Der österreichische Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen zwischen der rechten FPÖ und der christdemokratischen ÖVP die Politiker aller Parteien zu Kompromissbereitschaft aufgefordert. Das sei das „Erfolgsgeheimnis“ der österreichischen Republik seit der Nachkriegszeit gewesen, sagte Van der Bellen am Mittwochabend. Er will nun in Gesprächen mit den Parlamentsparteien ausloten, wie es in Wien weitergehen soll.
Van der Bellen nannte vier Möglichkeiten. Der Nationalrat könne Neuwahlen beschließen, bis dahin würde die bestehende Regierung unter dem Außenminister und amtierenden Bundeskanzler Alexander Van der Bellen weiter die Amtsgeschäfte führen. Oder er könne – wie schon 2019 nach der Ibiza-Affäre – eine Beamtenregierung ernennen, die „für eine gewisse Zeit“ das Land führt. Drittens nannte das Staatsoberhaupt die Möglichkeiten einer vom Parlament tolerierten Minderheitsregierung. Oder aber die Parteien, die seit der Nationalratswahl im September 2024 in mehreren Konstellationen bisher vergeblich miteinander sondiert und verhandelt haben, fänden doch noch eine Lösung für eine tragfähige Regierungsmehrheit.
Zuvor war der zweite Versuch einer Regierungsbildung gescheitert. Am Nachmittag teilte Herbert Kickl, der Vorsitzende der FPÖ, die die Wahl als stimmenstärkste Kraft gewonnen hatte, in Wien mit, er habe den Auftrag zur Regierungsbildung „zurückgelegt“. Das habe er dem Bundespräsidenten mitgeteilt. Zuvor hatte er ein letztes, kurzes Gespräch mit dem ÖVP-Vorsitzenden Christian Stocker geführt. Die FPÖ hatte seit Anfang Januar mit der ÖVP über eine Rechts-mitte-Koalition verhandelt. Zuvor waren Versuche der ÖVP gescheitert, eine Mitte-Links-Regierung mit Sozialdemokraten (SPÖ) und Liberalen (Neos) zu bilden.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Der wichtigste Punkt, über den sich FPÖ und ÖVP nicht einigen konnten, war die Ressortverteilung. Beide beanspruchten für ihre Partei das Finanz- und vor allem das Innenministerium. Seit Beginn dieser Woche wurden verschiedene Kompromissvorschläge medial kolportiert, die entweder auf eine Teilung der Kompetenzen des Innenministeriums hinausliefen, oder auf das Zugeständnis eines Innen-Staatssekretärs für die jeweils andere Seite. Doch wiesen FPÖ und ÖVP die Vorschläge wechselseitig zurück. Dass diese Verhandlungen zuletzt praktisch öffentlich stattfanden, begleitet von gegenseitiger Kritik, ließ bereits das Scheitern erwarten.
Mit der Erklärung Kickls setzte ein Reigen gegenseitiger Schuldzuweisungen ein. Kickl schrieb, es sei die Volkspartei gewesen, die verlangt habe, statt über Inhalte über die Ressortverteilung zu sprechen. „Obwohl wir in den darauffolgenden Gesprächen der ÖVP in vielen Punkten entgegengekommen sind, waren die Verhandlungen zu unserem Bedauern letztlich nicht von Erfolg gekrönt.“ FPÖ-Generalsekretär Christian Hafenecker warf den Christdemokraten vor, es sei ihnen „nur ausschließlich um Machtfragen und Postenschacher“ gegangen, nicht aber um Lösungen für Österreich. „Mehrfach hat die FPÖ Kompromisse angeboten, etwa bei der Frage der EU-Agenden oder den Zuständigkeiten für Kunst und Kultur. Beim Thema Sicherheit, Asyl und Migration war für uns aber eine Grenze erreicht, denn dabei handelt es sich um freiheitliche Kernthemen.“
Aus den unterschiedlichen ÖVP-Gliederungen hieß es hingegen, der „Machtrausch“ Kickls habe eine Regierungsbeteiligung der FPÖ verhindert (Bauernbund). Kickl habe gezeigt, „dass es ihm nicht um das Gemeinwohl geht, sondern um Machtspielchen und die alleinige Kontrolle“ (Arbeitnehmerbund). Der Wiener ÖVP-Landesvorsitzende Karl Mahrer sagte, die Volkspartei habe verhandelt, um Verantwortung für das Land zu übernehmen. „Doch es gibt rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen: das klare Bekenntnis zur Europäischen Union und unserer Rechtsordnung, der Schutz der Medienfreiheit, der Kampf gegen Antisemitismus und das Vertrauen der internationalen Geheimdienste. Kickl hat mit seinen extremen Forderungen klar gezeigt, dass er diese Grundsätze nicht respektiert.“ Der FPÖ-Chef habe versucht, Europa-, Verfassungs- und Medienzuständigkeit sowie die Sicherheitsapparate „an sich zu ziehen und damit die demokratischen Strukturen unseres Landes zu gefährden“, gab Mahrer an.
SPÖ und Neos, die bereits zwei Monate ergebnislos mit der ÖVP verhandelt hatten, sowie die Grünen, die bisher zusammen mit der Volkspartei regieren, zeigten sich offen für weitere Gespräche. Auch die Unterstützung einer Expertenregierung wurde nicht ausgeschlossen. SPÖ-Chef Andreas Babler ließ wissen, dass er Van der Bellen mitgeteilt habe, sowohl eine Expertenregierung zu unterstützen als auch für weitere Verhandlungen bereit zu stehen. Ähnlich auch Grünen-Chef Werner Kogler: Der Bundespräsident werde den nächsten Schritt „mit gewohnter Weitsicht und Umsicht setzen”. Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger sagte, es sei nun rasch eine “handlungsfähige Regierung” notwendig.