EU plant Ausnahmeregelung für Verteidigungsausgaben

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Ursula von der Leyen hatte am Freitagnachmittag auf der Münchner Sicherheitskonferenz Pech. Die Rede der EU-Kommissionspräsidentin mit bemerkenswertem Inhalt ging weitgehend unter, weil auf sie direkt J. D. Vance folgte. Die Rede des US-Vizepräsidenten war ein disruptiver Frontalangriff auf die EU insgesamt; von den Verteidigungsausgaben der Europäer (und gar von deren Finanzierung) war dort nur am Rande die Rede.

Dabei war von der Leyens Botschaft klar genug: Wenn die Mitgliedstaaten ihre Verteidigungsausgaben erhöhen wollen, wird das nicht an den EU-Budgetregeln scheitern. Faktisch will die Kommissionschefin den erst im April 2024 reformierten EU-Stabilitätspakt aussetzen, soweit es um höhere Rüstungsausgaben geht. „Ich werde vorschlagen, die Ausweichklausel für Verteidigungsinvestitionen zu aktivieren“, sagte von der Leyen. In der Sache kommt das nicht überraschend. Schon nach dem EU-Gipfel am vorvergangenen Montag hatte die Kommissionspräsidentin angekündigt, sie wolle den Mitgliedstaaten keine Steine in den Weg legen, wenn diese ihre Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen wollten. Sie werde die EU-Budgetregeln in dieser Frage mit der „größtmöglichen Flexibilität“ behandeln, sagte von der Leyen damals.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unterstützte sie in München. Es sei sinnvoll, den Stabilitätspakt zugunsten höherer Verteidigungsausgaben anzupassen, sagte er. Deutschland sei zu dieser Änderung bereit, Frieden und Sicherheit in Europa stünden auf dem Spiel. Deshalb sei er offen für Ausnahmen für alle Investitionen in Verteidigungsgüter. Diese sollten allerdings zeitlich befristet sein und auf Ausgaben begrenzt werden, die oberhalb des bisherigen NATO-Ziels für Verteidigungsausgaben liegen. Die Stärkung europäischer Fähigkeiten müsse „in einem klar definierten Zeitrahmen stattfinden“.

Jetzt soll die „nationale“ Ausweichklausel gezogen werden

CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz äußerte sich ähnlich. Eine Debatte über zusätzliches Geld für die Verteidigung sei unausweichlich, es dürfe aber nicht nur darum gehen. Das gelte vor allem für die Diskussion, ob die EU auch gemeinsame Schulden für Verteidigungsausgaben machen könnte. Diese erforderten zum einen einstimmigen Beschluss auf dem NATO-Gipfel im Juni in Den Haag. Zum anderen müsse die Rüstungsbeschaffung in Europa „standardisiert und vereinfacht“ werden. Die Europäer müssten Größenvorteile nutzen und dürften sich nicht mehr den Luxus leisten, 150 verschiedene Waffensysteme zu kaufen. Als mögliche EU-Projekte gelten zum Beispiel ein europäisches Luftverteidigungssystem und eine verstärkte Sicherung der östlichen Landgrenze der Union.

Der Stabilitätspakt war schon in von der Leyens erster Amtszeit mehrere Jahre lang, faktisch bis zum Inkrafttreten der Reform im vergangenen Sommer, ausgesetzt gewesen. Im März 2020 hatte die EU wegen der Corona-Pandemie die allgemeine Ausweichklausel aktiviert und damit den Pakt vollständig außer Kraft gesetzt. Das ist nach dem Regelwerk nur möglich, wenn ein massiver Konjunktureinbruch droht, wie er sich in der Pandemie auch ereignet hatte.

Nach von der Leyens Plänen soll jetzt die „nationale“ Ausweichklausel gezogen werden. Sie erlaubt es einem Mitgliedstaat, von dem mit der Kommission vereinbarten Nettoausgabenpfad für die kommenden Jahre nach oben abzuweichen. „Ich glaube, wir befinden uns jetzt in einer neuen Krise, die einen ähnlichen Ansatz rechtfertigt“, sagte sie in München.

Voraussetzung für die Anwendung der nationalen Ausweichklausel ist das Vorliegen „außergewöhnlicher Umstände“, die sich der Kontrolle des Mitgliedstaats entziehen und erhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen des betreffenden Mitgliedstaats haben. Die Kommission will den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und die unsichere Unterstützung Europas durch die Vereinigten Staaten offenbar als solche außergewöhnlichen Umstände einstufen. Obwohl die nationale Ausweichklausel offenkundig für jeweils nur ein Land vorgesehen ist, ist geplant, dass alle 27 EU-Staaten die Nutzung der Ausnahmeregelung gemeinsam beantragen.

Nach Schätzungen der EU-Kommission sind in den kommenden zehn Jahren zusätzliche Verteidigungsinvestitionen in Höhe von rund 500 Milliarden Euro erforderlich. Dass diese Ausgaben erhebliche Auswirkungen auf die Budgets der Mitgliedstaaten haben werden, ist offensichtlich. Ob auch das zweite Kriterium – dass der neue Rüstungsbedarf sich der Verantwortung der Mitgliedstaaten entzieht – gilt, ist weniger eindeutig. Der amerikanische Außenminister Marco Rubio hat es kürzlich bezweifelt. „Wenn man Deutschland oder Frankreich fragt, warum sie nicht mehr für die nationale Sicherheit ausgeben können, lautet ihr Argument, dass sie dann Kürzungen bei Sozialprogrammen, beim Arbeitslosengeld, bei der Möglichkeit, mit 59 in Rente zu gehen, und bei all diesen anderen Dingen vornehmen müssten. Das ist die Entscheidung, die sie getroffen haben. Aber wir subventionieren das“, sagte Rubio in einem Podcast-Gespräch.

Mit der Lockerung der EU-Budgetregeln richtet sich das Augenmerk in der Diskussion um die Rüstungsfinanzierung zunächst auf höhere Ausgaben der Mitgliedstaaten. Forderungen nach gemeinsamen EU-Schulden für die Verteidigung, auf dem EU-Gipfel vor zwei Wochen vielfach erhoben, dürften deshalb aber nicht vom Tisch sein. Möglicherweise wird sie schon Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, Gastgeber eines Ukraine-Dringlichkeitstreffens der wichtigsten EU-Staaten an diesem Montag in Paris und vehementer Verfechter von EU-Verteidigungsbonds, wieder in die Diskussion bringen. Macron hatte die kompletten EU-Schuldenregeln am Freitag „obsolet“ genannt.

Vielleicht ist auch mit Blick auf EU-Rüstungsbonds die Pandemie das Vorbild. Im März 2020 beschloss die EU die Aussetzung des Stabilitätspakts. Im Juli, also nur vier Monate später, beschloss sie die erstmalige (und als einmalig deklarierte) Verschuldung für den EU-Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro.