KI in der Forschung: Wissenschaft auf Speed

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Am 15. Juli 2021 veröffentlichte die Fachzeitschrift Nature einen Artikel, der Julian Becks Forschung für immer veränderte. Highly accurate protein structure prediction with AlphaFold war der sperrige Titel des Textes, verfasst von 34 Autor:innen, fast alle Angestellte des Tech-Unternehmens DeepMind. Das Brisante war nicht der Inhalt, sondern eine knappe Ankündigung, die am Ende des Papers gemacht wurde: Das von DeepMind entwickelte Programm AlphaFold solle von nun an öffentlich nutzbar sein. Jede:r könne es sich herunterladen und damit arbeiten. Wenige Tage später erreichte diese Nachricht aus London den Promovierenden Julian Beck in Bayreuth.

Julian sagt, er habe erst nicht begriffen, wie sich das auf seine Arbeit auswirken würde. Dann probierte er das Programm aus und verstand: “Das ist ein Gamechanger.”

DeepMind, ein Tochterunternehmen von Google, hat sich auf die Entwicklung künstlicher Intelligenz spezialisiert. Sein Programm AlphaFold stellt auf den Kopf, woran Julian als Biochemiker seit Jahren forscht: die Vorhersage von Proteinstrukturen, womit man zum Beispiel besser verstehen kann, wie Krankheiten entstehen. Seit Jahrzehnten hatten sich Forschende daran die Zähne ausgebissen, die KI löst das Problem in wenigen Minuten.

Julian Beck, 27, promoviert in Bayreuth über Aminosäureketten. Er will verstehen, wie Proteine gebaut werden. So könnten Forschende sie irgendwann selbst designen und ihnen neue Funktionen zuweisen. Etwa, um Pflanzen resistenter zu machen. © Universität Bayreuth

Julian Beck, 27, arbeitet seit drei Jahren an seiner Doktorarbeit über Proteine. Er erforscht, welche Strukturen sich aus welchen Aminosäureketten entwickeln. Er sagt, der Einsatz der künstlichen Intelligenz von AlphaFold habe seine Forschung beschleunigt, “um ein Vielfaches”.

Was den Biochemiker Julian im Juli 2021 überrollte, hat längst Hochschulen und Institute in ganz Deutschland erreicht. In den unterschiedlichsten Bereichen haben KI-Tools die Forschung grundlegend verändert: In der Berliner Charité werden mithilfe von KI Hirntumore diagnostiziert, am Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven Klimamodelle simuliert. KI schreibt Förderanträge und hilft, komplexe Zusammenhänge zu formulieren. Sie spuckt in Sekundenschnelle Programmcodes aus und designt Vortragsfolien.

Ein Geschwindigkeitsrausch hat die Forschung gepackt, der längst auch Promovierende erfasst hat. Nur: Sind die auch darauf vorbereitet?

An einem Vormittag im Juli flimmern in Julian Becks Büro an der Universität Bayreuth Codes über einen Bildschirm, in einem weiteren Programm werden daraus spiralförmige Gebilde in bunten Farben: von der KI simulierte Proteine. Julian sagt: “Das hat uns völlig neue Möglichkeiten eröffnet.” Julian promoviert in der Arbeitsgruppe Computerbasiertes Proteindesign am Lehrstuhl Biochemie, “Grundlagenforschung”, sagt er. Proteine bestehen aus langen Aminosäurenketten, die sich zu 3-D-Strukturen falten. Ihre Form entscheidet dann über ihre Funktion, ob sie zum Beispiel die Immunabwehr im Körper unterstützen oder wesentliche Bestandteile von Muskelzellen bilden. Welche Form sie bekommen, ließ sich bislang nur ungenau vorhersagen. Mit dem neuen KI-Tool von DeepMind ist das wesentlich genauer und mit einer hohen Erfolgsquote möglich. Daraus könnten sich aufregende Forschungswege ergeben: Vielleicht lassen sich damit Medikamente gegen bislang unbekannte Krankheiten zielgenau entwickeln oder resistente Nutzpflanzen züchten.

Julians Arbeitsplatz ist ein karger Raum im zweiten Stock, weiße Wände, Fotos von Freund:innen und Familie hängen daran, auf einer Postkarte steht: “Chill ma”. Nur ein großer Bildschirm ragt auf dem weißen Tisch auf. Nach seinem Master in Biochemie und Molekularer Biologie blieb Julian an der Uni, um seinen Doktor zu machen. Er sagt: “Zu Beginn meiner Promotion haben wir schon mit Algorithmen gearbeitet, Hilfsmitteln, um einfache Simulationen durchzuführen. Ich konnte damals nicht ahnen, wie sehr die KI unsere Forschung verändern würde.” Hört man sich an deutschen Universitäten um, erzählen dort viele Promovierende von solchen “Gamechangern”.

Da gibt es zum Beispiel den Psychologen an der Uni Leipzig, der die KI Fragebögen zur Persönlichkeitsdiagnostik erstellen lässt, für die es zuvor Zehntausende unterschiedliche Fragebögen gab. Oder den Doktoranden an der TU Berlin, einen Physiker, der zum Verhalten von Bakterien forscht und sich von ChatGPT in Sekundenschnelle Codes für seine Programme generieren lässt. Es gibt Architektinnen, die sich erste Entwürfe für Häuser von KI generieren lassen, und Historiker, die mit KI in wenigen Minuten ganze Archive durchsuchen.

Julia Klaus, 29, promoviert zum Tokioter Kriegsverbrecherprozess an der Uni Nürnberg-Erlangen. Für ihre Recherchen reiste sie über 14 Monate hinweg unter anderem nach Glasgow, Paris, London, Norfolk, Taschkent, Delhi, Kolkata, Taipeh, Tokio und Québec. © Robin von Mendel

KI bestimmt nicht mehr nur den Alltag von Forschenden, die sich schon immer dafür interessiert haben, wie sie neue Technik einsetzen können. Sondern auch von solchen wie der Juristin Julia Klaus, 29. Sie sagt: “Ich habe mir eigentlich nie vorstellen können, mithilfe von Computerprogrammen zu arbeiten. Ich mag Bücher aus Papier, deshalb habe ich Jura studiert.”

Im Herbst 2019 hat Julia ihre Promotion an der Universität Erlangen-Nürnberg begonnen. Eigentlich scheint ihr Feld weit entfernt vom Hype um neue KI-Tools zu liegen. Julia beschäftigt sich mit historischen Strafprozessen und forscht zur Frage, welche Rolle die Biografien von Richtern für die Urteilssprechung spielen. Ihr Schwerpunkt: der Kriegsverbrecherprozess in Tokio 1946, der nach dem Zweiten Weltkrieg parallel zu den Nürnberger Prozessen stattfand. Er wurde von elf Richtern aus Ländern wie Indien, China, den USA oder Frankreich geführt. Julia will wissen: Wie kamen die Männer zu ihrem Urteil?

Für ihre Forschung musste sie mit Nachkommen der Richter sprechen, an historische Akten gelangen, persönliche Briefe ausfindig machen. Es gab dazu praktisch keine Daten, nichts, was man am Computer erledigen könnte.

Ihre Werkzeuge deshalb: Notizbücher, ein Fotoapparat und ein Mikrofon. Im Februar 2020 flog Julia nach Indien, doch dann rollte die erste Coronawelle an, und sie musste umkehren. Drei Jahre blieb sie in Deutschland, bereitete weitere Reisen vor, lernte Russisch und Chinesisch. Bis dahin wandte sie viel Zeit auf, um Archive zu durchstöbern und Anträge zu schreiben. Als sie im Februar 2023 erneut losreiste, nach Taiwan, hatte sich etwas grundlegend geändert.

Am 30. November 2022 machte das US-Unternehmen OpenAI sein Programm ChatGPT öffentlich zugänglich. Plötzlich war KI nicht mehr nur ein Werkzeug für wenige, jede:r konnte mit der neuen Technik experimentieren. ChatGPT löste einen KI-Boom aus, der auch Julia erreichte.

Handschriften oder alte Schriftrollen entziffern? Mit der KI ist das möglich. © Fabius Kossack

In Taipeh besuchte sie das Nationalarchiv und hatte Glück: Sie fand Personalakten, Urteilssprüche und sogar persönliche Briefe des verstorbenen chinesischen Richters. 200 Akten, mehr als 400 Seiten, alles auf Chinesisch. Damals erzählten ihr Kolleg:innen, was man mit KI alles anstellen könne. Zum ersten Mal probierte sie ein Tool für ihre Forschung aus, Nanonets, das handgeschriebene Buchstaben erkennt und digitalisiert. Das Ergebnis beeindruckte sie: In wenigen Minuten hatte die KI die Handschrift entziffert und digitalisiert, das Programm DeepL übersetzte den Text in einigen Sekunden. Von da an wurde die KI zu ihrem vielleicht wichtigsten Werkzeug.

Ein Jahr lang reiste Julia um die Welt, in die USA, nach Kanada, Frankreich, Usbekistan und Japan. Auf Fotos von damals sieht man eine junge Frau mit kurzen Haaren vor Bibliothekseingängen und mit dicken Aktenordnern in den Händen. Als sie zurück nach Deutschland kam, hatte sie mehr als ein Terabyte Daten gesammelt.

Youssef Nader gewann einen Wettbewerb, bei dem es darum ging, mit KI antike Schriftrollen zu entziffern. Sie waren vor mehr als 2.000 Jahren von Vulkanasche konserviert worden, aber bislang unlesbar gewesen. © Fabius Kossack

Um mit den Datenmassen umzugehen, probierte sie weitere KI-Werkzeuge aus: Mit Elicit durchforstete sie bereits veröffentlichte Literatur, weltweit, mit ResearchRabbit grub sie Quellen aus. Ihre Texte, die sie auf Englisch veröffentlichte, ließ sie vom Sprachprogramm Hemingway Korrektur lesen. Mit jedem weiteren Tool schien ihr Mammutprojekt auf eine immer überschaubarere Größe zu schrumpfen. Statt Dolmetscher:innen zu engagieren, nutzte sie kostenfreie Programme, statt langwieriger Archivrecherchen befragte sie einfach die KI. Ohne deren Hilfe, sagt sie heute, wäre das alles wahrscheinlich kaum möglich gewesen. Sie hätte viel mehr Zeit gebraucht und viel mehr Geld.

Julia Klaus hat von der KI profitiert, keine Frage. Trotzdem, sagt sie, sehe sie die Entwicklung auch kritisch. Seit der Veröffentlichung von ChatGPT und anderen Tools scheine die Zahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen enorm zu steigen, sagt sie. Für Promovierende sei es immer schwieriger, alle relevanten Publikationen zu lesen. Die Verlockung sei also groß, sich den Inhalt von KI zusammenfassen zu lassen. Die künstliche Intelligenz würde dann den Kern eines Textes analysieren. Julia sagt: “Das würde unseren Fachbereich komplett verändern. Denn bei Jura geht es auch um die Qualität von Argumenten. Um die einzuschätzen, fehlt KI noch die Kreativität.”

Mit diesem Gefühl ist Julia nicht allein.

Die kalifornische Stanford University hat den Einsatz sogenannter Large-Language-Models wie ChatGPT bei Peer-Reviews untersucht. Dabei zeigte sich, dass seit der Veröffentlichung der Software eine Gruppe von etwa hundert Adjektiven gehäuft in Forschungsarbeiten auftritt. Eine Analyse dieser Untersuchung aus London kommt zu dem Schluss: Je größer die Rolle der KI in Forschung und Publikation, desto mehr nehme die Vielfalt in Recherche und Form ab.05

Die Wirtschaftsinformatikerin Doris Weßels von der FH Kiel beschäftigt sich seit mehr als acht Jahren mit dem Thema künstliche Intelligenz. Vor zwei Jahren hat sie ein hochschulübergreifendes Kompetenzzentrum mitgegründet, das sich damit auseinandersetzt, wie Lehrende mit KI-Sprachprogrammen umgehen sollten. Weßels findet: Die Hochschulen sollten sich proaktiv mit dem Thema befassen und es nicht einfach nur geschehen lassen. Jede Hochschule brauche eigentlich eine eigene Taskforce KI: ein interdisziplinäres Team mit Vertreter:innen aus Lehre, Wissenschaft und Verwaltung, die alle Veränderungen begleiten.

Doris Weßels ist Wirtschaftsinformatikerin an der FH Kiel. Sie hilft Wissenschaftler:innen unter anderem, bessere Texte mit KI-Tools zu verfassen. Ihr Tipp: JenniAI. Diese Anwendung ergänzt bei Textpassagen die passenden Quellen. © Andreas Diekötter

Zum Beispiel bei Förderanträgen: Stipendiengeber würden gerade von Anträgen überschwemmt, erzählt Weßels, weil sie durch KI-Programme so viel einfacher zu schreiben sind als bisher. Um die Antragsmasse in den Griff zu bekommen, müssten Kommissionen selbst KI-Programme für die Bewertung der Anträge nutzen. “KI bewertet KI – das ist absurd”, sagt Doris Weßels. Bevor ChatGPT auf den Markt gekommen sei, habe sich in der Bildungspolitik kaum jemand für den breiten Einsatz von KI interessiert, sagt sie. Jetzt seien viele überfordert.

Im vergangenen Herbst veröffentlichte das Bundesministerium für Bildung und Forschung immerhin einen Aktionsplan KI. Darin geht es unter anderem darum, neue Rechenzentren für KI aufzubauen und Forschungspersonal im Umgang mit den neuen Tools zu schulen. Langfristig könnte das auch Promovierenden helfen. Es ist ein später erster Schritt.

Denn wer heute promoviert, steht längst vor einer fundamentalen Herausforderung: KI ist nicht mehr nur ein einfaches Werkzeug, sie übernimmt relevante Teile der Forschung selbst. Auch dank Forschenden wie Youssef Nader.

Die Gebäude der Freien Universität in Berlin-Dahlem liegen zwischen hohen Linden, mittendrin: das Institut für Mathematik. Ein grauer Sechzigerjahre-Bau mit roten Fensterrahmen. Hier hat Youssef sein Büro, ein Mann mit weichem Händedruck, 28 Jahre alt. Gerade ist er von einer Forschungsreise aus Neapel wiedergekommen, er wirkt müde, hat sich erkältet. Auf dem Schreibtisch reihen sich leere Wasserflaschen aneinander, die Zimmerpflanze lässt die Blätter hängen.

Youssef Nader, 28, promoviert zu “Explainable AI” an der FU. Er ist überzeugt: Künstliche Intelligenz wird alle Bereiche der Wissenschaft erfassen. Sobald es irgendwo große Datenmengen gibt, kann KI selbstständig mit ihnen arbeiten. © privat

Youssef ist am Lehrstuhl eine Berühmtheit. Allerdings nicht wegen seiner Promotion, sondern wegen eines privaten Projekts. Anfang 2024 gewann er die Vesuvius Challenge, einen internationalen Wett-bewerb, bei dem es darum ging, mithilfe von KI antike Schriftrollen zu entziffern. Sie waren beim Ausbruch des Vesuv vor mehr als 2.000 Jahren von Vulkanasche konserviert worden, aber bislang unlesbar gewesen.

Youssef ist Informatiker. Er promoviert am Dahlem Center for Machine Learning and Robotics der FU. Archäologie, sagt er, habe ihn eigentlich nie interessiert. Es sei ihm nur um den Wettbewerb gegangen. Über die Website kaggle.com war er darauf gestoßen, dort werden unterschiedliche KI-Wettbewerbe ausgeschrieben. Gerade wird zum Beispiel dazu aufgerufen, mithilfe von künstlicher Intelligenz die Tumor-Erkennung zu verbessern. Eine Spielwiese für Entwickler:innen.

Nach der Arbeit setzte sich Youssef zu Hause an den Computer und arbeitete an einer KI, die die Schriftrollen entziffern sollte. Ein halbes Jahr lang trainierte er sie mit Bildern der antiken Papyrusrolle, dann hatte er Erfolg: Die KI machte zugänglich, was vorher unlesbar gewesen war. Die BBC berichtete über ihn, das Time Magazine, auch die ZEIT. Es war eine Sensation. Youssef sagt: “Mir war nicht klar, welche Wirkung mein Projekt haben würde. Alle waren so aufgeregt.”

Youssef schaffte in wenigen Monaten von seiner Wohnung am Berliner Stadtrand aus etwas, woran sich Wissenschaftler:innen jahrhundertelang die Zähne ausgebissen hatten. Heute sagt er selbst: “Das könnte die Archäologie revolutionieren.” Denn mithilfe solcher Programme könnte die Welt Zugang zu antikem Wissen bekommen, das vorher verschlossen war.

Allerdings ergibt sich dabei ein neues Problem: Es lässt sich kaum nachvollziehen, wie die KI eigentlich zu ihrem Ergebnis gekommen ist – verbunden mit der Frage: Stimmt es überhaupt, was sie als Lösung präsentiert?

In der Fachzeitschrift Nature erschien im vergangenen Jahr eine Umfrage, an der 1.600 Wissenschaftler:innen aus aller Welt teilgenommen hatten. Mehr als die Hälfte von ihnen sagten: Der Einsatz von KI beschleunige die Forschung und spare Geld. Doch fast zwei Drittel der Befragten meinten auch: KI könne dazu führen, dass man Teile der eigenen Forschung nicht mehr gänzlich verstehe. Man habe zwar das Ergebnis, könne aber den Prozess nicht mehr begreifen.

Der Biochemiker Julian Beck und die Juristin Julia Klaus bestätigen das. Die KI übernehme immer größere Forschungsbereiche. Viele Promovierende sind abhängig von ihr. Nur werde dabei immer unverständlicher, wie genau sie arbeitet. Eine Blackbox.

Doch der Doktorand Youssef Nader arbeitet daran, auch dieses Problem zu lösen.

Mit zwei Klicks öffnet er auf dem Laptop sein Promotionsprojekt: ein Fenster, in dem bunte Codes flimmern. Zwischen den Textzeilen tauchen kleine Diagramme auf, eingebettet in Buchstaben und Zahlen. Es sieht unspektakulär aus, könnte aber einige Fragen beantworten, die der KI-Rausch in der Forschung aufwirft. Youssef forscht für seine Doktorarbeit zu sogenannter Explainable AI. Sein Ziel: Die KI soll Lösungswege transparent machen, nachvollziehbar. Nur so, sagt er, könne man das Blackbox-Gefühl überwinden und Kontrolle über die Forschung behalten. “Denn egal wie gut die Ergebnisse sind”, sagt Youssef, “am Ende ist KI nur eine Maschine.” Und eine Maschine müsse ein Werkzeug bleiben.