Es ist eine der umstrittensten Fragen im Haftungsrecht für Organe und Geschäftsführer. Kann ein Unternehmen, gegen das ein Bußgeld wegen eines Kartellrechtsverstoßes verhängt wurde, einen Geschäftsführer oder eines seiner Vorstandsmitglieder in Regress nehmen? Nach langer mündlicher Verhandlung hat der Kartellsenat am Bundesgericht am späten Donnerstagnachmittag kein Urteil gefällt, sondern den Fall zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelegt (Az. KZR 74/23).
Laut dem verkündeten Beschluss will der Kartellsenat unter Vorsitz von Wolfgang Kirchhoff von den Richtern in Luxemburg wissen, ob ein Schaden auf den Geschäftsführer abgewälzt werden kann und ob dies die Wirkung der Sanktion gegen das Unternehmen verringert. Denn die EU-Staaten müssen sicherstellen, dass die nationalen Wettbewerbsbehörden wie etwa das Bundeskartellamt bei Kartellverstößen wirksame und abschreckende Geldbußen gegen Unternehmen verhängen.
In der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe hatte Kirchhoff zu erkennen gegeben, dass die nationalen Vorschriften nur wenig Spielraum für eine Auslegung gestatten. Wann sich der EuGH mit dem Rechtsstreit befassen wird, ist noch offen.
Hohe Geldbußen gegen Kartell
Im Ausgangsverfahren klagten zwei miteinander verbundene Unternehmen der Edelstahlindustrie gegen einen Geschäftsführer. Dieser war einerseits Geschäftsführer der klagenden GmbH und gleichzeitig Vorstandsvorsitzender der klagenden Aktiengesellschaft. Die Kläger hatten sich in den Jahren 2002 bis 2015 zusammen mit anderen Unternehmen der Stahlbranche an einem Preiskartell beteiligt. Gemeinsam entwickelten sie ein bundesweites Preissystem und sprachen sich über Schrott- und Legierungszuschläge ab. 2018 verhängte das Bundeskartellamt Bußgelder in Höhe von 353 Millionen Euro gegen die Mitglieder des Edelstahl-Kartells. Die GmbH musste ein Bußgeld in Höhe von 4,1 Millionen Euro zahlen, der Geschäftsführer selbst 126.000 Euro.
Die Unternehmen nahmen daraufhin ihren Geschäftsführer im Innenverhältnis in Regress. Der Regressanspruch erstreckte sich nicht nur auf die gezahlte Geldbuße, sondern auch auf IT- und Anwaltskosten in Höhe von rund einer Million Euro, die der Aktiengesellschaft entstanden waren. Der beklagte Manager habe durch seine Beteiligung an den Kartellabsprachen seine Pflichten als Geschäftsführer und Vorstand verletzt, so die Begründung der Kläger. Darüber hinaus verlangten sie in ihrer Klage vor dem Landgericht Düsseldorf, dass der Geschäftsführer auch künftig für alle weiteren Schäden der Gesellschaft aus dem Kartellverstoß aufkommen müsse.
Rolle der D&O-Versicherer
Die erste Instanz wies die Klagen in weiten Teilen ab, stellte aber fest, dass der ehemalige Geschäftsführer auch in Zukunft für etwaige Schäden aufkommen müsse. Dieser war inzwischen nicht mehr auf sich allein gestellt, sondern hatte mit der AIG Europe einen der weltweit größten Anbieter von Managerhaftpflichtversicherungen an seiner Seite. Solche Policen – im Branchenjargon Directors-and-Officers-Versicherungen (D&O) genannt – schließen Unternehmen üblicherweise für ihre Spitzenmanager und Organe ab, um sich gegen mögliche Schäden aus pflichtwidrigem Handeln abzusichern.
Kommt es zu einem Schadensfall, prüft der D&O-Versicherer den Sachverhalt und ist dann vorleistungspflichtig – auch hinsichtlich der Übernahme von Anwalts- und Rechtsverteidigungskosten der Organe. Steht allerdings ein vorsätzliches, strafbares Verhalten des versicherten Organs im Raum, kann der D&O-Versicherer seine Deckungszusage verweigern. Wegen der ungeklärten Rechtsfragen im Innenverhältnis blickte auch die Versicherungswirtschaft mit großem Interesse auf die Karlsruher Entscheidung.
Umstrittene Haftungsfrage
Dorthin war der Rechtsstreit gelangt, weil beide Streitparteien gegen das Berufungsurteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom Juli 2023 Revision eingelegt hatten. Der Düsseldorfer Senat hatte Haftungsansprüche verneint, weil nach seiner Auffassung grundlegende Normen des Gesellschaftsrechts – hier Paragraph 43 GmbH-Gesetz sowie Paragraph 93 Aktiengesetz – gerade nicht auf Schäden aus Kartellbußgeldern Anwendung finden. Könnte die Gesellschaft ihr Leitungsorgan in Regress nehmen, würde der Zweck der Kartellbuße vereitelt. Denn die Unternehmensgeldbuße soll gerade das Vermögen der Gesellschaft nachhaltig treffen.
Die Vereinbarkeit der Haftungsregime des Ordnungswidrigkeitenrechts und des Gesellschaftsrechts ist in der Rechtswissenschaft seit Langem heftig umstritten. So ist der Bußgeldregress bei Verletzung vertraglicher Beratungspflichten in Rechtsprechung und Lehre anerkannt. Für die Befürworter ist auch unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Kartell- und Wettbewerbsrechts kein zwingender Grund ersichtlich, Kartellgeldbußen von Geschäftsführern nicht zurückzufordern.
Anderer Weg im Schienenkartell
In einem Hinweisbeschluss hat das Landgericht Dortmund ebenfalls im Sommer 2023 festgestellt, dass Kartellbußen als Vermögensschaden bei der Organhaftung zu berücksichtigen sind (Az. 8 O 5/22 Kart). Das Gericht befasste sich mit den Folgen des „Schienenkartells“, auch hier standen teilweise dreistellige Haftungsansprüche gegen ehemalige Manager von Thyssenkrupp im Raum. Aus Sicht der Dortmunder Zivilkammer bestand jedenfalls keine Möglichkeit einer einschränkenden Auslegung der gesellschaftsrechtlichen Haftungsvorschriften – der Bußgeldregress blieb also möglich.
Das wiederum beschäftigt D&O-Versicherer, deren Anwälte und Industriemakler seit bald eineinhalb Jahren. Denn D&O-Policen mussten sich zunehmend mit der Abwehr oder Freistellung von Bußgeldregressen befassen. Einige Produkte mussten angepasst werden, zum Teil durch Änderung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen oder durch Prämienerhöhungen. Nun aber besteht weiter Unsicherheit im Markt – bis zu einer Entscheidung aus Luxemburg.