Ist am Wochenende die NATO untergegangen? Den Eindruck konnte bekommen, wer auf der Münchner Sicherheitskonferenz die europäischen Reaktionen auf die Rede des neuen amerikanischen Vizepräsidenten verfolgte. Es herrschte einige Verunsicherung auf den Podien und Fluren dieses Klassentreffens des atlantischen Bündnisses. Manchen schien erst jetzt aufzugehen, dass Europa inzwischen zwei Sicherheitsprobleme hat: Putin und Trump.
Trotzdem sollte man den Auftritt von Vance nicht überbewerten. Natürlich war auffällig, dass er dem ebenso erstaunten wie erstarrten Publikum eine Standpauke über Meinungsfreiheit und Demokratie hielt, statt über die drängenden Fragen der europäischen Sicherheit zu reden. Die NATO kam in seiner Rede namentlich gar nicht vor und die Ukraine nur en passant. Ein Kernsatz lautete, dass die Bedrohung Europas nicht von außen komme, nicht aus Russland oder China, sondern von innen: Europa habe sich von den gemeinsamen Grundwerten mit Amerika verabschiedet.
Starker Tobak
Das ist starker Tobak, aber Vance ist auch ein besonders eifriger Konvertit zum Trumpismus. Wichtiger als der Eindruck, den er in München hinterließ, war für ihn sicherlich das Urteil seines Chefs, und das fiel positiv aus. Sein kurioser Auftritt sagte mehr über Vance und seine Ambitionen als über Trumps Pläne für die Ukraine. Das Ganze wirkte wie ein Versuch, der republikanischen Basis daheim eine weitere Ausrede dafür zu bieten, dass Amerika die NATO-Staaten nicht verteidigen muss.
In der Sache hatte Vance allerdings nicht ganz unrecht. Wer wollte noch ernsthaft bestreiten, dass die unkontrollierte Masseneinwanderung zu einem großen Problem in Europa geworden ist? Dass zu Konferenzbeginn in München ein Anschlag stattfand, spricht für sich selbst.
Auch andere Beispiele, die er nannte, waren nicht aus der Luft gegriffen. Dass in Rumänien, einem EU- und NATO-Mitglied, eine Präsidentenwahl mit fadenscheiniger Begründung annulliert wurde, ist besorgniserregend und in Europa viel zu nonchalant hingenommen worden. Dass AfD und BSW nicht an der Münchner Konferenz teilnehmen durften, ist angesichts des Zuspruchs, den sie bei den Wählern finden, kein Ausweis pluralistischer Diskursfähigkeit.
Streiten kann man sich über die Razzien des Bundeskriminalamts gegen Verfasser von frauenfeindlichen Inhalten im Internet. Wenn sie illegal sind, müssen sie strafrechtlich verfolgt werden. Hier ist das amerikanische Verständnis von Meinungsfreiheit breiter. Gerade die Europäer, die anderen Nationen routinemäßig Moralpredigten halten, sollten solche Kritik allerdings auch aushalten können.
Eine Grenze überschritt Vance allerdings mit der Forderung, die politische Brandmauer in Deutschland einzureißen, und mit seiner offenen Parteinahme für die AfD. Der Bundeskanzler und der Oppositionsführer verwahrten sich zu Recht gegen diese Einmischung in den deutschen Wahlkampf. Beide hatten sich auch nicht in die Wahlen in Amerika eingemischt. So sollte es sein unter Verbündeten.
Überzogen war auch Vances Vergleich des heutigen Europas mit den Regimen des früheren Ostblocks, was in Orbán’scher Manier nicht zuletzt auf die EU-Kommission zielte. Europa sollte es mit der Regulierung sozialer Medien nicht übertreiben, und manche Äußerung des früheren Binnenmarktkommissars Thierry Breton zu dem Thema war unangemessen. Aber Europa ist nicht weniger demokratisch als Amerika, und unter (verbündeten) Demokraten muss man Unterschiede respektvoll akzeptieren. Dass Vance stattdessen versuchte, einen Kulturkampf in die NATO zu tragen, stärkt den Westen nicht.
Schicksal Europas
Die Europäer, um deren Schicksal es ja geht, hinterließen selbst keinen guten Eindruck. Scholz langweilte mit Ausführungen über die Schuldenbremse. Macron, Starmer, Meloni, Tusk und Sánchez waren erst gar nicht gekommen. Die zweite Reihe, etwa die EU-Außenbeauftragte Kallas, blieb bei der alten Idee, dass eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine die billigste und stärkste Sicherheitsgarantie sei. Die hatte jedoch schon Biden vom Tisch genommen, nicht erst Trump. NATO-Generalsekretär Rutte rief die Europäer völlig zu Recht dazu auf, nicht nur Mitsprache zu verlangen, sondern selbst konkrete Vorschläge zur Beendigung des Krieges zu machen.
Die wahre Erwiderung auf Vance kam von Selenskyj, der eine europäische Armee forderte. Das ist aus vielen Gründen illusorisch und sollte nicht von der Kernaufgabe ablenken, der auch Merz immer noch auffällig aus dem Weg geht: Die europäischen NATO-Mitglieder müssen kräftig aufrüsten, sich selbst und die Ukraine. Es ist schlimm genug, dass Putin mit seinem Landraub durchkommen könnte. Weiter nach Westen darf er nicht gelangen.