Christian Lindner vor FAZ-Lesern: Der Ketchup-Effekt

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Als Christian Lindner mit 20 Minuten Verspätung in der F.A.Z.-Redaktion ankommt, applaudiert Julia Juckel zurückhaltend. Juckel arbeitet in der Kommunikationsabteilung eines Unternehmens in Frankfurt und ist am Donnerstag zur F.A.Z.-Reihe „Fragen Sie die Spitzenkandidaten“ gekommen, weil sie, so formuliert sie es, fast etwas Mitleid mit dem „Sündenbock“ Lindner hat und mal hören will, ob der von Kanzler Scholz mit so harten Worten als Finanzminister entlassene Lindner „vielleicht nicht doch noch was zu sagen hat“.

Und Lindner hat viel zu sagen an diesem Abend. Seine Stimme klingt schon zu Beginn etwas strapaziert und belegt, schließlich ist Wahlkampfendspurt. Für Lindner und seine FDP geht es in den zehn verbleibenden Tagen um alles. Umfragen sehen sie seit Wochen unterhalb der Fünfprozenthürde und damit außerhalb des Bundestags.

„Ich hab das früher beruflich gemacht“

Reinhard Müller, bei der F.A.Z. verantwortlicher Redakteur für „Zeitgeschehen“, fragt zuerst nach dem Anschlag, den ein abgelehnter afghanischer Asylbewerber vor einigen Stunden in München verübt hat. Lindner, den obersten Hemdknopf geöffnet, keine Krawatte, braucht nur zwei Sätze, um auf sein Thema Nummer eins zu kommen: Der Staat kontrolliere die Bürger und sei zu bürokratisch. Bei den großen Lebensfragen wie der Sicherheit aber lasse er sie im Stich.

Damit ist der Ton des Abends gesetzt. Egal, wie die Frage lautet: Lindner kommt immer wieder auf Bürokratieabbau und unnötige Ausgaben zurück. Deutschland sei die viertgrößte Wirtschaft der Welt und habe eine „erschreckend hohe Staatsquote“. Das sei eine gute Nachricht, weil es bedeute, dass eigentlich genug Geld da sei. Es werde nur falsch ausgegeben. „Wir haben – ich hab das früher beruflich gemacht – keinen Mangel an öffentlichen Mitteln“, sagt Lindner und erntet einige Lacher im Publikum. Es habe stattdessen einen Mangel an Disziplin im Umgang mit diesen Mitteln.

Als ein Leser in diese Kerbe schlägt und fragt, wo im Staat man die Kettensäge ansetzen könne, greift Lindner das dankbar auf. Von 700 Bundesbehörden könne man 100 streichen, die Ebene der Unterabteilungsleiter in den Ministerien abschaffen und Ministerien zusammenlegen, etwa Wirtschaft und Arbeit oder Auswärtiges und Entwicklungszusammenarbeit. „Wir müssen da ran, Sie haben es schon nahegelegt“, sagt er an den Leser gerichtet, „mit schweren Werkzeugen“. Den umstrittenen Begriff Kettensäge, eine Anspielung auf Argentiniens Präsident Milei, nennt Lindner nicht.

Blick ins Publikum
Blick ins PublikumFrank Röth

Als Müller fragt, warum die FDP so lange bei vier Prozent in den Umfragen verharrt sei, entgegnet Lindner: Derzeit habe die FDP ein Mobilisierungsproblem. FDP-Wähler seien besonders rational und deshalb anfällig für das Argument der verlorenen Stimme. Also dafür, die FDP nicht zu wählen, weil sie laut Umfragen die Fünfprozenthürde und damit den Einzug in den Bundestag verfehlen könnte. Aus diesem Grund sei es so wichtig, dass eine Allensbach-Umfrage, die am Freitag in der F.A.Z. erscheint, die FDP erstmals wieder bei fünf Prozent sieht. Lindner sagt, er hoffe auf den „Effekt einer Ketchupflasche, wo lange gar nichts rauskommt“ und es dann auf einmal flutscht.

Lindner auf dem Podium der Veranstaltungsreihe „Fragen Sie die Spitzenkandidaten“ im F.A.Z.-Tower
Lindner auf dem Podium der Veranstaltungsreihe „Fragen Sie die Spitzenkandidaten“ im F.A.Z.-TowerFrank Röth

Damit ist er beim zweiten großen Thema des Abends angekommen: der fatalen Lage der FDP. Die Frage, ob es ihn überrascht habe, dass CDU-Chef Friedrich Merz vier Prozent für die FDP als vier Prozent zu viel bezeichnet habe, verneint Lindner: „Wahlkampf ist sportiv, das muss auch so sein. Ich kann das ja auch. Ich empfehle keinem CDU-Wähler seine Partei zu wählen!“ Ob die CDU 29 oder 33 Prozent bekomme, mache keinen Unterschied. 4,9 versus fünf Prozent bei der FDP hingegen würden die Republik verändern. „Keine Partei kann Ihnen einen so guten Deal anbieten wie die FDP“, sagt Lindner.

FDP als Bollwerk gegen Schwarz-Grün

Wenn die FDP in den Bundestag einziehe, so Lindner, sei Schwarz-Grün rechnerisch ausgeschlossen. Womöglich reiche es nicht einmal für Schwarz-Rot. Dann müsse die FDP dazugeholt werden. Eine solche Deutschland-Koalition würde verhindern, „dass die CDU zu einem Chamäleon wird“, also die Farbe ihres linken Koalitionspartners annehme. „Ich hab das Gefühl, alles spricht für die Wahl der FDP“, ruft er.

SonntagsfrageWie stehen die Umfragen vor der Bundestagswahl?

Dafür, dass das heute sein dritter Auftritt ist und ihn morgen drei weitere erwarten, ist Lindner erstaunlich konzentriert. Er merkt sich die Namen aller Fragesteller. Einen Abiturienten mit Nachnamen Süß, der angibt, nicht die FDP zu wählen, bindet er immer wieder mit Formulierungen wie „die Generation Süß“ ein.

Als Julia Juckel ihn nach dem „German Vote“ fragt, also der Enthaltung Deutschlands bei EU-Abstimmungen, sagt er: Es sei nicht so gewesen, wie gelegentlich das Narrativ gewesen sei, „die böse FDP und so – Sie nicken, Frau Juckel“, sondern es sei schlicht wegen der Uneinigkeit in der Ampel dazu gekommen. Das würde in einer nächsten Koalition ähnlich sein, wenn diese wieder lagerübergreifend sei.

„Und deshalb fände ich es mal ganz gut, wenn einmal wieder eine Koalition gebildet werden könnte, der keine linke Partei angehört. Dann wäre German Vote erledigt. Und vielleicht denkt Herr Süß noch mal darüber nach, ob er auch in diese Richtung gehen will, ich hätte da eine Empfehlung“, sagt Lindner unter Lachen und Applaus des Publikums.

Nach der Veranstaltung sagt Julia Juckel, sie habe Lindner viel weniger arrogant gefunden als gedacht. „Nicht wie bei Phoenix oder Lanz.“ Er habe sympathisch und motiviert auf sie gewirkt. Und erstaunlich gelöst – dabei gehe es ja durchaus um was.