Ursula von der Leyens Ankündigung, sie wolle für die Erhöhung der Rüstungsausgaben der EU-Mitgliedstaaten die sogenannte „Ausweichklausel“ aktivieren, kommt nicht überraschend. Schon nach dem EU-Gipfel am vorvergangenen Montag hatte die EU-Kommissionspräsidentin gesagt, sie wolle den Mitgliedstaaten keine Steine in den Weg legen, wenn diese ihre Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen wollten. Das sei wegen der russischen Aggression und der erheblich gesunkenen Bereitschaft der USA, weiter die europäische Verteidigung mitzufinanzieren, gar nicht anders denkbar. Sie werde die EU-Budgetregeln in dieser Frage mit der „größtmöglichen Flexibilität“ behandeln, sagte von der Leyen damals.
Nun ist klar, wie sie das konkret meint: Sie will die „nationale Ausweichklausel“ für die EU-Budgetregeln aktivieren. Im Kern war diese Klausel schon Teil des ursprünglichen EU-Stabilitätspakts von 1997, auch wenn sie in der Zwischenzeit mehrfach leicht angepasst wurde. Insofern will von der Leyen den Pakt jetzt nicht abschaffen – sondern „nur“ (abermals) aussetzen.
Rubio: Wir subventionieren Sozialprogramme
Die Ausweichklausel erlaubt es einem Mitgliedstaat, von dem mit der Kommission vereinbarten Nettoausgabenpfad für die kommenden Jahre nach oben abzuweichen. Voraussetzung ist das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, die sich der Kontrolle des Mitgliedstaats entziehen und erhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen des betreffenden Mitgliedstaats haben.
Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen haben die höheren Verteidigungsausgaben unstrittigerweise. Strittiger ist, ob die Umstände, die sie notwendig machen, sich der Kontrolle der Mitgliedstaaten völlig entziehen. Der amerikanische Außenminister Marco Rubio hat es kürzlich bezweifelt. „Wenn man Deutschland oder Frankreich fragt, warum sie nicht mehr für die nationale Sicherheit ausgeben können, lautet ihr Argument, dass sie dann Kürzungen bei Sozialprogrammen, beim Arbeitslosengeld, bei der Möglichkeit, mit 59 in Rente zu gehen, und bei all diesen anderen Dingen vornehmen müssten. Das ist die Entscheidung, die sie getroffen haben. Aber wir subventionieren das“, sagte Rubio in einem Podcast-Gespräch.
Diese Äußerung wirft ein Schlaglicht darauf, warum Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die EU-Schuldenregeln seit langem „obsolet“ nennt und sie ganz abschaffen möchte. Macron hält eine Einmischung der EU in die nationale Haushaltspolitik ganz generell für unzumutbar.
Stabilitätspakt wird wieder ausgesetzt
Von der Leyen will den Stabilitätspakt nicht zum ersten Mal aussetzen. In der Corona-Krise hatte die EU 2020 die „allgemeine“ Ausweichklausel aktiviert, mit der die EU-Budgetregeln komplett ausgesetzt wurden. Erst im vergangenen Jahr, nach einer weiteren Reform der Regeln, wurde dieses Aussetzen beendet.
Die damalige Voraussetzung – ein schwerer Wirtschaftseinbruch – wäre jetzt nicht erfüllt, deshalb gilt die Ausweichregel nur für jeweils ein Land. Von der Leyens Interpretation – kein Land trägt die Verantwortung dafür, dass es mehr für Rüstung ausgeben muss – dürfte aber darauf hinauslaufen, dass viele Staaten davon Gebrauch machen werden. Damit wird die Ausweichklausel faktisch ebenfalls ziemlich allgemein angewandt und der Stabilitätspakt tatsächlich schon wieder ausgesetzt.
Eine Diskussion bleibt damit vorerst auf Eis: Eurobonds für die Verteidigung, auf dem EU-Gipfel in der vergangenen Woche vielfach gefordert, kommen erst einmal nicht. Bezahlen für mehr Verteidigung sollen die Mitgliedstaaten selbst, die ja die Rüstungsgüter auch kaufen. Freilich ist unwahrscheinlich, dass die Diskussion über eine EU-Verschuldung für die Rüstung endgültig vom Tisch ist. Vielleicht ist auch hier die Pandemie das Vorbild. Im März 2020 beschloss die EU die Aussetzung des Stabilitätspakts. Im Juli, also nur vier Monate später, beschloss sie die erstmalige (und als einmalig deklarierte) Verschuldung für den EU-Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro.