Wie sich AfD, BSW und Linke im Wahlkampf verbrüdern

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Er ist früh aufgestanden, um ihnen allen den Stinkefinger zu zeigen, dem Scholz, dem Kretschmer, dem ganzen „Politikergesocks“, das ins Gefängnis gehört. So sieht er das. Deshalb muss man den älteren Mann, weißer Rauschebart, blaues Transparent mit der Aufschrift „Nie wieder Krieg mit Russland“, nur einmal antippen, schon quellen die Beschimpfungen aus ihm heraus: „Kriegstreiber, Marionetten, Lügner!“

Am anderen Ende des Transparents steht einer, der etwas zurückhaltender ist, aber nicht minder klar in seiner Analyse: „Wieder eine alte deutsche Tradition im Arsch!“ Die deutsche Tradition und der Frieden, das sind die Pole, zwischen denen die Demonstranten an diesem Morgen vor dem Alstom-Werk in Görlitz pendeln. Viele sind es nicht, an die 100 höchstens. Bemerkenswert wenig angesichts der doppelten Identitätsfrage, um die es hier geht. In diesem Werk wurde der Doppelstockwagen erfunden, seit 1935 wird er dort gebaut. Wenn man irgendwo auf der Welt eine Bahn mit solchen Wagen sieht, stammen sie mit großer Sicherheit von hier.

„Putin wehrt sich doch nur“

Die Görlitzer sind mächtig stolz auf ihren Waggonbau, auch wenn es dem in den letzten Jahren wirtschaftlich immer schlechter ging. Auch für den Alstom-Konzern rentiert sich der Standort nicht mehr, deshalb wird das Werk jetzt abgewickelt. Schon das rührt für viele Görlitzer an ihre Identität. Noch mehr rührt daran, dass der Standort vom Rüstungsbauer KNDS übernommen wird. Von 2026 an sollen hier Panzerteile gebaut werden statt Doppelstockwagen, der Kanzler selbst hat sich für den Verkauf starkgemacht.

Auch deshalb hat Scholz sich an diesem Morgen persönlich angekündigt, um den Deal zusammen mit Ministerpräsident Michael Kretschmer und Industrievertretern zu verkünden: Görlitz steht nicht nur für eine kontroverse Industriepolitik, es ist jetzt ein Symbol für die Zeitenwende, die der Kanzler 2022 nach Putins Überfall auf die Ukraine ausgerufen hat. Görlitz ist der Testfall, ob die Deutschen es mit dieser Zeitenwende ernst meinen. Ob sie Europas Sicherheit notfalls auch mit Panzern aus der eigenen Stadt verteidigen.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Für den Mann mit Rauschebart, der vor dem Werkstor schimpfend auf die Kanzler-Kolonne wartet, ist die Sache klar: Er ist dagegen, gegen die Ukrainehilfe, gegen die Panzer, gegen „immer mehr Waffen, Waffen, Waffen“. Man müsse das Wort Krieg verbieten, findet er, und wenn es nach ihm ginge, würde man die Lieferungen an die Ukraine sofort stoppen und Frieden schließen mit Moskau! Und wenn Putin das gar nicht will? Wenn er danach irgendwann im Baltikum angreift, was dann? Der Mann lacht hämisch. „Was für ein Quatsch, für euch ist Putin an allem schuld, dabei wehrt der sich doch nur!“ Der Mann mit Rauschebart ist AfD-Fan, den anderen Parteien vertraut er schon lange nicht mehr, seit der „Scheiß-Impferei“ in der Pandemie. Gegen die hat er damals auch demons­triert. Mit derselben Wut im Bauch.

Alle reden nur noch über Migration

Ein paar Meter weiter steht das BSW, das zu der Demonstration aufgerufen hat, mit Wagenknechts Plakat „Wir geben Frieden wieder eine Heimat“. Eigentlich wollte Wagenknecht mit solchen Parolen den Wahlkampf aufmischen und die anderen Parteien vor sich hertreiben. Jetzt klebt ihr BSW bei vier Prozent fest und muss fürchten, doch nicht in den Bundestag einzuziehen. Das Thema Frieden, von dem viele dachten, es werde den Wahlkampf bestimmen, ist in den Hintergrund gerückt, weil alle nur noch über Migration reden.

Außerdem wird es beim Frieden schnell unübersichtlich, vor allem hier in Sachsen. Schräg gegenüber vom BSW binden ein paar Leute vom „Bündnis Oberlausitz“ ein Transparent an einen Zaun, bevor die Polizei sie weiter die Straße hoch schickt – „Kriegstreiber an die Ostfront!“ steht darauf. Dazwischen: christliche Friedensbewegte mit Friedenstauben-Umhang, neugierige Passanten und Sympathisanten der vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Partei „Freie Sachsen“, die enge Verbindungen zum „Bündnis Oberlausitz“ hat und mit ihm zusammen als Gruppe im Bautzener Kreistag sitzt.

Ein Panzerfahrzeug im Alstom-Werk in Görlitz. Bisher werden in der Waggonhalle noch Doppelstockwagen gebaut.
Ein Panzerfahrzeug im Alstom-Werk in Görlitz. Bisher werden in der Waggonhalle noch Doppelstockwagen gebaut.Oliver Georgi

Vorhin hat die AfD beim BSW gefragt, ob sie ihr Plakat auf dieselbe Wiese stellen dürfe. Macht nur, kein Problem. „Kann man denen ja nicht verbieten“, sagt der sächsische BSW-Landtagsabgeordnete Jens Hentschel-Thöricht, der hier steht, um etwas gegen das „Kriegsgetöse“ zu unternehmen. Im November ist er als Redner bei einer Kundgebung aufgetreten, zu der das „Bündnis Oberlausitz“ wegen des drohenden Werkverkaufs aufgerufen hatte. Im Namen des Friedens standen Rechtsextreme einträchtig neben harmlosen Weltverbesserern, Verschwörungstheoretikern, Linken und BSW-Leuten. Danach distanzierte sich das BSW von der Veranstaltung. Auch Hentschel-Thöricht sagt mittlerweile, auf so einer Demonstration würde er nicht mehr reden.

Wagenknecht ist ihm zu national-konservativ

Trotzdem hat er kein Problem damit, heute wieder neben „Freien Sachsen“ vor dem Werk zu stehen. Leute wie er sagen: Man kann nichts für die, die mitdemonstrieren, das ist eben eine große Koalition für den Frieden. Andere sagen: Das ist Putins Querfront. Schon seit Jahren marschiert sie jede Woche bei den „Montagsdemos“ in Görlitz auf – erst gegen die Corona-Maßnahmen, später gegen den Krieg und gegen Flüchtlinge.

Der Kitt dieser Querfront ist das Misstrauen gegen den Staat, die Eliten und die „Altparteien“. In ihr mischen sich nicht nur rechts und links, sondern auch neue Kriegsangst mit altem Antiamerikanismus, und das zu einem schwer verdaulichen Brei. Das zeigt sich auch bei Gerhard Emil Fuchs-Kittowski, der am Dienstag mit ein paar Linken im Städtchen Löbau bei Görlitz steht und ununterbrochen redet, sodass man kaum dazwischenkommt. Fuchs-Kittowski stammt aus Brandenburg und ist Vorsitzender des Deutschen Friedensrats, eines überparteilichen Vereins, der sich für Frieden und Völkerverständigung einsetzt. Ein „radikaler Pazifist“ mit Wurzeln in der christlichen Friedensbewegung, der jetzt als Parteiloser für die Linke in den Bundestag einziehen will.

Neulich rechtfertigte Fuchs-Kittowski in einem Interview mit dem russischen Propagandasender „Russia Today“ Putins Angriffskrieg. Auch jetzt, während seine paar Mitstreiter vergeblich versuchen, vorbeihastende Passanten an ihren Stand zu bugsieren, sagt der Historiker Sätze, die aus der Pressestelle des Kremls stammen könnten. Der Aggressor? Nicht Putin, sondern der Westen, weil die NATO Russland bedrohe. Die Maidan-Proteste? Ein „geplanter Umsturz“ durch die Amerikaner, die sich überall auf der Welt „genehme Regierungen“ verschaffen wollten. Das klingt ein bisschen nach Sahra Wagenknecht. Aber die ist Fuchs-Kittowski zu national-konservativ, sonst hätte er vielleicht auch für sie kandidiert. An Fuchs-Kittowski zeigt sich auch die ganz eigene Dialektik der „Friedensbewegung“: Er ist gegen Panzerteile aus Görlitz, weil er nicht glaubt, dass Putin Deutschland angreifen würde. Er ist aber auch gegen Panzerteile, weil er eine „Kriegsfabrik“ an der polnischen Grenze für eine „Kampfansage an Putin“ hält, welche die Stadt zum Kriegsziel machen könnte. Was denn nun?

„Die wollen Frieden um jeden Preis“

Monique Hänel kann bei solchen Sätzen ohnehin nur wütend schnauben. Sie ist die Görlitzer Grünen-Direktkandidatin für den Bundestag, eine junge überlegte Frau, die sagt: „Viele haben immer noch nicht begriffen, wie ernst die Bedrohung durch Putin ist.“ In ihrem Büro erzählt sie, wie groß die Solidarität der Görlitzer mit der Ukraine in den ersten Kriegsmonaten war, als sie auch in der Grünen-Zentrale Flüchtlinge aufnahmen. Und wie schnell die Stimmung im Herbst darauf kippte, als das Gas knapp zu werden drohte und plötzlich Drohanrufe und Morddrohungen kamen. Als ihre Parteifreunde angespuckt wurden, weil sie sich für weitere Waffenlieferungen aussprachen.

Auch Hänel schmerzt es, dass in Görlitz bald Panzerteile gebaut werden sollen, und sie macht sich Sorgen wegen der Arbeitsplätze. Auch wenn KNDS 580 der noch 700 Mitarbeiter weiterbeschäftigen will. Aber man müsse sich der Realität stellen, findet die Grüne. „Es gibt den Aggressor Putin, der uns bedroht, und eine Bundeswehr, die nicht verteidigungsfähig ist. Wir müssen verteidigungstüchtig werden.“ Für diese Haltung werde man in der Region immer häufiger als Kriegstreiber beschimpft. „Man kann mit denen nicht mehr argumentieren, die wollen Frieden um jeden Preis, weil sie eine Heidenangst haben.“

Kanzler Olaf Scholz (SPD, r.) mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU, l.) und Florian Hohenwarter (Mitte) aus der KNDS-Geschäftsführung
Kanzler Olaf Scholz (SPD, r.) mit dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU, l.) und Florian Hohenwarter (Mitte) aus der KNDS-Geschäftsführungdpa

Hänel sieht aber noch einen anderen Grund, warum die simplen Friedensformeln von Wagenknecht & Co bei vielen Ostdeutschen verfangen. Die Älteren seien in der DDR im Geiste des sowjetischen Antiamerikanismus sozialisiert worden und sähen die Russen noch immer als „Brudervolk“. „Dieser Riss geht mitten durch viele Familien, die Kinder verstehen ihre Eltern nicht mehr.“ Viele aus der Elterngeneration hätten den Kalten Krieg als „permanente Bedrohung“ erlebt, sagt Hänel. „Das wollen sie nicht noch einmal erleben, deshalb fordern sie Frieden.“

Dieser Riss geht auch durch Parteien. Als die Kanzlerkolonne am Mittwochmorgen auf das Alstom-Werk zurollt, ist nicht nur der Mann mit Rauschebart wütend, sondern auch Harald Prause-Kosubek, der Görlitzer SPD-Kreisvorsitzende, Direktkandidat für die Bundestagswahl, sehr linker Parteiflügel, Pazifist aus Überzeugung. Fraktionschef Rolf Mützenich ist sein „Hero“, Verteidigungsminister Boris Pistorius, der Deutschland „kriegstüchtig“ machen will, eher nicht.

„Es zerreißt einen, als Pazifist“

Als SPD-Kreisvorsitzender und Spitzenkandidat ist Prause-Kosubek beim Kanzlerbesuch eingeladen, aber er geht nur widerwillig hin. Panzer, aus Görlitz? Das tut ihm, dem Kriegsdienstverweigerer, in der Seele weh – selbst, wenn dadurch Arbeitsplätze erhalten werden. Den „Weltpolizisten USA“ mit seinen „Narrativen aus dem Kalten Krieg“ sieht Prause-Kosubek kritisch, und auch eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent, wie Trump sie fordert. „Das wäre genauso Wahnsinn wie der NATO-Doppelbeschluss, der in den 1980ern die SPD zerrissen hat.“ Er werde seine Grundwerte jedenfalls nicht verraten und sich gegen „diese gefährliche Kriegslogik“ stemmen, die auch in der SPD um sich greife, sagt Prause-Kosubek.

Der SPD-Mann ist dem Linken Fuchs-Kittowski in vielem näher als seinem Kanzler, für den er im Waggonwerk brav klatscht. Aber im Gegensatz zu Fuchs-Kittowski sieht er das Dilemma, auch wenn er dafür keine Lösung hat. Es zerreiße einen, als Pazifist, sagt er dann, und: „Du willst keine Waffen liefern, und dann steht in Görlitz eine ukrainische Mutter mit zwei Kindern vor dir. Der kannst du doch nicht ins Gesicht sagen, dass du keine Waffen mehr lieferst.“

„Gefühlsspagat“ hat der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu das tags zuvor genannt. Viele Görlitzer haben Angst und sehen doch, dass Schwäche nicht weiterhilft. Sie wollen Frieden und müssen sich doch für den Krieg rüsten. Deutschland habe bisher erwartet, dass der Frieden von anderen Ländern gesichert werde, sagt Ursu. Jetzt müsse es selbst etwas dafür tun. Ursu sieht das als Kommunalpolitiker pragmatisch: Lieber ein Werk von KNDS als gar keins. Lieber Arbeitsplätze als Arbeitslose. „Wenn in Görlitz keine Panzer gebaut werden, dann werden sie woanders gebaut. Da sollte man sich nichts vormachen.“

In der Waggonhalle hat jetzt die Pressekonferenz begonnen, es spricht Ministerpräsident Kretschmer. „Ja, es sind Waffen“, sagt er. „Aber das ist nicht schwierig, sondern die Grundlage für alles. Für unsere Sicherheit und Freiheit. Was hier in Görlitz gemacht wird, ist elementar für unser ganzes Land.“ Danach redet der Kanzler, mal wieder so leise, dass die Techniker sein Mikrofon lauter stellen müssen. „Wir wollen unsere Bundeswehr so aufstellen, dass sie Deutschland und unser Bündnis auch künftig gegen alle Bedrohungen verteidigen kann“, sagt er und: Man solle nichts auf die Leute geben, die Angst vor dem Werk schürten. Das seien dieselben, die Putins Krieg verharmlosten und kein Problem damit hätten, dass russische Raketen Frauen, Männer und Kinder töteten. „Das passt alles nicht zusammen.“

Am Ende lassen sich Scholz und Kretschmer mit den Industrievertretern vor einem Panzer fotografieren. Er steht vor den halb fertigen Stahlgerippen der Doppelstockwagen in der riesigen Halle. Die Stimmung ist gelöst, Tenor: Görlitz hat ein großes industriepolitisches Pro­blem weniger, und gleich gibt es Schnittchen. Draußen vor dem Tor hat sich die Friedensdemonstration längst aufgelöst. Auch der Mann mit Rauschebart ist weg. Hört ja eh niemand auf ihn.