Der Hubschrauber nähert sich rasch über das Meer. Er umkreist das Schiff, dann drosselt er die Geschwindigkeit, schwenkt hinüber und setzt langsam auf der Landeplattform am Heck auf. Zwei Männer eilen geduckt hin und zurren ihn bei laufenden Rotoren fest. Thomas Zimmermann, der Kapitän der Carlskrona, hat bei dem Manöver vom Deck des Schiffes aus zugeschaut. Der Helikopter mache es möglich, auch weit vom Radar entfernte verdächtige Schiffe zu untersuchen, sagt er. Und das ist nötig.
Das schwedische Patrouillenschiff Carlskrona ist an diesem Tag zum ersten Mal im Rahmen des NATO-Mission Baltic Sentry (Baltische Wache) unterwegs. Diese soll weitere Schäden an Unterwasserkabeln in der Ostsee verhindern. Das jüngste NATO-Mitglied Schweden beteiligt sich an der Mission mit gleich zwei Schiffen. Die Stimmung an Bord der Carlskrona ist selbstbewusst. Aber der Erfolg der Mission ist fraglich. Denn auch die NATO kann verdächtige Schiffe nicht einfach festsetzen – und die Ostsee ist groß.
![Landeanflug: Ein Hubschrauber unterstützt die Carlskrona bei der Aufklärung. Landeanflug: Ein Hubschrauber unterstützt die Carlskrona bei der Aufklärung.](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/Datenkabel-in-der-Ostsee-NATO-jagt-die-Schattenflotte.jpg)
Seit Oktober 2023 gab es in dem Binnenmeer mindestens vier Vorfälle, bei denen Kabel und Gasleitungen unter Wasser brachen. In allen Fällen lag das wohl daran, dass Schiffe ihre Anker teils kilometerweit über den Grund hinter sich herzogen. Meist standen große Frachter im Verdacht, die von oder nach Russland unterwegs waren. Zum Teil waren es auch Schiffe der russischen Schattenflotte, mit denen das Land westliche Sanktionen umgeht.
Sabotage oder Unfälle?
Viele Beobachter in den Anrainerstaaten vermuten hybride Kriegsführung durch Russland dahinter. Doch weder ist in einem der Fälle bisher eine russische Urheberschaft nachgewiesen worden, noch ist erwiesen, dass die Tat vorsätzlich geschah. Im jüngsten Fall, der unter maltesischer Flagge fahrenden Vezhen, die ein Datenkabel zwischen Schweden und Estland zerstörte, gehen die schwedischen Ermittlungsbehörden von einem Unfall aus, nicht von Sabotage.
![Kommodore Arjen S. Warnaar, Kommandant der Standing NATO Maritime Group One, an Bord des schwedischen Kriegsschiffs Carlskrona Kommodore Arjen S. Warnaar, Kommandant der Standing NATO Maritime Group One, an Bord des schwedischen Kriegsschiffs Carlskrona](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1739340717_611_Datenkabel-in-der-Ostsee-NATO-jagt-die-Schattenflotte.jpg)
„Ich glaube nicht, dass das alles Unfälle waren. Ich habe in mehr als 40 Jahren auf See keinen Kapitän getroffen, der seinen Anker zufällig mehrere Kilometer weit hinter sich her auf dem Meeresboden zieht“, sagt Kommandeur Arjen Warnaar dazu. Er ist Holländer und leitet die Standing NATO Maritime Group 1, das ist der ständige maritime Einsatzverband der NATO. Dieser ist Teil der Mission Baltic Sentry. Derzeit wird sie vom Konteradmiral Stephan Haisch vom Marinekommando in Rostock aus geleitet. Warnaar ist an diesem Tag auf der Carlskrona, um Schwedens Beteiligung an der Mission zu koordinieren.
Seinen Angaben nach sind im Rahmen der Mission Baltic Sentry vier Schiffe aktiv. Zwei davon stellt Schweden: eine moderne Korvette der Visby-Klasse und eben die Carlskrona, ein in die Jahre gekommenes Patrouillenboot von 107 Metern Länge, Baujahr 1981, bewaffnet mit nur zwei 40-Millimeter-Geschützen.
Vier Schiffe sind angesichts der Größe der Ostsee wenig. Rund 4500 große Schiffe seien jederzeit auf dem Binnenmeer unterwegs, die ihre automatische Positionserkennung (AIS-System) angeschaltet hätten, heißt es von der schwedischen Marine. Dazu sehr viele kleinere ohne AIS. Wie soll man die alle überwachen? Warnaar antwortete darauf, entscheidender als die vier NATO-Schiffe sei das gesamte Netz aus Marinehauptquartieren, Luftüberwachung, Satelliten und Küstenwachen der westlichen Anrainerstaaten. Die Nato verbinde alle nationalen und lokalen Kräfte. Zusammengerechnet seien das dann etwa um die 70 Schiffe.
Wer steckt dahinter?
Wer hinter den Kabelbrüchen stecke, sei schwierig zu sagen, sagt Warnaar. Das sei „Teil des Spiels“ bei hybriden Angriffen. Doch sei eine russische Urheberschaft wahrscheinlich. Er verweist darauf, dass alle Schiffe, die einen Schaden verursacht hätten, von oder nach Russland unterwegs gewesen seien. Die Ostsee sei kein „NATO-Meer“, sagt der Kommandeur. Aber es gebe auch keinen Grund für ein aggressiveres Verhalten Russlands. Die NATO bedrohe niemanden. Doch komme es vermehrt zu Vorfällen durch Russland. Dazu zählt er auch GPS-Störungen, die von Kaliningrad ausgingen und die Schifffahrt gefährdeten. Warnaar sagt, es bestehe die Gefahr, dass es zu weiteren Zwischenfällen komme.
![Auf der Seekarte sind andere Schiffe zu orten. Auf der Seekarte sind andere Schiffe zu orten.](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1739340717_229_Datenkabel-in-der-Ostsee-NATO-jagt-die-Schattenflotte.jpg)
In der Ostsee gab es zuletzt anders als etwa in der Barentssee keine aggressiven militärischen Übungen Russlands. Doch nutzt Moskau das Meer weiterhin für seine Baltische Flotte, zudem für den größten Teil seines Ölexports. Dieser erfolgt mittlerweile hauptsächlich mittels sogenannter Schattentanker. Das sind alte, häufig marode Schiffe, die unter der Flagge von Kleinststaaten fahren.
Die Carlskrona nähert sich an diesem Tag der viel befahrenen Schifffahrtsstraße nördlich von Bornholm. Auf der Brücke werden an großen Bildschirmen Informationen über passierende Schiffe verfolgt – ähnlich wie auf Websites von Schiffstrackern. Es gehe darum, ein Verhaltensmuster von verdächtigen Schiffen zu erkennen, heißt es von den schwedischen Marinesoldaten, die Dienst auf der Brücke haben.
![Auf der Suche nach einer „smoking gun“: Marinesoldaten auf der Carlskrona Auf der Suche nach einer „smoking gun“: Marinesoldaten auf der Carlskrona](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1739340717_201_Datenkabel-in-der-Ostsee-NATO-jagt-die-Schattenflotte.jpg)
Verdächtig seien zunächst Schiffe, die ihr AIS-System ausgeschaltet hätten oder sich anderweitig merkwürdig verhielten. Komme es zu einem Vorfall, sei jedes Detail wichtig: vom Flaggenstaat über die Nationalität des Kapitäns bis hin natürlich zu der Frage, ob der Vorfall in internationalem oder territorialem Wasser geschah. Das Schwierigste sei dabei, ein klares Bild zu erhalten – und dass man nie wisse, wer der Gegner sei, sagt der Oberleutnant zur See, Thomas Zimmermann, der Kapitän der Carlskrona.
Neben der Überwachung geht es bei der Mission aber auch um Abschreckung. Die Nachricht an die Übeltäter sei: „Wir sind hier. Stoppt das Vorgehen. Wenn ihr weitermacht, werden wir euch erwischen“, sagt Kommandeur Warnaar. Er vergleicht die Situation mit jener in einem Stadtteil. Wenn es da viele Einbrüche gebe, patrouilliere die Polizei häufiger, dann gingen die Einbruchszahlen zurück. Was er nicht sagt, ist, dass die Polizei anders als die NATO wirklich gegen die Täter vorgehen kann.
![Nicht mehr die Jüngste: Die Carlskrona ist ein älteres Schiff und nur mit zwei 40-Millimeter-Geschützen ausgestattet. Nicht mehr die Jüngste: Die Carlskrona ist ein älteres Schiff und nur mit zwei 40-Millimeter-Geschützen ausgestattet.](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1739340717_932_Datenkabel-in-der-Ostsee-NATO-jagt-die-Schattenflotte.jpg)
Dass eine Abschreckung durch die NATO gegen Kabelbrüche funktioniert, wird auch in Schweden bezweifelt. „Um Überwachungs- und Unterbindungseinsätze effektiv durchführen zu können, müsste man über extrem gute Informationen verfügen oder an allen verwundbaren Punkten präsent sein“, sagt dazu Kjell Engelbrekt, Professor an der Schwedischen Verteidigungsuniversität. Derzeit führe Russland hybride Aktivitäten über das gesamte Spektrum hinweg durch, und zwar mit geringem Risiko und geringen Kosten für die Beteiligten. „Abschreckung funktioniert nicht, und es gibt praktisch keine Strafen.“
Das Seerecht verbietet das Entern
Der NATO sind auf der Ostsee durch das Seerecht die Hände gebunden. Das Militärbündnis kann ebenso wenig wie die Anrainerstaaten verdächtige Schiffe in internationalen Gewässern einfach festsetzen. Im Falle der Vezhen und zuvor der Eagle S, die noch vor Finnland vor Anker liegt, hatten die Anrainer das Glück, dass die Schiffsbesatzung kooperierte und die jeweiligen Territorialgewässer ansteuerte. Dort dürfen die Schiffe dann geentert und festgesetzt werden.
So ist es auch passiert. In Finnland wird gegen einen Teil der Besatzung der Eagle S nun ermittelt. Anzunehmen ist, dass diese Beispiele andere Schiffe eher dazu veranlassen dürften, weiterzufahren, anstatt freiwillig Territorialgewässer anzusteuern. An Bord der Carlskrona hofft man darauf, eine Art „Smoking Gun“ zu finden, also ein Schiff, das eindeutig überführt wird, ein Kabel zerstört zu haben. Aber das dürfte schwierig werden.
Wie hilflos Nato ist, zeigt auch der Funkspruch, den eine Soldatin auf der Brücke vor Journalisten verliest. Dieser werde im Ernstfall an verdächtige Schiffe gefunkt, sagt sie. Demnach bittet die NATO die Schiffe darum, sie zu unterstützen und sofort jede Beobachtung von unüblichem maritimen Verhalten zu melden. Ein Befehl klingt anders.
Die Finnen gingen robust vor
Das Seerecht kennt keine hybriden Angriffe, es sieht eine Verantwortung des Flaggenstaates für die Unterwasserinfrastruktur. Angesichts dessen gibt es Bemühungen, das Recht zu verändern oder wenigstens umzuinterpretieren. Diese gehen vor allem von Finnland aus, das sich direkt von Russland bedroht sieht und mit seinem robusten Vorgehen gegen die Eagle S nun Schule gemacht hat. Doch selbst wenn es gelingen würde, das Seerecht tatsächlich zu ändern, dürfte das Jahre dauern.
![Die NATO-Flagge wird gehisst. Die NATO-Flagge wird gehisst.](https://adaglobalconcept.com/wp-content/uploads/2025/02/1739340717_768_Datenkabel-in-der-Ostsee-NATO-jagt-die-Schattenflotte.jpg)
An diesem Tag wird auf der Carlskrona die NATO-Flagge gehisst. Er sei stolz darauf, nun im Rahmen der NATO zu dienen, sagt Zimmermann, der Kapitän des Schiffes. Schweden ist seit bald einem Jahr Mitglied des Verteidigungsbündnisses. Davor war es formell bündnisfrei, auch wenn die Kooperation mit der NATO schon eng war. Strategisch hat das Land in der Region eine entscheidende Rolle. Aufgrund seiner Geographie, aber auch weil seine Marine hoch spezialisiert ist für die flachen Schärengewässer.
Allerdings ist sie auf den Schutz der eigenen Küste ausgerichtet und klein. Die Kernkapazitäten bestehen aus mehreren Korvetten der Visby-Klasse und U-Booten der Gotland-Klasse. Drei sind im Einsatz, weitere werden gebaut. Hinzu kommen viele kleinere Schiffe wie etwa das Kampfboot 90, mit dem es an diesem Tag von der Carlskrona wieder zurück an Land nach Karlskrona geht. Von diesen Schnellbooten hat nun die Ukraine mehrere Dutzend erhalten.
Aus Sicht des Forschers Engelbrekt von der schwedischen Verteidigungsuniversität ist die Marine Schwedens mit ihren Fähigkeiten eine bedeutende Ergänzung für die NATO in der Ostsee. Aber sie sei auch ein Beispiel dafür, was der heutige Oberbefehlshaber der Schwedischen Armee General Michael Claesson einst als „Bonsaiverteidigung“ bezeichnete.
Engelbrekt warnt, dass die vielen Kabelbrüche zur „neuen Normalität“ im Ostseeraum werden könnten, wenn die nordisch-baltischen Länder, die NATO oder die EU keine wirksamen Gegenmaßnahmen ergriffen. Dabei gebe es zwei große Risiken: Selbst westliche Regierungen könnten die Freiheit der Schifffahrt in der Ostsee infrage stellen. Zum anderen könnte die Schattenflotte eine große Ölpest verursachen – was dann wiederum die Freiheit der Schifffahrt bedrohen könnte.