieses Thema gesprochen. Immer wieder seufzen die Rotter, bevor sie schließlich zur Antwort ansetzen. Die vergangenen Monate waren anstrengend. Günther Hein erzählt, er verbringe seit über 15 Monaten fünf Stunden am Tag mit der Entwicklung eines Modells zur paritätischen Verteilung. Immer wieder betonen sie hier, es gehe ihnen ausschließlich um eine gerechte Aufteilung der Flüchtlinge auf alle Kommunen. Nicht Hunderte in einem Ort, sondern zwanzig bis dreißig Menschen, die dauerhaft bleiben und dezentral untergebracht werden. Also nicht in Massenunterkünften, in denen die weitere Verteilung im Vordergrund steht. Nicht die Integration.

Im Ortskern von Rott am Inn
Im Ortskern von Rott am InnJana Islinger

Integration beginne am ersten Tag

Integration fange ja nicht erst nach drei Monaten an, sagt Günther Heins Sohn Korbinian. „Man beginnt ja eigentlich schon am ersten Tag, wenn der Mensch da ist.“ Er sagt auch, die Integration beginne bei der Akzeptanz in der Bevölkerung. In Rott werde das bei etwa 300 Flüchtlingen eine große Herausforderung.

Die Initiative hatte auch einen anderen Standort in Rott vorgeschlagen: besser angebunden, mit mehr Platz für einzelne Personen. Die Regierung von Oberbayern stufte diesen Vorschlag jedoch, vor allem aus wirtschaftlichen Gründen, als nicht geeignet ein. Im Dezember erteilte das Landratsamt die Baugenehmigung für die Erstaufnahmeeinrichtung im Gewerbegebiet. Die Unterkunft sei nun mal notwendig, erklärt das Amt auf seiner Website und appelliert an die Solidarität mit Menschen, die vor Krieg und Verfolgung flüchten. Es sei schwer, andere Standorte zu finden, in denen eine schnelle Nutzung möglich ist. Eine Begründung, die in Rott nicht besänftigt. Die Gemeinde hat eine Klage eingereicht.

Sechs Menschen auf elf Quadratmetern

Auf dem Tisch der Bürgerinitiative liegt ein laminiertes Foto von Markus Söder mit einem Zitat des Ministerpräsidenten: „Das geht in Rott ja gar nicht.“ Hein hat noch mehr dieser Fotos. Sie sind Mahnungen an CSU-Politiker, von denen die Initiative sich im Stich gelassen fühlt. Ausgerechnet von der CSU, in einem bayerischen Ort, in dem Franz Josef Strauß zu Lebzeiten noch Ehrenbürger war. Trotz allem bemühen sich die Rotter um einen sachlichen Ton. So ist es auch bei Korbinian Hein. Hein ist schon mehrfach in den Medien aufgetreten. Immer wieder betont er, dass es in Rott nicht um eine generelle Ablehnung von Flüchtlingen gehe, sondern um die Bedingungen ihrer Unterbringung. Sechs Menschen auf elf Quadratmetern – das sei menschenunwürdig, führe zwangsläufig zu Konflikten und psychischen Belastungen für die Bewohner.

Hier soll die geplante Unterkunft entstehen. Mitten im Gewerbegebiet.
Hier soll die geplante Unterkunft entstehen. Mitten im Gewerbegebiet.Jana Islinger

Wenn Hein redet, schließt er die Augen. Er wählt seine Worte mit Bedacht. Hier hat man Angst davor, falsch verstanden zu werden. In Verbindung mit rechtsextremem Gedankengut gebracht zu werden. Mit alldem wollen sie hier nichts zu tun haben.

Dann passiert etwas, wovor man auch hier Angst hat. Aschaffenburg. Während die Rotter in der Gewerbehalle zusammensitzen, greift ein Afghane mit einem Messer eine Kindergartengruppe an. Er tötet ein zweijähriges Kind marokkanischer Herkunft und einen Mann, der ihn überwältigen wollte.

Am Tag darauf meldet sich Heike Bachert per Mail. Sie will über Aschaffenburg reden. Und darüber, welche Folgen die Tat für Rott und den Protest hat. Die Situation im Ort habe sich nun weiter verschärft, sagt Bachert. Sie erzählt von einem Treffen, das die Initiative am Abend zuvor einberufen hat. „Wir haben noch lange zusammengesessen“, sagt sie am Telefon. „Das muss jetzt sofort stoppen.“ Bachert erzählt auch von Brandbriefen. An den Landrat und an den bayerischen Ministerpräsidenten mit der Bitte, die Pläne sofort zu stoppen: „Handeln Sie Herr Söder!!!!!“ Bachert beschreibt die Tat in Aschaffenburg als Kipppunkt. Als Tropfen, der das Fass auch in Rott zum Überlaufen gebracht hat. Sie fühlt sich nicht genug geschützt. Der Protest in Rott am Inn, er geht weiter.