Historiker: Zerstörung Dresdens war NS-Propagandakampagne

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Herr Neutzner, vor 80 Jahren, am 13. Februar 1945, wurde die Dresdner Innenstadt durch Angriffe der britischen und amerikanischen Luftwaffe fast völlig zerstört. Dabei kamen etwa 25.000 Einwohner ums Leben. Sie beschäftigen sich seit Langem mit diesen Angriffen und ihrer Deutung. Gestritten wird vor allem darüber: Waren diese Bombardements militärisch notwendig? Oder waren sie Kriegsverbrechen? Was sagen Sie dazu?

Dass wir 80 Jahre danach überhaupt über dieses Einzelereignis in der langen Geschichte des Zweiten Weltkriegs reden, hat vor allem damit zu tun, dass es sofort von der deutschen Kriegspropaganda aufgegriffen wurde. Die „Zerstörung Dresdens“ bildete den Fokus der letzten erfolgreichen Propagandakampagne des Dritten Reichs. Von Anfang an ist dabei das Argument der militärischen Sinnlosigkeit enthalten. Wenn es heute noch gebraucht wird, stellt es eine Rückprojektion dar: Wir wissen, dass der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 endete. Die Entscheider auf der britischen und amerikanischen Seite wussten das nicht, auch wenn sie davon ausgingen, dass dieser Krieg über kurz oder lang mit einer Niederlage Deutschlands enden würde.

Für die Alliierten hatten die Angriffe also einen militärischen Sinn?

Wir können festhalten, dass nach vier aufeinanderfolgenden Luftangriffen zwischen dem 13. und 15. Februar die Großstadt Dresden militärisch nicht mehr funktionierte. Die Verkehrsverbindungen waren unterbrochen, die Rüstungsindus­trie ausgeschaltet, der Verwaltungsapparat lahmgelegt. Das hatte militärischen Sinn. Ob man, um diesen militärischen Vorteil zu erringen, den Tod von 25.000 Menschen billigend in Kauf nehmen darf, ist eine zutiefst moralische Fragestellung. Sie beschäftigt uns bis heute in allen möglichen Konflikten der Welt, weil diese Form der Kriegsführung sich über die Jahrzehnte nicht zivilisiert hat. Ganz im Gegenteil. Und das ist eine der Herausforderungen in unserem Nachdenken über das, was 1945 geschehen ist.

Für ein Erinnern ohne Überwältigung: der Historiker Matthias Neutzer
Für ein Erinnern ohne Überwältigung: der Historiker Matthias NeutzerAndreas Pein
Gestritten wird auch darüber, wie dieser Angriffe gedacht werden soll. Wie hat das die DDR gemacht? Es gab einerseits den verordneten Antifaschismus, andererseits die ideologische Ausrichtung gegen den westlichen Imperialismus.

Die Symbolerzählung für das Erinnern in der DDR hatten die Nationalsozialisten platziert. Dresden besaß diese Aura als international bekannter Kulturort. Die Erzählung von der Wehrlosigkeit und Unschuld der Stadt bot sich an. Ihren Kern bildet ein doppelter Superlativ: die nie da gewesene Katastrophe, die eine Stadt von ungemeinem kulturellem Wert getroffen hat. Was heute oft nicht erinnert wird: Weder in den Absichten noch in den militärischen Mitteln, in der Dramaturgie der Luftangriffe, und nicht einmal in den Auswirkungen waren die Angriffe auf Dresden einzigartig. Das passierte vom Februar bis in den April 1945 hinein täglich. Am Tag nach dem ersten Angriff auf Dresden hat man dasselbe mit der gleichen Zahl von Flugzeugen, Spreng- und Brandbomben über Chemnitz versucht.

Warum hat diese Erzählung sich so gehalten?

Sie war propagandistisch nützlich und wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unverändert weiter genutzt. 1946 hat man in Dresden versucht, das Erinnern mit Wiederaufbau-Propaganda zu verbinden. Das ist gescheitert, weil das Trauma der Betroffenen so tief saß, dass dieser Tag überhaupt nicht die freudige Aufbruchstimmung vermittelte, die sich die Propagandisten erhofft hatten. Deswegen ließ man das Thema dann einige Jahre liegen.

Am 14. Februar 1945: Flugzeuge der US-Luftwaffe  werfen Spreng- und Brandbomben auf Dresden ab.
Am 14. Februar 1945: Flugzeuge der US-Luftwaffe werfen Spreng- und Brandbomben auf Dresden ab.imago images / UIG

Das klingt nicht nach einem Erfolg.

Ja, zunächst. Aber ab 1949, mit dem Beginn des Kalten Kriegs und der Konfrontation zwischen dem Ostblock und dem „imperialistischen Westen“, passte die Erzählung wieder. Es waren halt englische und amerikanische Bomben, die Dresden trafen. Die Erzählung wurde in der DDR sogar weiter dramatisiert, indem man die Zahl der getöteten Menschen, die die NS-Propaganda bereits verzehnfacht hatte, in den Fünfzigerjahren ins Unzählbare und Namenlose erweiterte, in eine mythische Dimension trieb. Die Toten wurden kollektiviert und ihre Gräber eingeebnet. Man hat die Namen entfernt und eine Gedenkanlage darauf gebaut. Das war eine willkommene Anklage gegen den imperialistischen Westen und zugleich eine Abgrenzungsstrategie gegenüber der westdeutschen Bundesrepublik, die man in der Tradition des Dritten Reichs sah. Gleichzeitig wurde das Gedenken positiv mit einer Friedenserzählung verbunden, die auf der schlichten Formel beruhte: Frieden gleich Sozialismus. Damit hat man in den Fünfzigerjahren während der Jahrestage Hunderttausende Menschen in der gesamten DDR mobilisiert. Aber die ganz schrille Propaganda war am Ende der Sechzigerjahre mit dem beginnenden Entspannungsprozess nicht mehr angesagt.

Am 13. Februar 2024: Menschenkette rund um die Altstadt
Am 13. Februar 2024: Menschenkette rund um die Altstadtdpa
Seit den Neunzigerjahren haben Rechtsextremisten und Neonazis das Gedenken genutzt für ihre geschichtsrevisionistische Propaganda, etwa 2005 bei einem Marsch durch die Dresdner Innenstadt mit Tausenden Teilnehmern. Heute nutzt die AfD wieder das Thema der Zerstörung Dresdens für ihre politischen Zwecke. Wie bewerten Sie das?

Die Geschichte des öffentlichen Erinnerns in Dresden ist über diese acht Jahrzehnte hinweg von politischer Instrumentalisierung durch unterschiedlichste Akteure geprägt worden. Mittlerweile haben wir eine differenzierte Landschaft von Erinnerungskulturen, also mehr als Schwarz und Weiß. Nachdem um 2005 diese rechtsextreme Instrumentalisierung unerträglich wurde, hat die Zivilgesellschaft in einem mühevollen Prozess zusammengefunden, sodass man immer mehr die Deutungshoheit zurückgewinnen konnte. Das hat sich jetzt mit dem Erstarken der AfD noch mal ein Stück gewandelt. Die Herausforderungen sind jetzt anderer Art, es gibt diesen schrillen rechtsextremen Protest kaum noch, sondern eher öffentliche Gesten an der Grenze zum Geschichtsrevisionismus, zu Nationalismus und zu rassistischen Positionen. Das ist durchaus anschlussfähig für viele und weniger leicht zu demaskieren. Vieles, was in der Vergangenheit bereits aufgearbeitet, diskutiert und erreicht worden ist, müssen wir erneuern, damit uns diese Deutungshoheit nicht wieder verloren geht.

Eine Reaktion war es, eine Menschenkette in der Altstadt zu bilden. Dieses Jahr ist wieder eine geplant. Ist das aus Ihrer Sicht eine adäquate Aktionsform?

Nein, das denke ich nicht. Wobei ich sagen muss: Ich gehöre zu der Gruppe zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich diese Menschenkette ausgedacht hat. Ihre ursprüngliche Zielsetzung war sehr klar: Wir reichen uns die Hand, umstellen das Stadtzentrum, schützen diese Stadt davor, dass die rechtsextremen Akteure die Innenstadt betreten. Das haben wir mit Tausenden Leuten erfolgreich gemacht. Diese Form ist aber nicht weiterentwickelt worden. Sie ist schon im zweiten Jahr von der damaligen Oberbürgermeisterin als ein Erfolgsmodell und dann zur unantastbaren Tradition erklärt worden. Eine Gruppe von Aktivisten, der ich auch angehörte, war jedoch der Meinung, dass die Zielsetzung noch klarer formuliert und mit Handlungen verbunden werden muss. Wir dürfen nicht allein auf das Medienbild zielen, das droht, bedeutungsleer zu werden. Mit der Menschenkette werden wir dem, was die AfD gerade tut, nicht gerecht. Das ist ein Kampf um die Köpfe, nicht um die Straße.

Sie arbeiten in einem Verein, der sich um das Erinnern kümmert. Wie sollte denn dieses Erinnern an die Zerstörung Dresdens aus Ihrer Sicht aussehen?

Wir müssen diesen Tag vor allem von allen Ritualisierungen befreien, von jeder emotionalen Überwältigung. Wir können ihn als einen sehr produktiven Tag nutzen, an dem Begegnung, Austausch und gemeinsames Nachdenken über die historischen Fundamente unserer Gesellschaft möglich sind. Und wir müssen uns, das ist in Dresden auch schon gelungen, von der Fixierung auf dieses Datum lösen. Wir haben schon seit Jahren alle Veranstaltungen rund um den 13. Februar in einen mehrwöchigen Kontext gestellt, der Ende Januar mit dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz beginnt, weit in das Jahr hineinreicht und in diesem Jahr definitiv den 8. Mai mit einschließen wird, das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa. Wir müssen uns auch von den propagandistischen Zuspitzungen lösen, von den Superlativen, vom Mythos der Einzigartigkeit. Das ist eine Aufgabe, die in Dresden ansteht, in einer Stadt, die sich als etwas ganz Besonderes empfindet. Wenn das alles gelingt, dann kann das Erinnern an das Jahr 1945 produktiv im Sinne historischer politischer Bildung sein und Orientierung für unsere Lebensgestaltung in Gegenwart und Zukunft bieten.