AfD-Wahlkampf für Menschen mit Migrationshintergrund: Funktioniert das?

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An der Endhaltestelle Schönau in Mannheim wirbt das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) mit einem großen Plakat an einem Flachbau, gleich neben dem türkischen Akin-Supermarkt und dem Selman Döner. „Aber die alten Parteien sind taub“, steht auf dem Plakat. In dem Stadtbezirk im Norden Mannheims haben 40 Prozent der Einwohner einen Migrationshintergrund, bei der Landtagswahl 2021 wurde die AfD hier – allerdings bei einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung – mit 30 Prozent die mit Abstand stärkste Partei.

Sonja schleppt zwei Einkaufstaschen nach Hause. Die 39 Jahre alte alleinerziehende Mutter, die nur ihren Vornamen nennen will, arbeitet im benachbarten Pharmawerk von Roche. Über ihre Wahlabsichten zu Bundestagswahl spricht sie gern, auch weil ihre Unzufriedenheit groß ist. „Früher habe ich SPD und CDU gewählt, aber das sind Vollpfosten-Parteien. Ich finde, dass nur die AfD sieht, was in Deutschland tatsächlich passiert“, sagt sie. Die Tochter eines türkischen Einwanderers und einer Deutschen ist fest entschlossen, die in Teilen rechtsextremistische Partei zu wählen. Davon könnten sie auch Friedrich Merz und dessen Anträge im Bundestag nicht abhalten. „Der wollte doch nur dem Esel Zucker geben.“

„So was gab es früher in Deutschland nicht“

Sonja nennt dann viele Gründe, warum sie als Arbeiterin der AfD ihre Stimme geben werde: „Ich hoffe, dass die was an den Steuern und den Strompreisen machen. Die anderen Parteien bauen für Milliarden Windräder, und für die Schulen und die Kindergärten ist kein Geld da.“ Die Mehrzahl ihrer Kollegen im Roche-Werk stamme aus Einwandererfamilien. Sonja schätzt, dass die AfD im Werk 40 Prozent bekommen werde. Dann erzählt sie noch eine Geschichte aus der vergangenen Woche: Ihre zwölfjährige Tochter sei von einem syrischen Flüchtling an einer Bushaltestelle mit „Hallo Baby“ angemacht worden. „So was gab es doch früher in Deutschland nicht.“

An der kleinen Ladenzeile hinter der Straßenbahnhaltestelle lungern drei junge Männer herum, die darauf warten, dass ein Burger-Imbiss endlich öffnet. Richtig gut informiert über die Bundestagswahl sind sie noch nicht. „Will die CDU jetzt nicht irgendwie ein Bündnis mit der AfD machen?“, fragt einer von ihnen, der aus Afghanistan stammt. Sein Kumpel sagt: „Ey, die von der AfD, das sind doch Hurensöhne, die wollen Mi­granten abschieben.“

SonntagsfrageWie stehen die Umfragen vor der Bundestagswahl?

Mannheim wird, wenn es um die Pro­bleme mit der irregulären Migration in Deutschland geht, in einem Atemzug mit Aschaffenburg, Magdeburg oder Solingen genannt. Grund ist der Mord an Rouven Laur, einem 29 Jahre alten Polizisten, der am 2. Juni 2024 von dem 25 Jahre alten Afghanen Sulaiman A. auf dem Mannheimer Marktplatz erstochen wurde. In dieser Woche beginnt der Strafprozess gegen den mutmaßlichen Täter, einen Anhänger der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS), vor dem Oberlandesgericht in Stuttgart. Die Tat erschüttert Mannheim bis heute, vor allem die türkischstämmigen Deutschen, die zu Beginn der Sechzigerjahre in die Indus­triestadt kamen und heute in dritter Generation hier leben.

Ergün Demirel betreibt im Quartier K2 in einem Eckhaus ein klassisches türkisches Juweliergeschäft. Er sitzt hinter einem großen Glaskasten mit Eheringen und Brautschmuck. Der 60 Jahre alte Mann, der eigentlich anders heißt, ist deutscher Staatsbürger und will in jedem Fall zur Wahl gehen. „Ich bin 40 Jahre in Deutschland, aber noch nie war es so schlimm, es sind zu viele Afghanen, Syrer und Bulgaren hier in der Stadt. Vor zwanzig Jahren war das ein völlig anderes Leben.“ Der Goldhändler fühlt sich in der Straße nahe dem Marktplatz, auf dem Rouven Laur ermordet wurde, nicht mehr sicher. „Im vergangenen Jahr ist zweimal in mein Geschäft eingebrochen worden.“

„Diese Flüchtlinge machen sich hier breit“

Er sei nicht radikal, aber er überlege sich, dieses Mal die AfD zu wählen. Da mischt sich seine Frau ein: „Wenn du sagst, dass du AfD wählst, dann machst du das auch, schick mir dann ein Bild aus der Wahlkabine“, sagt sie. Es klingt fast wie eine Anweisung. Die 40 Jahre alte Polin, die als kaufmännische Assistentin arbeitet, ist keine deutsche Staatsbürgerin. Dürfte sie wählen, würde sie auch für die AfD stimmen: „Diese Flüchtlinge machen sich hier breit, die passen sich nicht an, so wie ich es getan habe, die arbeiten nicht und zahlen keine Steuern, so wie ich es mache.“ Ihre Tochter sei elf Jahre alt und habe Angst, wenn sie sich hier in der Mannheimer Innenstadt bewege. Das deutsche Fernsehen sei „Bullshit“ – sie und ihr Mann informierten sich über Politik nur in den sozialen Medien.

Auf der anderen Straßenseite ist ein Brautmodengeschäft. Für die Inhaberin ist die AfD keine Option bei der Bundestagswahl, denn die sei eine extremistische Partei. Die Lage in der Stadt beurteilt sie aber wie viele andere türkischstämmige Deutsche in Mannheim: „Ich lebe seit 1995 in Deutschland, arbeite und zahle Steuern. Und jetzt gibt es so viele Menschen hier, vor allem arabische Männer, die sich nicht benehmen und an keine Regel halten.“ Sie verstehe nicht, warum der deutsche Staat so schwach sei. „Warum können wir Afghanen, die hier schlimme Dinge tun, nicht nach Afghanistan abschieben?“

Laut Statistischem Bundesamt gibt es derzeit 7,1 Millionen Wahlberechtigte mit Migrationshintergrund in Deutschland, und ihr Anteil steigt. 2,5 bis drei Millionen davon haben Wurzeln in der Türkei. Einer im Januar veröffentlichten Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung zufolge könnten sich immerhin 19,7 Prozent der Befragten aus der Herkunftsregion Naher Osten, Nordafrika und Türkei vorstellen, die AfD zu wählen.

„Hast du was gegen Ausländer?“

Dass sich auch Migranten von der Partei angesprochen fühlen, ist kein neues Phänomen. Mitte 2023 gründete sich in Hessen der Verein „Mit Migrationshintergrund für Deutschland“. Eigenen Angaben zufolge hat er momentan knapp 160 Mitglieder. Er will zwar „keine Interessenvertretung für Menschen mit Mi­grationshintergrund innerhalb der AfD“ sein, richtet sich aber gezielt an Menschen mit Migrationshintergrund, die sich der AfD „programmatisch verbunden fühlen“.

Nicht nur der Verein wirbt um die Stimmen von Menschen mit Migrationshintergrund, auch die AfD selbst. Allen voran der Europaabgeordnete Maximilian Krah, der in mehreren Videos auf Tiktok und der Plattform X gezielt Türkeistämmige anspricht. Darin lobt er den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und die Türkei, die schon immer ein Freund Deutschlands gewesen sei. Ende November veröffentlichte er einen Clip, der wie eine Mutprobe wirken soll. Krah geht in einen Barbershop und beantwortet mit einer Klinge am Hals Fragen zu seinen politischen Einstellungen.

„Islamismus stoppen“: AfD-Demo auf dem Mannheimer Marktplatz
„Islamismus stoppen“: AfD-Demo auf dem Mannheimer MarktplatzPicture Alliance

Mit markigen Sprüchen beginnt das Video: „Echte Männer haben keine Angst vor Messern, auch nicht in Solingen“ und „Es gibt Leute, die müssen raus!“. Neben ihm steht der Barbier mit langem schwarzen Bart und erhitzt gerade das Rasiermesser. Ein Sprecher, der nicht zu sehen ist, stellt Fragen. „Hast du was gegen Ausländer?“, lautet die erste. Krah antwortet, er habe etwas gegen diejenigen der acht Millionen Ausländer, die seit 2013 gekommen seien und immer noch nicht arbeiteten. Seine Haltung zum Islam beschreibt er so: „Ich mag Leute, die eine Religion haben. Aber ich mag es nicht, wenn man anfängt, seine Religion dazu zu benutzen, um andere Leute in die Luft zu sprengen.“

Für diese Showeinlage fuhr der Direktkandidat des sächsischen Wahlkreises 162 eigens nach Solingen. Dort, in Nordrhein-Westfalen, stellte er sich dem vermeintlichen Messermann. Der ist gar nicht so gefährlich, wie in dem Clip zunächst suggeriert wird. Der Barbier ist selbst AfD-Wähler, wie Krah später in einem Interview zugab. Der Abgeordnete hatte im vergangenen Jahr für mehrere Skandale gesorgt. So soll ein Mitarbeiter von ihm für China spioniert haben und ein anderer einem mutmaßlich russischen Agenten Zugang zum Europaparlament verschafft haben. Infolge seiner Behauptung, nicht alle Mitglieder der SS seien Verbrecher gewesen, schloss die rechtspopulistische Fraktion Identität und Demokratie die AfD aus.

„Gesichert rechtsextrem“

Der Verfassungsschutz stuft Äußerungen Krahs als völkisch-nationalistisch, islamfeindlich und verfassungsfeindlich ein. Teile der Partei gelten demnach als „gesichert rechtsextrem“. Dennoch wirbt die Partei immer wieder um Menschen mit Migrationshintergrund. Im Bundestagswahlkampf 2021 etwa stand auf einem Wahlplakat des Berliner Direktkandidaten Marcel Goldhammer der Spruch „Atatürk würde AfD wählen“. Damit bezog sich Goldhammer auf Mustafa Kemal Atatürk, der als Gründer der modernen Türkei gilt. Kritik daran kam unter anderem vom deutschen Ableger der CHP, also der Partei, die Atatürk einst gegründet hatte. Im Europawahlkampf vergangenes Jahr sagte AfD-Chef Tino Chrupalla, auch Menschen mit Migrationshintergrund gehörten zu Deutschland. „Sie gehören auch zu unserer Partei. Wir können nur gemeinsam Wahlen gewinnen.“

Wie passt das zusammen? Der Politikwissenschaftler Özgur Özvatan sagt, die AfD – ebenso wie das BSW – versuchten im Wahlkampf, Migrantengenerationen gegeneinander auszuspielen. „Wir wissen aus der Forschung, dass es immer einen Anteil der früheren Generationen gibt, der selbst migrationsskeptisch ist.“ Die islamkritische und muslimfeindliche AfD spreche etwa die Gastarbeitergeneration an, indem sie davor warnt, dass die Neuankömmlinge das kaputt machten, was die Gastarbeiter aufgebaut haben. Zudem gebe es Menschen, die zwar als Muslime wahrgenommen werden, aber islamkritisch seien. Auch sie seien für Narrative der AfD empfänglich.

Tayfun Tok ist Abgeordneter für die Grünen im baden-württembergischen Landtag. Er spürt bei seiner Arbeit im Wahlkreis, dass türkische Einwanderer keine natürliche Bindung mehr zu Grünen und SPD haben: „Heute landen Menschen mit türkischen Wurzeln nicht mehr automatisch bei den linken Parteien, sondern ein Selbständiger oder Unternehmer, der türkische Wurzeln hat, schaut einfach nur, wer seine Interessen am besten vertritt“, sagt Tok. Das sei eigentlich eine gute Entwicklung und ein logischer Schritt der Integration. „Auch kulturell fremdeln türkischstämmige Einwanderer eher mit linken Positionen wie dem Gendern. Denn sie schätzen Ordnung, Sicherheit und respektieren den Staat und Institutionen“, sagt der aus einer Gastarbeiterfamilie stammende Abgeordnete.

Es gebe in der türkischen Community viel Unmut über die Migrationspolitik: „Die türkischen Gastarbeiter der ersten Generation kamen ja nicht als Flüchtlinge, sondern um zu arbeiten. Deshalb verstehen viele in der türkischen Community nicht, weshalb Flüchtlinge nicht schneller in Arbeit gebracht werden. Einerseits finden sie es irritierend, wie Flüchtlinge mit Samthandschuhen angefasst werden. Andererseits fürchten sie, sofern sich der Rechtsruck und der Aufstieg der AfD weiter fortsetzen, selbst Opfer der AfD zu werden, und sie fühlen sich auch von der Islamfeindlichkeit der Partei abgestoßen.“

Ähnlich sieht es auch Melis Sekman. Die ehemalige grüne Bundestagsabgeordnete, die Mitte vergangenen Jahres zur CDU übergetreten ist, sagt, es gäbe viele türkischstämmige Deutsche, gerade in Mannheim, die unzufrieden mit der Mi­grationspolitik von SPD und Grünen seien, einige würden deshalb sicher auch die AfD wählen. In jedem Fall würden fast alle türkischstämmigen Deutschen erwarten, dass die nächste Regierung die irreguläre Migration in den Griff bekomme. „Das höre ich oft von Türkischstämmigen, die hier dreißig oder vierzig Jahre leben und sehr viel geleistet haben. Diese Menschen sind gesellschaftlich und politisch in der Mitte angekommen und haben keine Lust mehr, in irgendwelche Opferrollen gesteckt zu werden“, sagt Sekmen. Auch deshalb hätten viele Deutschtürken mittlerweile eine politische Heimat bei der CDU gefunden.

Die Türkische Gemeinde in Deutschland warnt indes vor der AfD. Die Ergebnisse seien erschütternd und beängstigend, sagte die Vorsitzende des Verbands, Aslıhan Yesilkaya-Yurtbay, nach den Erfolgen der Partei in Sachsen und Thüringen bei den Landtagswahlen im Herbst. Die Zukunft hierzulande für Bürger mit Migrationsgeschichte werde dadurch infrage gestellt.