Manchmal hat man als Forscher auch Glück. So wie jetzt die rund 360 Mitglieder des Forscherteams, das das „Cubic Kilometer Neutrino Telescope“, kurz KM3NeT, im Mittelmeer aufbauen. Zwar liefert es bereits seit 2015 Daten, doch eigentlich ist das Instrument noch nicht ganz fertig, weswegen keiner der Wissenschaftler und Ingenieure damit rechnen konnten, so bald eine wichtige Beobachtung veröffentlichen zu können.
Doch genau das ist nun passiert. In der heutigen Ausgabe des Magazins Nature verkündet das Team eine spektakuläre Entdeckung: Das höchstenergetische Neutrino, das jemals nachgewiesen wurde. Es hat dreißigmal mehr Wumms als der bisherige Rekordhalter.
Wobei der Wumms hier im Verhältnis gesehen werden muss. In der von den Elementarteilchenphysikern verwendeten Einheit hat das Partikel eine Energie von mindestens etwa 120 Peta-Elektronenvolt, wahrscheinlich aber rund das Doppelte. Ein Elektronenvolt ist etwa die Energie eines Lichtteilchens im nahen Infrarot, also der Wärmestrahlung, und „Peta“ bedeutet tausendmal so viel wie „Tera“, eine mittlerweile den meisten aus der Welt der Datenspeicher geläufige Vorsilbe, die „Billion“ bedeutet. 120 Peta-Elektronenvolt sind also 120 Billiarden Elektronenvolt.
Nichts wiegt weniger
Nach menschlichem Maß ist das eigentlich nicht viel – es entspricht etwa der Schallenergie eines geflüsterten Wortes. Aber es ist ziemlich viel für ein Elementarteilchen. Das energiereichste subatomare Partikel, das bisher nachgewiesen wurde, besaß zwar zweitausend Mal mehr Energie, doch dabei hatte es sich mit Sicherheit um ein schweres und elektrisch geladenes sogenanntes Hadron gehandelt, also um ein Proton oder einen noch schwereren Atomkern. Das nun gemessene Teilchen ist aber in Neutrino, gehört also zu den allerleichtesten bekannten Elementarteilchen, die überhaupt etwas wiegen.
Teilchenfalle in der Tiefsee
Dazu bedarf es enormer Volumina an Detektormaterial, damit zumindest ab und an mal eines dieser Geisterteilchen, wie sie auch genannt werden, mit einem Atomkern reagiert. Im Fall von KM3NeT sind es der namensgebende Kubikkilometer Mittelmeerwasser, aufgeteilt auf bislang zwei Standorte, einer vor Südfrankreich, der andere 80 Kilometer vor dem Südostzipfel Siziliens. An letzterem ging nun das kosmische Rekordneutrino ins Netz.
Das heißt, nicht direkt. Was nachgewiesen wurde, war ein anderes Elementarteilchen namens Myon, eine schwere und instabile Variante des Elektrons. Dieses Myon sauste vor genau zwei Jahren, in der Nacht zum 13. Februar 2023, durch die Tiefsee des Ionischen Meeres und erzeugte dabei einen Schauer aus kurzen blauen Lichtblitzen.
Sie waren zu kurz als dass menschliche Auge sie hätten wahrnehmen können, aber intensiv: Insgesamt 378 der 4140 der zu diesem Zeitpunkt bereits zu Wasser gelassenen und mit jeweils 31 Lichtsensoren bestückten Detektorkugeln des sizilianischen KM3NeT registrierten die blauen Blitze. Die hingen an Ketten zu jeweils 18 Kugeln in bis zu 3450 Metern Tiefe. Dorthin dringt kein bisschen Tageslicht mehr vor.

Das Myon vom 13. Februar 2023 kann nur von einem Neutrino erzeugt worden sein – vermutlich nur ein paar Kilometer westlich des Detektornetzes, wahrscheinlich durch Zusammenprall mit dem Atomkern eines Wassermoleküls. Denn das Netz ist richtungsempfindlich und meldete einen Einfall des Myons – und damit auch des ursprünglichen Neutrinos – aus einer Richtung nur 0,6 Grad über dem Horizont.
Um unter diesem Winkel zum Ort des Detektors zu gelangen, musste es zuvor die Gesteinsmassen Siziliens durchdrungen haben wie eine Gewehrkugel einen Wattebausch. So etwas kann nach Stand der Wissenschaft nur ein Neutrino. Und aus der aus den Lichtblitzen rekonstruierten Energie des Myons von um die 120 Peta-Elektronenvolt folgt, dass das Neutrino allermindestens diese Energie gehabt haben muss.
Bote aus einer fremden Galaxie
Womit sich die Frage stellt, woher es kam. Aus dem Weltraum – daran besteht kein Zweifel. Es gibt zwar auch jede Menge Neutrinos von der Sonne und solche, die von kosmischen Teilchen in der Erdatmosphäre erzeugt werden – doch die erreichen unmöglich solche Energien. 120 Peta-Elektronenvolt sind zehntausendmal mehr als was mit dem stärksten Teilchenbeschleuniger der Welt generiert werden könnte und zwanzig Mal mehr als das energiereichste Neutrino, das bisher registriert wurde – das war 2013 mit dem Detektorarray IceCube am Südpol, der ähnlich funktioniert wie KM3NeT, nur mit antarktischem Eis anstatt Meerwasser.
Die Richtungsempfindlichkeit vom KM3NeT erlaubt es den Forschern, die Herkunft auf eine knapp sechs Winkelgrad große Himmelsregion im Sternbild Wasserschlange einzugrenzen. Dort gibt es aber offenbar keine galaktischen Objekte, die derart energierieche Teilchen erzeugen könnten. Das sizilianische Neutrino muss also aus einer anderen Galaxie gekommen sein.
Eine „neue Komponente“ kosmischer Neutrinos?
Am wahrscheinlichsten aus einer mit einem aktiven Kern, wo ein supermassives Schwarzes Loch Materie schluckt und zuvor manches davon auf enorme Energien beschleunigt. Darunter sind dann auch Atomkerne, die anschließend auf andere Materie prallen und dabei derart hochenergetische Neutrinos erzeugen. Zwölf solche aktiven Galaxien konnten in dem Feld gefunden werden, berichten die Forscher in ihrer Nature-Veröffentlichung.
Wenn es aber diese kosmischen Höllenmaschinen gibt, warum sind derartige Teilchen nicht schon früher registriert worden, zum Beispiel mit IceCube? Die Messungen könnten durchaus auf eine „neue Komponente“ unter den durch den Kosmos sausenden Neutrinos hinweisen, schreiben die Forscher in ihrer Nature-Veröffentlichung. Das wären dann vielleicht Neutrinos aus einer ganz anderen Art astrophysikalischer Quellen als bisher erwogen wurde.
Es könnte sich bei dem nun registrierten Teilchen aber auch um das erste nachgewiesene sogenannte kosmogene Neutrino handeln. Dergleichen sollte entstehen, wenn ein hochenergetisches Proton auf ein Photon der kosmischen Hintergrundstrahlung trifft. Es müsste dann selbst natürlich auch beispielsweise in einem aktiven Galaxienkern auf Touren gebracht worden sein, wurde dann aber von den vielen Magnetfeldern im Kosmos auf gekrümmte Bahnen geschickt, auf denen es jede Information über seine ursprüngliche Flugrichtung verloren hat.
Vielleicht haben die KM3NeT-Forscher aber auch nur in einem statistischen Sinne Glück gehabt: Zum Zeitpunkt der Messung vor zwei Jahren hingen erst weniger als zehn Prozent ihrer Detektorkugeln einsatzbereit in der Tiefsee vor Sizilien. Extrapoliert man die bisher beobachtete Energieverteilung kosmischer Neutrinos zu höheren Energien, dann wären mit Messungen in dieser Ausbaustufe 70 Jahre ins Land gegangen, bevor sie mit solch einer Detektion hätten rechnen dürfen.