Wenn Vorstandschef Ola Källenius kommende Woche anlässlich der Bilanzpressekonferenz den Mercedes CLA als Hoffnungsträger seines Unternehmens vorführt, geschieht das zu einem traditionsreichen Zeitpunkt. Fast auf den Tag genau jährt sich zum 100. Mal die Geburt der Marke Mercedes-Benz. Am 18. Februar 1925 meldeten die Daimler-Motoren-Gesellschaft und das Unternehmen Benz & Cie. das neue gemeinsame Logo an: den Mercedes-Stern von Daimler im Lorbeerkranz von Benz – ein Vorgriff auf die Fusion, die zum 28. Juni 1926 wirksam wurde und die Unternehmen der beiden Autopioniere Carl Benz und Gottfried Daimler zusammenführte.
Ein Jahrhundert nach dem symbolträchtigen Akt beginnt der aus Schweden stammende Nachfolger von Benz und Daimler nun die Fahrzeuge auf den Markt zu bringen, die Mercedes nach den Vorstellungen von Ola Källenius künftig definieren müssen: „Wir haben den Anspruch, die begehrtesten Autos der Welt zu bauen.“ Es ist eine Neupositionierung mit Irrungen und Wirrungen, denn seit Mercedes die neue Strategie unter dem Motto „Economics of Desire“ vor knapp drei Jahren an der Côte d’Azur vorstellte, musste Källenius nachsteuern, korrigieren, umplanen. Mit dem CLA und den bis zum Ende der Dekade auf den Markt kommenden Modellen soll die „Luxusstrategie“ nun endlich greifen.
Doch ob das gelingt, hängt nicht allein am Erfolg der neuen Fahrzeuge – es wird auch darauf ankommen, ob Mercedes die aktuellen Probleme in den Griff bekommt. Denn seit dem Ausrufen des Strategieschwenks am glitzernden Mittelmeer haben sich die Zeiten geändert. Der baden-württembergische Traditionskonzern kämpft mit sinkenden Verkäufen, der Aktienkurs hat seit April 2024 mehr als 20 Prozent eingebüßt, ein für Mercedes ungewohntes Sparprogramm verunsichert die Belegschaft – und der Druck auf Vorstandschef Källenius wächst.
Mercedes ist nun „taktisch flexibel“
Die Herausforderungen sind vielfältig: Angesichts des stockenden Hochlaufs der Elektromobilität musste Mercedes den Anspruch revidieren, von 2030 an möglichst nur noch vollelektrische Fahrzeuge zu verkaufen. Vielmehr agiert der Konzern nun „taktisch flexibel“ mit Werken, in denen das Unternehmen noch lange sowohl Elektroautos als auch Verbrennerfahrzeuge produziert. Manager im Unternehmen schätzen die Kosten für die Doppelstrategie auf mehrere Milliarden Euro. Der Grund liegt in der großen Komplexität: Denn für so gut wie alle Modelle muss Mercedes alle Antriebsformate vorhalten.
Dazu kommt ein echtes Horrorjahr 2024: Nach schlechten Absatzzahlen und einer Prognosekorrektur sackte der operative Gewinn im dritten Quartal im Vergleich zum Vorjahr um 48 Prozent auf nur noch 2,5 Milliarden Euro ab. Die Ergebnisse der Automobilsparte brachen sogar um 64 Prozent auf 1,2 Milliarden Euro ein, während der Konzernumsatz um 6,7 Prozent auf 34,5 Milliarden Euro sank. Die Umsatzrendite im Autogeschäft lag damit zwischen Juli und September bei 4,7 Prozent. Vor allem Luxusfahrzeuge wie S-Klasse, G-Klasse und AMG-Modelle haben keine Käufer gefunden. Zudem brachen die Verkäufe in China ein, die Kunden dort fanden Mercedes zuletzt schlicht zu teuer und zu unattraktiv. Und auch die Aussichten für 2025 sind schlecht: Symbol dafür ist die Factory 56 in Sindelfingen, die die für Mercedes so wichtige S-Klasse baut. Bis Ende des Jahres läuft die Produktion voraussichtlich im Einschichtbetrieb. Das Nachfolgemodell als elektrische Variante und mit Verbrennungsmotor ist erst für 2028 geplant.
Nachsteuern musste Mercedes auch bei den „Economics of Desire“. Teure Autos mit edler Ausstattung – und am liebsten nur noch elektrisch, so hatte sich das Källenius im Mai 2022 vorgestellt. „Was schon immer der Kern unserer Marke war, ist nun auch der Kern unserer Strategie: das Luxussegment“, sagte er damals – in einer Zeit, als die Halbleiter zu Pandemiezeiten immer knapper wurden, die wenigen Chips vor allem in die profitabelsten Autos eingebaut wurden und so eine Umsatzrendite von mehr als 14 Prozent erwirtschaftet wurde.
„Bei der Luxusstrategie hat Mercedes nun die Mitte gefunden. Anfangs hat vor allem Ola Källenius die goldenen Nähte im Maybach betont, jetzt setzt man verstärkt auf Zeitlosigkeit – und damit auf die bewährten Produkte: Der Kunde will keinen EQS, sondern eine S-Klasse – und dann ist es fast egal, ob sie einen Verbrenner oder einen Elektromotor hat“, sagt Simon Jäger, Analyst bei Deutschlands größtem unabhängigen Vermögensverwalter Flossbach von Storch. Bekannte Modelle, markantes Mercedes-Profil, hohe Preise – dazu bringt der Autohersteller bis 2028 mehr als zehn Modelle auf den Markt.
Aerodynamisch geformt wie rund gelutschte Brausebonbons
Design-Center von Mercedes in Sindelfingen, ein hoher Ausstellungsraum mit Oberlicht, grauer Teppichboden: Unter dunklen Seidentüchern stehen die Autos der kommenden Jahre und drehen sich auf ihren Plattformen. Nach und nach ziehen Assistentinnen die Stoffe von den glänzenden Karossen. Källenius streicht über das Glasdach des CLA und spricht über die Designsprache, die er gemeinsam mit seinem Kreativchef Gorden Wagener entwickelt hat. Vor der C-Klasse, die 2026 auf den Markt kommt, bleibt er stehen, deutet auf den Wabengrill an der Front des Autos. „Alle künftigen Modelle werden ihn wieder haben und wieder nach Mercedes aussehen, so wie wir es von Mercedes kennen“, sagt Källenius. Deutlicher könnte die Abkehr von den vor Jahren als neue Flaggschiffe entwickelten elektrischen Modellen EQS und EQE kaum sein. Aerodynamisch geformt wie rund gelutschte Brausebonbons – so lauten noch harmlosere Bezeichnungen, mit denen selbst Mercedes-Manager die Ladenhüter des Autoherstellers bezeichnen. Doch das wieder markantere Erscheinungsbild ist nur die äußere Hülle der „Economics of Desire“: Kern ist der Ansatz, die gesamte Modellpalette in Richtung Luxus zu verschieben und sich auf hochpreisige und margenstarke Segmente zu konzentrieren.
Der Mercedes CLA, der im Frühsommer bei den Händlern sein soll, macht dabei den Anfang und löst die A- und B-Klasse ab. Weil der CLA wesentlich größer und teurer ist als seine Vorgänger, kommt der Schritt der Aufgabe des Kompaktsegments und der endgültigen Abkehr von der Strategie Dieter Zetsches gleich: Der Vorgänger von Källenius hatte den Konzern auf Wachstum und immer höhere Stückzahlen getrimmt, um mit preisgünstigeren Modellen auch junge Menschen an die Marke heranzuführen. „Der Ansatz, im Premiumbereich stärker zu punkten und auf Klasse statt Masse zu setzen, ist richtig“, sagt Analyst Jäger. „Mercedes muss nicht für jeden Geldbeutel ein Auto anbieten, Mercedes hat keine soziale Funktion und nicht die Mission, die Menschen mit Mobilität zu versorgen. Mercedes will begehrenswerte Produkte verkaufen. Und dafür ist der CLA, der wahrscheinlich mehr als 50.000 Euro kostet, das neue Einstiegsprodukt – aber eben im Premiumbereich.“
Im Design-Center sitzt Källenius auf der Rückbank des CLA, der hochgewachsene Manager reckt sich, um zu demonstrieren, wie viel Platz das elektrische Coupé auch hinten bietet. Es ist das erste Modell, das auf der neuen Mercedes Modular Architecture (MMA) basiert und in dem die umfassende Version des neuen Betriebssystems MB.OS zum Einsatz kommt. 750 Kilometer Reichweite, der Verbrauch beträgt zwölf Kilowattstunden je 100 Kilometer. „Schon gut, oder?“, fragt Källenius beim Aussteigen. Doch bei allem Wirbel um das neue Modell – Analyst Jäger warnt davor, den Erfolg der Strategie allein am CLA zu messen. „Das ist zu kurz gesprungen, weil bis Ende der Dekade die gesamte Modellpalette erneuert wird“, meint Jäger. „Denn das Geld verdient Mercedes mit den E- und S-Klassen, die mit hochwertigen Ausstattungen noch zusätzlich profitabel gemacht werden.“
Sanierungsprogramm soll Milliarden sparen
Gerade allerdings könnte der Gegensatz zwischen diesen Hoffnungen und der aktuellen Lage nicht größer sein. Schon bei der Vorstellung des Gewinneinbruchs im Oktober hatte Finanzchef Harald Wilhelm das angekündigt, was er dann im November gemeinsam mit Källenius dem Topmanagement des Herstellers vorstellte: ein Sanierungsprogramm, mit dem Mercedes bis 2027 mehr als fünf Milliarden Euro einsparen will. „Next Level Performance“ umfasst alle Unternehmensbereiche von der Produktion über Vertrieb und Verwaltung bis zur Entwicklung. Wie genau gekürzt, gespart, beschnitten werden soll, will Källenius ebenfalls nächste Woche vorstellen.
Klar ist allen Beteiligten, dass ein Einsparvolumen in dieser Höhe nur realistisch ist, wenn Mercedes auch Stellen abbaut. „Die Situation ist nicht einfach, wir werden über variable Kosten, aber auch über Fixkosten in der Produktion, in der Logistik und beim Material reden“, sagt Gesamtbetriebsratschef Ergun Lümali im Gespräch mit der F.A.Z. „Und mit Sicherheit wird der Vorstand uns auch mit Personalkosten konfrontieren.“
Wie viele Stellen wegfallen sollen, dazu wollen sich weder das Unternehmen noch Lümali äußern. Im Unternehmen kursieren Zahlen von bis zu zehn Prozent der weltweiten Arbeitsplätze. Insgesamt beschäftigt der Konzern 166.000 Menschen, davon 114.000 in Deutschland. In Deutschland würden nach dieser Rechnung mehr als 10.000 Jobs wegfallen. Eine 2020 ausgehandelte Zukunftssicherung schließt betriebsbedingte Kündigungen an deutschen Standorten bis 2030 allerdings aus. Lümali möchte die „Zusi“ gerne bis 2035 verlängern. Die Verhandlungsbereitschaft aufseiten des Vorstands ist dafür allerdings zurzeit nicht sehr ausgeprägt.
Der Traditionskonzern ist dabei kein Sanierungsfall. „Den Vergleich mit Volkswagen darf man nicht ziehen. Mercedes steht sowohl finanziell als auch innovationstechnisch sehr gut da, aber man muss nun trotzdem schauen, wo Einsparpotentiale vorhanden sind, ohne dass Zukunftsthemen vernachlässigt werden“, sagt Stefan Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management (CAM) in Bergisch Gladbach. Auch Tim Rokossa, Chefanalyst für die Autoindustrie der Deutschen Bank, verweist auf die stabile Finanzbasis. „Mercedes profitiert weiterhin von einer hohen Cash-Generierung, kombiniert mit einer starken Bilanz und Nettobarmitteln in der Industriesparte.“
Mit der Aufgabe der Kompaktklasse stellt sich in den nächsten Jahren aber die Frage nach den Stückzahlen und der Anzahl der Werke. Die CLA-Familie ersetzt alle Modelle rund um die A- und B-Klasse. In diesem Segment hat Mercedes 2024 rund 535.000 und im Jahr zuvor 619.000 Autos verkauft. Ob der teurere und größere CLA jemals diese Zahlen erreicht, ist unsicher – und unsicher ist damit dann auch, ob Werke wie im badischen Rastatt oder im ungarischen Kecskemét genug Arbeit haben. „Wenn sich der CLA schlecht verkauft und die Stückzahlen nicht stimmen, kommt der Hersteller an einer Verringerung seiner Fabrikkapazitäten nicht vorbei“, sagt Bratzel. Für Flossbach-von-Storch-Analyst Jäger liegt die Notwendigkeit von weniger Fabriken schon jetzt auf der Hand. „Es kann nicht das Ziel sein, krampfhaft an ineffizienten Kapazitäten festzuhalten. Stattdessen geht es darum, sich dem Markt anzupassen und weiterzuentwickeln. Einschnitte gehören mitunter dazu. Die tun anfangs weh, erhöhen aber langfristig die Wettbewerbsfähigkeit“, sagt Jäger.
Gesamtbetriebsratschef Lümali kennt diese Gefahr genau. Er fordert deswegen „Wachstum, Wachstum, Wachstum“. Der Arbeitnehmervertreter nennt dauerhaft niedrigere Stückzahlen fatal. „In jeder Diskussion mit dem Vorstand fordere ich eine Wachstumsstrategie. Da bin ich sehr klar. Wir werden uns nicht mit weniger als zwei Millionen Fahrzeugen im Jahr zufriedengeben – die brauchen wir, um die deutschen Standorte auszulasten“, sagt Lümali. 2024 sank die Zahl der verkauften Autos allerdings erstmals seit 2021 wieder unter die Grenze von zwei Millionen.
Eine weitere Herausforderung sind die enormen Erwartungen, die der Hersteller vor drei Jahren mit seinen „Economics of Desire“ geschürt hat. Ein dauerhafte operative Umsatzrendite von 14 Prozent hatte Källenius am Mittelmeer seinen Investoren in Aussicht gestellt. Im Überschwang seiner Luxuspläne sprach der heute 55 Jahre alte Manager sogar schon einmal davon, den Börsenwert seines Unternehmens auf 200 Milliarden Euro zu steigern. Die aktuellen Zahlen sind davon weit entfernt. Im Moment könnte man den traditionsreichen Autohersteller schon für rund 58 Milliarden Euro kaufen. Und wenn Källenius nächste Woche die Ergebnisse für 2024 vorstellt, liegt die Marge aller Voraussicht nach nur zwischen 7,5 und 8,5 Prozent.
„Eine der attraktivsten Marken der Welt“
Für Deutsche-Bank-Analyst Rokossa sind diese Zahlen allerdings eher eine Momentaufnahme, langfristig hält er die Strategie von Källenius für richtig. „Sobald der Umbruch bewältigt ist, sehen wir in der Aktie ein höchst attraktives Chancen-Risiko-Verhältnis, denn der Stern ist immer noch eine der attraktivsten und vielseitigsten Marken der Welt“, sagt Rokossa. Sein Kollege Jäger von Flossbach von Storch verweist darauf, dass bei Mercedes nicht nur die Kursentwicklung betrachtet werden dürfe. „Ein Großteil der Rendite kommt über die Dividende“, sagt Jäger. „Wenn Anleger pro Jahr zwischen sechs und neun Prozent Dividendenrendite bekommen, dann ist das schon ein großer Teil des Gesamtertrags.
Die große Frage ist nun, ob Källenius es schafft, in den nächsten Monaten den gesamten Konzern mitzunehmen. Denn klar ist auch, dass das Jahr 2024 bei vielen Managern und Ingenieuren für Ernüchterung gesorgt hat. „Aber er wird es schaffen“, sagt ein Weggefährte, der Källenius bei seinem Aufstieg im Konzern viele Jahre begleitet hat. „Es gibt keine Resignation, sondern eine Jetzt-erst-recht-Haltung. Mercedes ist eine der ältesten Automarken der Welt. Die Leute haben Selbstbewusstsein und wissen, dass sie Autos bauen können.“
Zudem sorgt der neue Aufsichtsratschef Martin Brudermüller für Aufbruchsstimmung. Seit der frühere BASF-Chef das Kontrollgremium führt, hat er viele Manager unterhalb des Vorstands gesprochen und gemeinsam mit Källenius im November den Vorstand umgebaut. In Oliver Thöne, der nun das China-Geschäft verantwortet, und Mathias Geisen für das Vertriebsressort hat Brudermüller zwei enge Vertraute von Källenius installiert. „Der Aufsichtsrat wollte mit dem Umbau des Vorstands ein Zeichen für mehr Dynamik setzen“, sagt CAM-Direktor Bratzel. „Die Ampel ist hier von Grün auf Gelb gesprungen.“
Im Design-Center von Sindelfingen steht Ola Källenius zwischen den Mercedes-Modellen der nächsten fünf Jahre. „Wir müssen das Destillat der Marke Mercedes wieder jedem vor Augen führen“, sagt der Auto-Manager fast ein wenig träumerisch, um dann sehr bestimmt anzufügen: „Der CLA macht den Auftakt und ist das erste Auto mit komplett neuer Technik.“ Und damit das Fahrzeug, das nun den Beweis liefern muss, ob die Technik für die nächsten C-, E- und S-Klassen aus den Fahrzeugen mit dem Stern wirklich die begehrenswertesten Autos der Welt macht.