„Diesen einen Tätertyp“ gibt es nicht

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Herr Mücke, Sie arbeiten seit Jahrzehnten in Präventionsprojekten gegen Gewalt. Können Sie sich die Häufung der jüngsten Anschläge und Amoktaten erklären?

Leider nein. Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass sehr viele Menschen verletzt oder getötet wurden. Es wurden viel Leid, Angst und Schrecken verbreitet, die eine enorme Reaktion im politischen Raum ausgelöst haben. Bisher bewegt sich alles im hypothetischen Bereich. Aber diese Wirkung kann sehr anziehend sein, dass ein einzelner Mensch so eine Reaktion erreichen kann.

Ist das noch Extremismus?

Das Problem ist: Alle diese Täter aus den letzten Monaten sind unterschiedlich – Mannheim, Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg, jetzt München. Man muss sagen, dass es diesen einen Tätertyp nicht gibt. Wir hoffen immer auf den typischen Fall, aber man bekommt ihn nicht. Gemeinsam ist den Taten die starke Wirkung, die sie entfaltet haben und mit der die Täter ein Machtbedürfnis stillen konnten. „Ich entscheide über Leben und Tod von Menschen und treffe die gesamte Gesellschaft.“ Das ist eine unglaubliche Wirkung, die ein einzelner Mensch erfahren kann.

Das klingt nach psychischer Labilität. Wie erklären Sie sich die ähnliche Herkunft der meisten dieser Täter?

Ich bin da vorsichtig. Und ich habe auf vieles noch keine Antwort. Aber es ist natürlich immer ein großes Problem, wenn Menschen glauben, keine Perspektive mehr zu haben. Dann sind sie bereit, extreme Dinge zu tun. Vielleicht geht es in manchen Fällen so weit, dass sich die Täter wieder der Gesellschaft ihrer Herkunftsländer anpassen wollen. Aber der Münchener Täter war anders. Er galt als integriert, konnte arbeiten und war nicht von Abschiebung bedroht.

Thomas Mücke ist Mitbegründer und Geschäftsführer des Violence Prevention Network, das seit Jahren in der Prävention von Gewalttaten und der Deradikalisierung von Extremisten aktiv ist.
Thomas Mücke ist Mitbegründer und Geschäftsführer des Violence Prevention Network, das seit Jahren in der Prävention von Gewalttaten und der Deradikalisierung von Extremisten aktiv ist.Wolfgang Eilmes

Welche Schlüsse können Sie aus Ihrer Arbeit mit Gewalttätern ziehen?

Wir müssen unsere Risikobewertung anpassen. Es gibt bestimmte Risikofaktoren, ganz unabhängig von der Ideologie. Wenn, wie im Fall von Aschaffenburg, ein Mann in einer Polizeiwache randaliert und offensichtliche psychische Probleme hat, muss etwas passieren. Oder wenn jemand wie im Fall Magdeburg ganz eindeutige Gewaltphantasien äußert. Es gibt bestimmte Raster wie Drogen, Kriminalität – Ideologie ist nur eines davon.

Kann die Gesellschaft das angesichts der Vielzahl von Menschen, die durch Trauma und Flucht labil sein könnten, überhaupt leisten?

Ich arbeite seit Jahrzehnten mit Flüchtlingskindern. Wir haben in all den Jahrzehnten nie ausreichende Strukturen für traumatisierte Flüchtlingskinder geschaffen. Wir könnten die Gesundheitsversorgung viel besser darauf einstellen. Es ist also ein jahrzehntealtes Problem, über das wir jetzt diskutieren. Aber man darf auch nicht vergessen, wie viel getan wurde – und wie viele Anschläge möglicherweise verhindert wurden. Wir hatten große Angst vor den Rückkehrern aus dem syrischen Bürgerkrieg. Da gab es Extremisten, von denen große Gefahr ausging. Aber kein einziger Anschlag ist geschehen, weil wir rechtzeitig reagiert haben und gut vorbereitet waren.

Was können wir also tun?

Wir können nicht alle aufhalten. Und es wird ständig neue Herausforderungen geben. Eine demokratische Gesellschaft wird Terror- und Amoktaten nie ausschließen können. Aber es ist enorm wichtig, wie eine Gesellschaft reagiert, dass sie sich nicht von diesen Taten in den Abgrund treiben lässt. Denn den Tätern ist genau diese Wirkung wichtig. Der Terror will, dass die Gesellschaft zusammenbricht.