Ist die Zeit der harten Arbeitskämpfe vorbei?

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Die Eisenbahnergewerkschaft EVG und die Deutsche Bahn haben mit ihrer aktuellen Tarifrunde einen Kon­trapunkt gesetzt: keine Streiks, ja nicht einmal verbaler öffentlicher Streit. Nach einer langen Serie sehr hitziger Auseinandersetzungen bei der Bahn wie auch in vielen anderen Branchen verstärken sich damit nun Anzeichen einer breiteren tarifpolitischen Zeitenwende, hin zu einer neuen Nüchternheit. Mäßigende Kraft auf die Gewerkschaften übt dabei natürlich auch die flaue Wirt­schaftslage aus.

In Ansätzen lässt sich der tarifpolitische Wandel auch wissenschaftlich belegen, wie nun eine Analyse des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zum Verlauf der Auseinandersetzungen im vergangenen Jahr zeigt. „Die im zweiten Halbjahr geführten Tarifrunden fielen weniger konfliktreich aus“, fassen die Forscher Hagen Lesch und Lennart Eckle ihre Konfliktmessung zusammen. Zwar spielten dabei auch Eigenheiten der Branchen eine Rolle, deren Verhandlungen zufällig ins zweite Halbjahr fielen. Doch lasse sich festhalten, „dass die Konfliktneigung allmählich wieder zurückgeht“. Die Analyse liegt der F.A.Z. vor.

Über geläufige Streikstatistiken hinaus

Der vom IW dafür regelmäßig ermittelte Jahresindex zur Intensität von Tarifkonflikten erreichte 2024 den Wert von durchschnittlich 11,4 Punkten je Tarifrunde. Er liegt damit auch fürs Gesamtjahr niedriger als 2023, das mit 12,7 Punkten eines der drei konfliktreichsten Jahre seit dem Startpunkt der Erhebung zur Jahrtausendwende war. Allerdings ist auch der neue Wert im Langfristvergleich noch hoch. Der Durchschnitt aller erfassten Tarifrunden seit der Jahrtausendwende beträgt 8,4 Punkte.

Das von Lesch und seinen Kollegen entwickelte Messverfahren geht über geläufige Streikstatistiken hinaus. Es bewertet den Verlauf der Tarifrunden für jede Branche nach einem Standardschema, das sieben Eskalationsstufen unterscheidet: von friedlichem Verhandeln über Streikdrohung und Verhandlungsabbruch bis hin zum unbefristeten Arbeitskampf. Zur Messung wird nach jeder Verhandlungsrunde das Eskalationsniveau bestimmt und mit der zugehörigen Punktzahl bewertet. Die Summe der Eskalationspunkte ergibt dann die Konfliktintensität. Insgesamt erfasst die IW-Datenbank 600 Tarifkonflikte seit dem Jahr 2000.

Lohnforderung von mehr als acht Prozent

Von 2023 an waren Tarifrunden in vielen Bereichen, ob in der Industrie oder im öffentlichen Sektor, sehr ruppig verlaufen. Neben den von harten Arbeitskämpfen begleiteten Runden der EVG und später der GDL mit der Deutschen Bahn betraf dies etwa den Handel, dessen Anfang 2023 begonnene Lohnrunde sich über mehr als ein Jahr hinzog. Hitzig waren auch die sich überschneidenden Tarifrunden der Gewerkschaft Verdi im öffentlichen Dienst, im Nahverkehr und für Beschäftigte an Flughäfen. Und die Tarifrunde im Baugewerbe geriet im Frühjahr 2024 bis an den Rand eines Arbeitskampfs, es wäre dort der erste seit 20 Jahren gewesen.

Befeuert wurden die Konflikte nicht zuletzt von der starken Inflation, zumal die durch hohe Energiepreise und Lieferengpässe ausgelösten Teuerungsschübe meist Ar­beit­nehmer und Arbeitgeber gleichermaßen trafen: Die Kaufkraft der Beschäftigten sank – aber vielen Unternehmen erging es mit rasant erhöhten Produktionskosten nicht besser; sie hatten kaum Spiel­raum, auf erhöhte Lohnforderungen ein­zu­ge­hen. In den Tarifrunden der IG Metall sowie der IG Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) gab es aber keine für deren Verhältnisse ungewöhnlichen Eskalationen.

Zu den ruhigeren Runden des zweiten Halbjahrs 2024 zählen etwa die im Gebäudereinigerhandwerk und bei der Telekom-Tochter T-Systems; beide wurden in der tariflichen Friedenspflicht geführt und abgeschlossen. Noch nicht klar ist indes, wie sich die laufende Tarifrunde für 2,6 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen ins Bild einer allgemeinen Deeskalationstendenz einfügen wird. Warnstreiks sind dort Tradition und damit noch kein Widerspruch dazu. Aber die schwierige Finanzlage der Kommunen birgt verschärften Konfliktstoff.

Außerdem hat Verdi neben der Lohnforderung von mehr als acht Prozent eine sehr grundlegend umstrittene Zusatzforderung erhoben: Die öffentlichen Arbeitgeber sollen Beschäftigte, die Gewerkschaftsmitglied sind, künftig mit einem Extratag Freizeitausgleich dafür belohnen. Den Anstoß dazu gab die IG BCE, die den Chemie-Arbeitgebern 2024 einen solchen Bonus für ihre Mitglieder abgerungen hat. Allerdings verpflichtete sie sich im Gegenzug, die Tradition der faktisch streikfreien Sozialpartnerschaft mit den Chemie-Arbeitgebern fortzuführen. Einen solchen Deal lehnt Verdi ab.