Bundestagswahl: Eine Reise durch Deutschland

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Donnerstag. Für den 6. Februar hat Sahra Wagenknecht sich in Wuppertal angekündigt, und vor der „Alten Papierfabrik“, wo ihre Fans schon Schlange stehen, rufen ein paar junge Leute von der Antifa (kleine Zahl, große Lautsprecher) Losungen in die Nacht. Einer hat ein Flugblatt: Wagenknecht „steht für Antimigrationskurs und Annäherung an den russischen Imperialismus“.

Dies war einmal die Elberfelder Papierfabrik, aber jetzt erinnern nur noch ein paar restaurierte Motoren an die Maloche von früher. Sonst alles schick: Schwarzlichtminigolf, Bowling, Tequila. Beim Warten hört man Wortfetzen wie „Neoliberalismus“ und „Dividende“. Einer der Älteren hat einen Bart wie Karl Marx.

Dann ein Raunen: „Ihr wisst, dass Sahra nicht kommt?“ – „Wir haben es erst vor 15 Minuten erfahren“, sagt ein Ordner. „Unfassbar traurig“, sagt eine Frau.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Immerhin ist Oskar Lafontaine da, Wagenknechts Mann. „Sahra“, sagt er, hat ihn gebeten, einzuspringen, denn sie muss ins Fernsehen. Dann redet Lafontaine sich heiß. Die „gegenwärtige Form der Migration“ drücke die Löhne und treibe die Mieten hoch. Besser, als all diese Leute ins Land zu holen, sei doch ein „Krankenhaus in Afrika“ oder „eine große Universität“.

Am Ende wollen dann alle ein Selfie. Manche bekommen eines, und die anderen bekommen eines mit dem Mann, der aussieht wie Marx. Im Fernsehen sagt Wagenknecht dann, wegen der Migration bekämen Kassenpatienten immer weniger Arzttermine.

Donnerstag: BSW-Veranstaltung ohne Sahra Wagenknecht in Wuppertal
Donnerstag: BSW-Veranstaltung ohne Sahra Wagenknecht in WuppertalEPA

Freitag. Im ICE nach Nürnberg watet die Schaffnerin in Wasserpfützen und erzählt, so und nicht anders sei der Wagen aus dem Betriebswerk gekommen. „Machst du dem Herrn trotzdem ’nen Cappu?“, ruft sie ihrem Kollegen zu. „Klar“, sagt der Kollege. Auf dem Rhein fahren Schiffe, auf den Gleisen Güterzüge, und abends in Nürnberg strahlt die Kaiserburg über der Stadt.

Samstag. Die CSU hält Wahlparteitag. Markus Söder kommt und Friedrich Merz. Draußen machen ein paar Demonstranten ihrer Empörung darüber Luft, dass Union und FDP im Bundestag nach den Morden von Aschaffenburg Stimmen der AfD in Kauf genommen haben: „Shame on you, CSU“. Die Polizisten genießen die Morgensonne.

Söder spricht. Er trägt einen dunklen Rolli, der ihm zusammen mit seinem neuen Teufelsbart eine Aura der Gefährlichkeit verleiht. „Nein, nein und nein“, ruft er, es gebe keine Zusammenarbeit mit der AfD. „Ja, ja und ja. Wir sind die Brandmauer.“ Die AfD habe sich nur wegen der Fehler von SPD, FDP und Grünen in den Ampeljahren verdoppelt. Überhaupt: dieser Habeck! „Null Ahnung!“ Während man in Bayern auf Raumfahrt setze, würden an den Unis in Habecks schwarz-grünem Schleswig-Holstein „hegemoniale Männlichkeit“ und „kritisches Weißsein“ erforscht. Zur SPD ist Söder freundlicher. Die habe 1933 gegen Hitler „Rückgrat gehabt“.

Samstag: Friedrich Merz und Markus Söder beim kleinen CSU-Parteitag in Nürnberg
Samstag: Friedrich Merz und Markus Söder beim kleinen CSU-Parteitag in Nürnbergdpa

Auch Merz spricht von der AfD und von Migration. „Ja“, sagt er, man sei immer offen und tolerant gewesen. Aber jetzt, und an dieser Stelle wird er ganz eindringlich, jetzt gebe es die Anschläge von Magdeburg und Aschaffenburg. Selbst „gestandene Kolleginnen und Kollegen“ in der Fraktion hätten Tränen in den Augen gehabt, als sie die Details gehört hätten. Und deswegen habe es dann die Bundestagsanträge vom Januar gegeben. Er habe sie für nötig gehalten, selbst wenn „die Falschen“ mitstimmen würden.

Und Olaf Scholz? Merz sagt, wenn er Kanzler gewesen wäre, hätte er zu den anderen Demokraten im Parlament gesagt: „Liebe Freunde, jetzt müssen wir mal in Ruhe miteinander reden. Kriegen wir noch gemeinsam etwas hin?“ Stattdessen habe Scholz am Tag der Abstimmung vier volle Stunden auf seinem Platz gesessen und geschwiegen. „Ist das Führung? Ist das die Bereitschaft und die Fähigkeit, Entscheidungen herbeizuführen?“ – Am Ende hätten in der SPD eben „die Parteistrategen“ entschieden: „Jetzt haben wir ein Thema. Damit können wir die Straße mobilisieren“ – gegen die CDU, gegen die CSU, gegen Merz.

Es gibt keinen brüllenden schwarzen Block

Später versammelt sich „die Straße“ dann in der Nürnberger Altstadt vor dem Germanischen Nationalmuseum. Drinnen steht der Behaim-Globus, der älteste der Welt, Globalisierung anno 1492. Draußen wächst die Menge, bis nichts mehr geht. Die Stimmung ist friedlich, auf den Pappschildern stehen Wortspiele von „WeltschMERZ“ bis „MERZversagen“ in Blüte. Es gibt keinen brüllenden schwarzen Block, und ein Grußwort des Oberbürgermeisters Marcus König von der CSU wird ohne Buhs aufgenommen.

Sonntag. Heidenheim ist eine schwäbische Kleinstadt unter einer steilen Burg, und heute erwarten sie hier Alice Weidel von der AfD. Am Bahnhof sammeln sich die „Omas gegen rechts“ zur Demo, und wieder entfaltet sich Merz-und-Herz-Lyrik auf den Pappschildern.
Sonntag: Die Kanzlerkandidatin der AfD, Alice Weidel, in Heidenheim
Sonntag: Die Kanzlerkandidatin der AfD, Alice Weidel, in HeidenheimEPA

Das Konzerthaus, wo die AfD sich trifft, ist abgeriegelt, aus der Entfernung wummern die Trommeln der Demons­tranten. Zwei Besucher versichern, sie seien keine Extremisten, sondern „normale Bürger“. Einer sagt, er arbeite bei Daimler, einer will nicht sagen, wo er arbeitet. „Warum?“ – „Nicht wegen mir. Nur damit mein Arbeitgeber keinen Ärger kriegt.“

Eine Dame gibt einem Sender ein Interview: Wenn Kinder Bahn führen, kämen manchmal ausländische Jugendliche rein, und dann sei es plötzlich still in der Bahn. „Denn die fühlen sich ja schon provoziert, wenn man sie nur ansieht.“ Ihr Mann murmelt etwas von Messern.

Drinnen liegt auf jedem Sitz ein blaues Herz aus Pappe. Darauf steht wahlweise „Kanzlerin der Herzen“ oder „Alice für Deutschland“. Das klingt wie die SA-Parole „Alles für Deutschland“, und vielleicht misslingen auch deswegen die ersten Versuche, diese Losung zu skandieren. Der Saal zieht nicht mit. Viel besser klappt es erst mal mit „Alice! Alice!“

„So, dass alle Beamten plötzlich arbeitslos werden“

Jetzt tritt sie ans Pult. Der Wahlspot auf der Bühnenleinwand hat Trump gefeiert, und am Ende hat es dann mit dem „Alice für Deutschland“ doch noch geklappt.

Weidel spricht erst nachdenklich, dann redet sie sich in Fahrt, und mit jedem Satz wird deutlicher, dass die AfD es ernst meint mit dem Vorbild Trump. „Wir werden die Steuern vereinfachen“, ruft Weidel. „So, dass alle Beamten plötzlich arbeitslos werden. Die braucht nämlich niemand, wenn die Steuern einfach sind“. Da brauche man nur noch die Hälfte. Für Regierungspolitiker solle es eine Art „TÜV“ geben, und diese Journalisten, die eigentlich linksgrüne Aktivisten seien, müssten sich bald „einen ordentlichen Job suchen“, etwa Handwerk. „Wir werden dieses Land wieder großartig machen“, ruft Weidel. „Wir werden es stolz machen. Wir werden es reich machen.“

Dann gehen die Leute heim mit ihren blauen Herzen. Auf der Straße erörtert eine Gruppe den Unterschied zwischen Transpersonen und Terroristen, die mit Autos in Menschenmengen rasen. „Wenn eine Transperson kommt, kannst du dich umdrehen und weggehen. Wenn so ein Auto kommt, kannst du nicht mehr weggehen.“

Abends dann Fernsehduell zwischen Merz und Scholz. Merz wird gefragt, ob er beleidigt gewesen sei, als Scholz ihn „Fritze“ nannte. „Ich habe dem Bundeskanzler diese Worte nicht übel genommen“, sagt er, „und ich gehe umgekehrt davon aus, dass er das bei mir auch nicht tut.“ Scholz stimmt zu.

Montag. Robert Habeck in Halle. Hier war mal das DDR-Chemiedreieck, eine der dreckigsten Regionen Europas. Heute führt der Weg vom Bahnhof zur Veranstaltung der Grünen durch eine Fußgängerzone. Die alten Fassaden um die Marktkirche sind renoviert, die neuen passabel eingepasst.
Montag: Der Kanzlerkandidat der Grünen, Robert Habeck, in Halle
Montag: Der Kanzlerkandidat der Grünen, Robert Habeck, in HalleAFP

Habeck legt los. Mal ist er angriffslustig, mal nachdenklich und immer ein wenig atemlos wie nach einem Dauerlauf. „Atomkraft! Atomkraft!“, ruft er, wenn er auf Söder zu sprechen kommt. Den solle man doch mal fragen: Wo sollen diese Atomkraftwerke denn stehen? Er, Habeck, habe „so ein halbes Gefühl“, die Antwort werde sein: „Wir brauchen sie in Bayern, deshalb bauen wir sie in Niedersachsen. Und den Strom bringen wir in Eimern, weil wir Kabel auch nicht wollen.“

Dann kommt Klimaschutz und am Ende natürlich Migration. Migranten, sagt Habeck, seien oft Menschen, welche die Wirtschaft dringend brauche. Weil die aber eben nicht Maier, Müller oder Habeck hießen, fühlten sie sich verunsichert. Jetzt jedoch gebe es diese Demos. „Nun passiert es!“ Jetzt gingen die Leute auf die Straße „und geben im Lichtermeer Zeichen, dass wir nicht diese miesepetrigen, dumpfen, dunklen Gestalten sein wollen“. Danach an der Garderobe lassen sich drei Frauen und zwei Männer ihre Fahrradhelme geben. „Der Habeck, der hat das intellektuell drauf“, sagt einer der Männer. „Echt? – Find ich nicht“, sagt eine der Frauen.

Die Formel vom Tabu- und Wortbruch

Dienstag. Der Bundestag tritt zusammen, das letzte Mal vor der Wahl. Scholz wirft Merz vor, die Abstimmung mit der AfD sei ein „Tabubruch und Wortbruch“. Merz darauf: „Was war das denn?! 25 Minuten abgelesene Empörung!“ Nach dem 23. Februar komme der 24. – und da werde man „möglicherweise miteinander reden müssen“.

Die Formel vom Tabu- und Wortbruch verwendet Scholz an diesem Tag dann noch ein weiteres Mal. Da spricht er im Klubhaus von Ludwigsfelde, einer Stadt in Brandenburg, durch die mitten hindurch auf Betonstelzen der Berliner Autobahnring donnert.

Dienstag: Kanzler Olaf Scholz von der SPD in Ludwigsfelde
Dienstag: Kanzler Olaf Scholz von der SPD in Ludwigsfeldedpa

Es gibt etwa 200 Stühle, viele bleiben leer. Scholz nimmt sich trotzdem Zeit. Er sagt „schönen Dank“, er erwähnt Tabu- und Wortbruch, und dann steht er den Leuten Rede und Antwort. Als ein junger Mann ihn fragt, ob man die Fünfprozenthürde nicht abschaffen solle, weil sie so viele Stimmen ungültig mache, sagt der Kanzler, diese Hürde sei gut, denn sie zwinge Menschen, sich zusammenzuschließen, statt „gewissermaßen stylemäßig“ jeweils ihre maßgeschneiderte Kleinpartei zu wählen. Zur Demokratie gehöre eben dazu, „dass wir alle kleine Koalitionen schließen“.

Der Abend gehört dann Gregor Gysi von der Linken. Er kommt ins „Theater Ost“ in Berlin, das ansonsten „Rote Lesungen“ und den DDR-Film „Ernst Thälmann“ auf dem Programm hat. Gysi ist ein Rockstar bei der Linken. Wenn er auf Tiktok tanzt (auf dem Berliner Presseball), bekommt er 120.000 Abrufe, und auch jetzt gibt er Zucker. Er berichtet, mit wie vielen Päpsten er schon gesprochen hat (mit zweien), er schwärmt von der Kinderbetreuung in der DDR, und zur Migration sagt er, man solle sich nicht nach Ausnahmen richten. Das sei wie das Klischee, alle Syrer seien „Mörder und Verbrecher“ – aber ohne die „8000“ syrischen Ärzte bei uns bräche doch das ganze Gesundheitssystem zusammen. Draußen gibt es dann Linsen und Bockwurst aus der Gulaschkanone.

Dienstag: Die selbsternannte Silberlocke Gregor Gysi von der Linken in Berlin (hier auf einer Pressekonferenz am Tag zuvor)
Dienstag: Die selbsternannte Silberlocke Gregor Gysi von der Linken in Berlin (hier auf einer Pressekonferenz am Tag zuvor)Reuters

Mittwoch. Merz spricht in Neubrandenburg. Der Zug fährt von Berlin nach Norden, vorbei an Kiefern und Solarpaneelen. Wieder sind Demonstranten da, aber nicht viele. Ein paar Dutzend in der Weite des Marktplatzes, die üblichen Reime auf Pappkartons. Allerdings ist diesmal auch ein kleiner schwarzer Block da: maskierte Jugendliche und ein Großtransparent mit der Aufschrift „Antifa ist Klassenkampf“. Aber obwohl gleich daneben die Schlange der Merz-Fans wächst und kurz vor Beginn der Veranstaltung fast die Demonstranten berührt, bleiben alle friedlich.

Drinnen spricht Merz. Seine Rede ist fast dieselbe wie in Nürnberg bei Söder, nur dass er bei der Passage „Aschaffenburg“ noch ein Stück eindringlicher wird. Er flicht neue Einzelheiten ein: die Zahl der Stiche im Hals des getöteten Kindes, die Länge des Messers.

Mittwoch: Der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, in Neubrandenburg
Mittwoch: Der Kanzlerkandidat der Union, Friedrich Merz, in NeubrandenburgReuters

Am Donnerstag dann die Nachricht aus München: Wieder ist jemand mit einem Auto in eine Menschenmenge gerast, und wieder kam der Täter aus Afghanistan. Viele Menschen sind verletzt.

Für den Abend steht die Vierershow mit Habeck, Merz, Scholz und Weidel auf dem Fernsehprogramm. Die FDP ist nicht dabei, und so hat der Vorsitzende Christian Lindner für den Nachmittag in den Frankfurter Palmengarten geladen, einen Saal mit goldenen Lüstern. Manche junge Leute tragen Porsche-Pullis und Porsche-Mützen, an der Bar wird Weißwein ausgeschenkt.

Donnerstag: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner in Frankfurt
Donnerstag: Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner in Frankfurtdpa

Lindner lässt allerdings keine Feierstimmung zu. „Ich weiß nicht, ob Sie schon davon gehört haben. Heute wieder ein schrecklicher Anschlag in München.“ Er, Lindner, sei angesichts solcher Nachrichten „gar nicht mehr fähig zu dieser ritualisierten Betroffenheit“, vielmehr spüre er „kalte Wut“. Und wenn jetzt jemand „Skandal“ rufe, weil neulich im Bundestag neben der AfD auch die FDP sich der Union angeschlossen habe, dann antworte er: „Der Skandal ist, dass SPD und Grüne nicht zugestimmt haben.“

Abends im Fernsehen beginnen die Publikumsbeiträge dann mit der Frage einer Frau aus Solingen an Olaf Scholz: „Wenn Sie nicht massiv etwas ändern, tragen Sie dann nicht eine moralische Mitschuld an jedem einzelnen Mord?“ – „Gestatten Sie mir, zu sagen“, antwortet der Kanzler, „jede einzelne dieser Taten ist unerträglich.“ Alle in der Politik hätten nun „den Auftrag, zu gucken, was man noch tun kann“.