Es ist bitterkalt im Rathaus. Die wenigen Staatsangestellten, die in den heruntergekommenen Büros ausharren, falten immer wieder die klammen Hände, um sie mit ihrem Atem zu wärmen. Der „Präsident“ sei nicht da, sagen sie. Der komme vielleicht später mal vorbei. Ein paar Stunden später erscheint Samhan al-Sayyed Omar, der Verwaltungschef des Damaszener Vororts Darayya, dann doch in seinem Büro. Ein jovialer Mittvierziger, der westliche Markenmode trägt. „Es ist eigentlich unerheblich, ob ich komme oder nicht“, sagt er. „Ich habe überhaupt nichts zu tun.“
Schon der Blick aus dem Fenster lässt das als eine bemerkenswerte Aussage erscheinen: Die ärmlichen Straßenzüge von Darayya zeugen nicht nur von der Vernachlässigung durch das gestürzte alte Regime. Als sich die Menschen hier 2012 dem Aufstand gegen Baschar al-Assad anschlossen, wurden sie über Jahre Opfer einer brutalen Belagerungskampagne.
Noch immer prägen zerschossene Kriegsruinen die Szenerie. Samhan al-Sayyed Omar war schon in seinem Amt, als islamistische Rebellen unter der Führung der radikalen Allianz „Hayat Tahrir al-Scham“ aus der Nordwestprovinz Idlib einen spektakulären Eroberungszug starteten, der den Gewaltherrscher in die Flucht schlug. Jetzt haben auch in Darayya andere das Sagen. „Sie reden nicht mit mir, sie geben mir keine Anweisungen“, beteuert Samhan al-Sayyed Omar.
Die eigentlichen Machthaber von Darayya sind wenige Straßen weiter in einem Kulturzentrum anzutreffen, das frisch renoviert worden ist. Dort spricht der „Sonderbeauftragte für den ländlichen Raum im Norden von Damaskus“, Abu al-Ezz Mudawar, über die „riesigen Aufgaben“, die es – wie in ganz Syrien – zu bewältigen gilt: Strom- und Wasserversorgung, Müllabfuhr, Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur und Wohnhäuser sowie die Wiederbelebung der Wirtschaft.
Sie klingen nicht wie Rückkehrer aus dem Exil, sondern wie Entwicklungshelfer
„Das wird viel Geld und Zeit brauchen“, sagt Mudawar, ein Ingenieur, der wie ein frommer Muslim aussieht. Er hat Erfahrung in Bauprojekten, leitet eine Baufirma in Idlib, jener Provinz am nordwestlichen Rand Syriens, wo die HTS-Islamisten schon seit vielen Jahren herrschen. Er stammt eigentlich aus Darayya und ist jetzt als Sieger aus dem Exil zurückgekehrt. So geht es auch vielen Kämpfern an den Checkpoints, die aus der Damaszener Vorstadt stammen.
Es ist eine Konstellation, auf die man in ganz Syrien immer wieder trifft – in Gouverneurssitzen, Polizeiwachen oder den Kasernen. Die neue Führung unter dem Übergangspräsidenten und einstigen HTS-Anführer Ahmed al-Scharaa stützt sich auf loyales Personal, das während des Krieges nach Idlib vertrieben worden war und jetzt in der alten Heimat regiert.
![Menschen bejubeln die Rückkehr von Exilanten, die aus Idlib wieder nach Damaskus kommen. Menschen bejubeln die Rückkehr von Exilanten, die aus Idlib wieder nach Damaskus kommen.](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/Wie-Ahmed-al-Scharaas-Herrschaft-funktioniert.jpg)
Viele dieser Funktionäre sind Fachleute. Und immer wieder klingen sie nicht wie staunende Rückkehrer aus der vernachlässigten Provinz, die in die Metropole kommen, sondern wie Entwicklungshelfer, die ein heruntergewirtschaftetes Land wieder auf die Beine bringen müssen – ebenso eine aufgeblähte, unfähige und von Korruption zersetzte Verwaltung. „Heute ist Damaskus wie die Provinz in der Peripherie, nicht Idlib“, sagt der Sonderbeauftragte Mudawar in Darayya. „Alles hier scheint vor Jahrzehnten stehen geblieben zu sein, auch die Haltung der alten Regierungsangestellten.“ Sie hätten keine Eigeninitiative und seien es gewohnt, Befehle zu erhalten. Leuten wie dem alten Verwaltungschef von Darayya traut Mudawar natürlich nicht unbedingt über den Weg, da sie sich mit dem verhassten alten Regime eingerichtet hatten.
Von Idlib an die Schaltstellen in Damaskus versetzt
Wer dem Bauunternehmer und seinen Mitstreitern, dem jungen örtlichen Sicherheitschef, oder dem Vertreter des Militärs zuhört, bekommt schnell einen Eindruck davon, worauf die neue Führung setzt: Die staatlichen Dienstleistungen sollen funktionieren, die wirtschaftliche Entwicklung soll vorangehen. Sie alle preisen die Entwicklung in Idlib, als sei die syrische Provinz schon eine Miniatur von Dubai. Jedoch ist Idlib vom Glanz des Emirats noch Lichtjahre entfernt. Ähnlich ist eher der autoritäre Führungsstil der „Heilsregierung“ in der Provinz. Kritiker sagen, Syrien unter Scharaa sei auf dem Weg in eine Dienstleistungsdiktatur – allerdings ohne Öleinnahmen.
So hat die neue Zentralregierung in Damaskus auch andere, existenzielle Sorgen wie einen vertretbaren Brotpreis für die ausgezehrte und verarmte Bevölkerung. Der Minister für Binnenhandel und Verbraucherschutz, Maher Khalil al-Hassan, beschreibt sich und seine Kollegen in Scharaas Kabinett als Notfallteam von Vertrauten, die aus Idlib an die Schaltstellen in Damaskus versetzt wurden – und die schon einen Plan für ihre Regierungsarbeit hatten, bevor sie die Macht in der Hauptstadt übernahmen.
„Als Regierung können wir so besser zusammenarbeiten, jeder weiß, was zu tun ist“, sagt er. Wenn es Probleme gebe, werde das auf dem kurzen Dienstweg geklärt. Scharaa selbst hat in einem Interview mit dem Magazin „Economist“ erklärt, es sei erst einmal darum gegangen, den Zusammenbruch der staatlichen Institutionen zu verhindern. Deshalb habe die in Idlib vorbereitete Regierung die Kontrolle übernommen. Im März, so versprach er, solle es eine Regierung geben, die sich auf eine breitere Personalbasis stütze.
Anerkennung für Scharaas Pragmatismus
Der Minister für Binnenhandel al-Hassan klagt über das dysfunktionale Erbe, das Assad und sein Machtkartell in der Regierung hinterlassen haben. „Wenn man aufräumen will, kann man mit diesen Leuten nicht arbeiten“, sagt er. Ihm selbst, sagt al-Hassan, unterstünden etwa 23.000 Mitarbeiter. Er könne aber nur etwas mehr als die Hälfte von ihnen gebrauchen. In den Damaszener Führungszirkeln kursieren viele solcher Anekdoten und ähnliche Zahlen aus anderen Ministerien. Geschichten von Regierungsmitarbeitern, die gar nicht zur Arbeit erschienen – oder laut Stechkarte nur eine Minute am Tag. Von Krankenhäusern, in denen die Bücher pro Krankenwagen 120 Fahrer ausweisen.
Außenstehende erkennen den ergebnisorientierten Pragmatismus Scharaas und seiner Regierungsspezialeinheit an. Ausländische Staatsgäste zeigen sich beeindruckt darüber, wie gut der syrische Machthaber auf Gespräche vorbereitet ist und über welche Detailkenntnisse er verfügt. „Er weiß, was er will, hat einen klaren Plan“, sagt ein syrischer Multimillionär, der zu den Geschäftsleuten aus dem Exil zählt, um die Scharaa wirbt. Der neue Machthaber setze auf syrische Investitionen und syrische Expertise, will den ausländischen Einfluss in seinem Land begrenzen, sagen mehrere reiche Geschäftsleute, die jetzt an die Stelle der alten Oligarchen des Assad-Regimes treten sollen, die in Syrien die Wirtschaft dominiert hatten.
Sorge herrscht vor allem, was die autoritäre und islamistische Prägung der neuen Regierung betrifft. Wahlen soll es nach den Worten Scharaas erst in drei bis vier Jahren geben, was nicht nur westliche Diplomaten, sondern auch syrische Beobachter skeptisch macht, dass er die Macht am Ende wirklich abgeben will. Als sich Scharaa Ende Januar von der eigenen Militärführung zum Übergangspräsidenten küren ließ, erinnerte das an die syrischen Militärputsche aus den Fünfzigerjahren.
Vertreter von Minderheiten wie Christen oder Alawiten fürchten, dass sie in einer neuen Verfassung schlechter gestellt seien. Wie stark diese sunnitisch-islamistisch geprägt sein wird, hat Scharaa bislang offengelassen. Eine ursprünglich für den Januar angekündigte große Nationale Konferenz ist auf unbestimmte Zeit verschoben worden.
Balanceakt zwischen Extremisten und Pragmatikern
Und auch wenn der Pragmatismus des neuen Machthabers und seines engen Kreises gemeinhin gelobt wird, zeigt sich immer wieder, dass seine islamistische HTS-Allianz eine im Kern extremistische Bewegung ist, deren Gruppen er nicht alle kontrollieren kann. Es kommt zu Übergriffen auf Minderheiten, auch zu Rachemorden.
„Scharaa muss sein Handeln immer wieder zwischen Extremisten und Pragmatikern ausbalancieren. Er muss ständig Feuer löschen, die Vertreter aus niedrigeren Rängen legen“, sagt ein politischer Aktivist aus Damaskus, der nur unter dem falschen Namen Abu Miral zitiert werden möchte. Ihn treibt aber vor allem etwas anderes um: „Scharaa und sein enger Kreis bauen schon jetzt einen tiefen Staat auf, der ihre Macht absichert“, sagt Abu Miral.
Es würden informelle Parallelstrukturen aufgebaut, eine Art Schattenregierung. Den Gouverneuren würden Schattengouverneure an die Seite gestellt, die zum engeren Kreis um Scharaa und seine Vertrauten gehörten. Geschäftsleute würden kooptiert, berichten gut vernetzte syrische Beobachter.
Kritiker ziehen Vergleiche mit dem alten Regime, das dafür gesorgt hatte, dass in den Ministerien jeweils ein Vertreter des Präsidentenpalastes installiert wurde, der wegen seines Drahtes zum Machthaber mächtiger war als der Minister selbst. In der Stadt Homs zum Beispiel führt die Frage nach den wichtigen Entscheidungsträgern nicht nur zum Gouverneur, sondern auch zu einem HTS-Kader der Spitze der „politischen Verwaltung“. Dessen Sitz ist das Gebäude der alten und inzwischen aufgelösten Staatspartei, der Baath-Partei.
Priorität auf Loyalität
In einer Analyse der Internetplattform „Syria in Transition“ wird unter Berufung auf Vertraute Scharaas erklärt, es gehe dem Übergangspräsidenten vor allem darum, eine Konterrevolution zu unterbinden. Die Polizeikräfte des alten Regimes hat er auflösen lassen, auch um den Preis, dass der Staat kaum mehr auf der Straße präsent ist. In Sicherheitskreisen herrscht daher Sorge, der „Islamische Staat“ (IS) könne sich das zunutze machen und auch die Hauptstadt Damaskus infiltrieren.
Scharaa spielt dieses Risiko herunter. Seine Priorität scheint zu sein, dass der neue Sicherheitsapparat der neuen Führung gegenüber loyal ist. Der Geheimdienstchef und der neue Innenminister sind enge, linientreue Vertraute. Gleiches gilt auch für das Militär.
Trotz des Sicherheitsvakuums ist die Lage in weiten Teilen Syriens stabil. Auch in Darayya sagen die Menschen, sie hätten keine Angst. Viele von ihnen hatten sich in den Arsenalen der alten Armee bedient, als Anfang Dezember das Regime zusammenbrach und der nahe Militärflughafen gestürmt wurde. Aber am Ende behielten hier die Freude über den Machtwechsel und ein spontaner Bürgersinn erst einmal die Oberhand. „Manche Leute haben sogar Raketen mitgenommen. Aber fast alle haben sie jetzt abgegeben“, sagt Muhammad Kholani, ein Sicherheitstechnokrat, der ebenfalls aus Idlib in die Vorstadt zurückgekehrt ist. In einer kleinen, verwitterten Polizeistation kann er eine umfassende Sammlung vorführen.
Kholani glaubt, dass sich auch das Antlitz des Sicherheitsapparates ändern wird. Noch stehen Milizionäre an den Checkpoints, von denen viele ihre Gesichter hinter Sturmhauben verbergen. „Sie haben noch immer Angst vor Racheakten und Schläferzellen“, sagt Kholani. „Wenn die Regierung stabil ist, wird das aufhören.“