Islamisten-Anführer in Syrien: Der „pragmatische Radikale“ al-Golani

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Der Sturz des syrischen Machthabers Baschar al-Assad war das große Ziel von Abu Mohammed Al-Golani. Am Sonntag haben seine islamistischen Kämpfer die Hauptstadt Damaskus erobert und Assad zur Flucht gezwungen – 13 Jahre, nachdem Assad Proteste gegen die Regierung im Land mit Gewalt hatte niederschlagen lassen, 24 Jahre nach seinem Amtsantritt. Damit geht nach 54 Jahren die Ära des Assad-Clans zu Ende. Al-Golani zog am Sonntag als Sieger in Damaskus ein und ließ sich unter anderem in der berühmten Umayyaden-Moschee feiern.

Al-Golani ist der Chef von Hay’at Tahrir al-Scham (HTS), eines früheren Zweigs von Al-Qaida in Syrien, der sich allerdings vor Jahren offiziell von dem Terrornetzwerk lossagte. Die HTS-Kämpfer und verbündete Gruppen hatten nach Jahren des weitgehenden Stillstands im syrischen Bürgerkrieg am 27. November überraschend eine Großoffensive gegen die Regierungstruppen gestartet – und waren blitzschnell vorgerückt.

Wandel im Auftreten

Jahrelang hatte Al-Golani im Verborgenen agiert. Nun steht er im Rampenlicht, gibt Erklärungen ab und spricht mit internationalen Medien. Den Turban der Dschihadisten, den er noch zu Beginn des syrischen Krieges im Jahr 2011 trug, trug er immer seltener, stattdessen zeigt er sich vermehrt in einer Militäruniform.

Bereits seit seinem Bruch mit Al-Qaida im Jahr 2016 versuchte Al-Golani, sein Image zu glätten und sich moderater zu zeigen. Experten und westliche Regierungen überzeugte das nicht. Sie stufen die HTS weiter als Terrorgruppe ein.

Der Wissenschaftler Thomas Pierret von Frankreichs nationalem Forschungsinstitut CNRS nennt ihn einen „pragmatischen Radikalen“. 2014 sei Al-Golani auf dem Höhepunkt seiner Radikalität gewesen, sagt der Experte und verweist darauf, dass er sich damals gegen die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) habe durchsetzen wollen. Seitdem habe der HTS-Chef „seine Rhetorik gemildert“. In einem Interview mit dem amerikanischen Sender CNN, das vor mehreren Tagen geführt wurde, sagte Al-Golani etwa, dass niemand das „Recht habe, eine andere Gruppe auszulöschen“. In dem Gespräch betonte er, dass nun Syrien aufgebaut werden müsse, mit Institutionen und einer Regierung. Zu seiner eigenen Wandlung sagte er: „Ich glaube, dass jeder im Leben durch verschiedene Phasen geht […], eine Person mit 20 Jahren hat eine andere Persönlichkeit als jemand mit 30, 40 oder 50.

Al-Golani: Vom Schüler zur Milizführung

Der 1982 in Saudi-Arabien geborene Al-Golani wuchs in Masseh auf, einem gutbetuchten Stadtteil von Damaskus. Er stammt aus einer wohlhabenden Familie und war ein guter Schüler. Sein Vater war ein säkularer Gegner des alten Assad-Regimes. Während der aktuellen Offensive fing er an, seinen bürgerlichen Namen zu nutzen: Ahmed al-Scharaa. Mit diesem wird er auch in allen aktuellen Erklärungen seiner Miliz genannt.

2021 sagte er dem US-Fernsehnetzwerk PBS, sein Kampfname nehme Bezug auf die Wurzeln seiner Familie auf den Golanhöhen. Seinen Angaben zufolge war sein Großvater nach der israelischen Annexion der Gegend im Jahr 1967 zur Flucht gezwungen worden. Nach einem Bericht der Website „Middle East Eye“ fühlte sich Al-Golani erstmals nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zum Gedankengut der Dschihadisten hingezogen. Er habe an „geheimen Predigten und Podiumsdiskussionen in abgehängten Vororten von Damaskus“ teilgenommen.

Nach der US-geführten Invasion im Irak verließ er Syrien, um im Nachbarland zu kämpfen. Im Irak schloss sich er sich dem Terrornetzwerk Al-Qaida an und wurde anschließend fünf Jahre inhaftiert.

Im März 2011, als die Revolte gegen Assads Regierung in Syrien begann, kehrte er in sein Heimatland zurück und gründete die Al-Nusra-Front – den syrischen Ableger von Al-Qaida, aus dem später die HTS hervorging. 2013 weigerte er sich, Abu Bakral-Baghdadi, dem späteren Emir der IS-Dschihadistenmiliz, die Treue zu schwören. Stattdessen versicherte er dem Emir von Al-Qaida, Ayman al-Sawahiri, seine Loyalität.

Im Mai 2015 gab Al-Golani an, dass er im Gegensatz zum IS nicht die Absicht habe, Anschläge gegen den Westen auszuführen. Auch erklärte er, dass es im Fall einer Niederlage Assads keine Angriffe aus Rache gegen die alawitische Minderheit geben werde, der Assads Familie entstammt.

Als Al-Golani die Verbindungen zu Al-Qaida kappte, erklärte er, dies zu tun, um dem Westen keine Gründe zu geben, seine Organisation anzugreifen. Nach Angaben des Wissenschaftlers Pierret hat er seitdem versucht, sich auf den Weg zu einem „aufstrebenden Staatsmann“ zu machen.

Im Nordwesten Syriens zwang Al-Golani rivalisierenden islamistischen Gruppen im Januar 2017 einen Zusammenschluss mit der HTS auf und beanspruchte damit die Kontrolle über weite Teile der nordwestsyrischen Provinz Idlib. Die HTS baute in den von ihr kontrollierten Gegenden eine zivile Regierung auf und richtete eine Art Staat in Idlib ein, während sie zugleich ihre Rivalen zerschlug.

Der HTS wurden in dieser Zeit von Bewohnern und Menschenrechtsgruppen brutales Vorgehen gegen Andersdenkende vorgeworfen – die Vereinten Nationen stufen diese als Kriegsverbrechen ein.

Womöglich im Wissen um die Angst und den Hass, den seine Miliz hervorrief, hat Al-Golani sich an die Bewohner von Aleppo gerichtet, um ihnen zu versichern, dass ihnen nichts passieren werde. In Aleppo gibt es eine große christliche Minderheit. Außerdem rief er seine Kämpfer dazu auf, die Sicherheit in den nun eingenommenen Gebieten zu gewährleisten.

Das sei zunächst einmal ein politisch gutes Vorgehen, erklärte Aron Lund vom Politikinstitut Century International. „Je weniger Panik auf lokaler und internationaler Ebene herrscht und je mehr Al-Golani wie ein verantwortungsbewusster Akteur und nicht wie ein toxischer Dschihad-Extremist erscheint, desto einfacher wird seine Aufgabe.“ Zugleich schränkt der Experte ein: „Ist er völlig aufrichtig? Sicherlich nicht.“ Bei Al-Golanis derzeitigem Vorgehen sei aber klar: „Es ist das Klügste, was man im Moment sagen und tun kann.“