Der Anfang ist gemacht. Drei Jahre lang haben die Forscher in Bonn, Dresden und Jülich an ihrem Sprachmodell gearbeitet. Dann stellten sie eines der bislang leistungsfähigsten europäischen Systeme der Künstlichen Intelligenz (KI) ins Netz. Seit Herbst wurde „Teuken-7B“ rund 50.000-mal heruntergeladen. „Wir sind total begeistert von dem Interesse“, sagt Stefan Wrobel, Professor für Informatik an der Universität in Bonn und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Intelligente Analyse- und Informationssysteme in Sankt Augustin.
Teuken zeige, dass Europa in der Künstlichen Intelligenz mit Amerika mithalten könne, sagt Wrobel. An die millionenfachen Nutzerzahlen von KI-Programmen wie ChatGPT reicht das System nicht heran. Aber anders als die großen amerikanischen Modelle frage man Teuken auch nicht nach Kochrezepten oder anderem, sagt Wrobel. Teuken sei ein spezielles Modell vor allem für Wissenschaft und Wirtschaft. Es verstehe zwei Dutzend europäische Sprachen und sei mit sieben Milliarden Parametern eine KI der Mittelgewichtsklasse. Parameter sind Stellschrauben, die über die Lern- und Leistungsfähigkeit von KI-Systemen mitbestimmen. Im Prinzip gilt: je mehr Parameter, desto besser. Nach Aussage der Ingenieure war Teuken-7B in der Entwicklung kostengünstiger als die neue Wunder-KI aus China, Deepseek. Konkrete Zahlen aber nennen sie nicht.
Das KI-Modell aus Bonn ist einer der wenigen Hoffnungsschimmer, dass sich auch in Deutschland, einem der frühen Pioniere der Informationstechnik, noch etwas bewegt. Einst wurden hierzulande Transistor, Computer und Software entwickelt. Unternehmen wie Nixdorf, Siemens oder AEG-Telefunken trieben Ende des 20. Jahrhunderts die Entwicklung der Computer- und Informationstechnik voran. Die Nürnberger IT-Genossenschaft Datev entwarf 1968 die erste Datencloud. Die Bundespost verlegte 1978 das erste öffentlich nutzbare Glasfaserkabel. Doch irgendwann hat Deutschland den Wettbewerb um neue Technologie in den vergangenen Jahrzehnten verschlafen.
„Unser Vorsprung ist aufgezehrt“
Heute liegt die globale digitale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands nach Angaben des Schweizer IMD-Instituts auf Rang 23. Im Glasfaser-Ranking der OECD belegt es Platz 37, auf der Liste der schnellsten Internetverbindungen Rang 50. Namhafte Hersteller von Computern oder Handys gibt es in Deutschland nicht mehr. 92 Prozent aller in Deutschland betriebenen Computer laufen mit Betriebssystemen „made in USA“. Bei Smartphones sind es 99 Prozent. Alle wichtigen KI-Sprachmodelle der westlichen Welt stammen aus den Vereinigten Staaten.
„Unser Vorsprung ist aufgezehrt“, sagt Gunther Kegel, Chef des Sensorspezialisten Pepper+Fuchs und Präsident des Elektroverbandes ZVEI. Einstmals vielversprechende Entwicklung seien durch Regeln und Gesetze geradezu ausgebremst worden. Zu den Bremsklötzen gehörten „der sich stets und ständig und oft auch unnötig verschärfende Datenschutz, falsche Anreize im Bildungssystem, ein über Jahrzehnte gewachsener Bürokratenirrsinn und nun auch noch die Digital-Verordnungen der EU“.
Dagegen haben die Amerikaner seit den siebziger Jahren ihre Märkte geöffnet, die Wettbewerbsregeln und die Aufsicht gelockert und den Kapitalmarkt dereguliert. Hunderte Milliarden Dollar an privaten Investorengelder flossen in die Computer- und IT-Branche. Seit Jahren bieten Technologieunternehmen wie Microsoft , Apple , Amazon oder Google über die gesamte Produktpalette hinweg erstklassige Produkte und Dienste an. Sie nehmen auf den globalen Märkten monopolartige Stellungen ein, nur China koppelt sich entschieden ab. Die US-Konzerne treiben die technische Entwicklung voran und investieren viel.
Tech-Konzerne investieren so viel in Forschung wie ganz Deutschland
Google wird in diesem Jahr 75 Milliarden Dollar für die Entwicklung neuer Technologie ausgeben. Meta und Microsoft stecken zusammen 140 Milliarden Dollar in die Entwicklung neuer KI-Datenzentren; das entspricht den gesamten privaten und staatlichen Ausgaben für Wissenschaft und Forschung in Deutschland. Die Bandbreite der 400 Tiefseekabel, durch die 95 Prozent der globalen Internetdaten fließen, wird zur Hälfte von amerikanischen Konzernen genutzt. Europas Abhängigkeiten sind heute schon so groß, dass in der deutschen IT-Szene der Begriff der „digitalen Kolonie“ kursiert.
Das ist weit entfernt von den Ideen einer digitalen Souveränität, die in Brüssel von der EU und in Berlin erdacht und geträumt werden. „Beim Gas waren wir von den Russen abhängig, bei der IT hängen wir an den Amerikanern“, sagt Christian Müller, Chef des deutschen IT-Hauses Schwarz Digit . „Was ist, wenn Washington den Hahn nun einfach mal kurz zudreht?“
Ein abschreckendes Beispiel für die Abhängigkeit ist die öffentliche Verwaltung. Schon vor sechs Jahren mahnte das Beratungshaus PWC im Auftrag des Bundesinnenministeriums, dass die Bundesbürokratie auf allen Ebenen völlig abhängig von wenigen US-Softwarehäusern sei. 70 Prozent der Behörden setzten auf das Microsoft-Betriebssystem Windows-Server. 96 Prozent nutzten die Bürosoftware Microsoft Office und das PC-Betriebssystem Windows von Microsoft.
Bundesregierung zahlt immer mehr an Tech-Konzerne
Die Bundesregierung erklärte daraufhin, sie werde künftig auch andere Software-Anbieter zum Zuge kommen lassen. Doch passiert ist wenig, im Gegenteil nimmt die Abhängigkeit noch zu. 2017 zahlte die Bundesverwaltung 74 Millionen Euro Lizenzgebühren an Microsoft, 2023 waren es fast 200 Millionen Euro. Die laufenden Rahmenverträge mit großen, meist amerikanischen Anbietern beziffert der Bund auf 13,6 Milliarden Euro. Welche Software aber wo genau für welchen Preis eingesetzt ist, weiß in Berlin niemand. Die Daten sind nicht erfasst.
Digitale Technologien zählten nicht mehr zu den deutschen Stärken, schreibt Volker Zimmermann von der staatlichen Entwicklungsbank KfW. Die Forschung an digitalen Technologien sei unzureichend, die Zahl der Patentanmeldungen verglichen mit Japan und Südkorea viel zu klein, die Handelsbilanz im Digitalgeschäft seit fast 20 Jahren negativ. Deutschland importiere seit 2007 mehr Dienste und Güter der Datenverarbeitung, als es exportiere.
„Digital souverän ist ein Land, wenn es substanziell eigene Fähigkeiten in digitalen Schlüsseltechnologien besitzt und damit selbstbestimmt über deren Einsatz entscheiden kann“, sagt der Präsident des Fachverbands Bitkom, Ralf Wintergerst. Es gehe um KI- und Cloudsysteme, um Chips, um Soft- und Hardware. Die Abhängigkeit von ausländischen Anbietern habe ein Niveau erreicht, „das von der Politik als riskant, wenn nicht gar als hochriskant einzustufen ist“.
„Das macht mich fassungslos“
In Berlin sieht man das weniger dramatisch. „Im Wahlprogramm der CDU/CSU wird digitale Souveränität nur ganz kurz am Rande erwähnt“, sagt Peter Ganten. Er ist Chef der Open Source Business Alliance, Deutschlands größtem Netzwerk offener IT-Systeme. In den Wahlprogrammen von SPD und FDP komme die digitale Souveränität gar nicht vor. „Das macht mich fassungslos“, sagt Ganten. Doch ist er Optimist, dass Deutschland sich aus den digitalen Abhängigkeiten lösen könne. Warum? Weil der IT-Markt disruptiv sei. „Hier können tiefgreifende Veränderungen sehr schnell stattfinden. Und: Es lassen sich immer bessere Alternativen schaffen.“
Auf der Suche nach einem besseren Weg nahm vor einem Jahr das bundeseigene Zentrum für Digitale Souveränität (ZenDiS) in Bochum die Arbeit auf. Es ist im ehemaligen Opel-Werk untergebracht. Wo früher Kadett und Manta zusammengeschraubt wurden, soll heute die Technologie von morgen entstehen. In einem alten Verwaltungsgebäude arbeitet die Bundes GmbH an der digitalen Zukunft der Verwaltung: gläserne Büros, Post-its an den Wänden, Start-up-Atmosphäre.
Ein Anfang, mehr nicht
ZenDiS soll die digitale Abhängigkeit der Behörden von amerikanischen Konzernen verringern. Es entwickelt Programme nicht selbst, sondern bündelt Software hiesiger Anbieter und passt sie für die jeweiligen Zwecke an. Mit „Open Desk“ hat ZenDiS seit Oktober ein eigenes PC-Programm für die Büroarbeit geschnürt. Es gebe 1700 Pilotnutzer und 40.000 aktive kostenpflichtige Abonnenten, heißt es. Anfragen kommen vom Bund, Ländern und Gemeinden, von Bildungseinrichtungen und von Unternehmen. ZenDiS betreibt auch die virtuelle Plattform „Open Code“, auf der Programme geteilt und weiterentwickelt werden. Das Zentrum mit seinen etwa 30 festangestellten Mitarbeitern und einem Jahresetat von 34 Millionen Euro hängt in der Luft. Die Gesamtfinanzierung für 2025 sei aufgrund der vorläufigen Haushaltsführung noch nicht geklärt, heißt es.
Wie es gehen könnte, zeigt Schleswig-Holstein. Im April hatte das Bundesland die Bürosoftware für rund 25.000 IT-Plätze auf eine eigene Software umgestellt. Das Betriebssystem will die Landesregierung auf eine für den Behördeneinsatz angepasste Version von Linux umrüsten. Ein Anfang, mehr nicht.
Die deutschen Initiativen wirken bescheiden im Vergleich zu den Finanzsummen, die in Amerika und in Europa in die Entwicklung von KI gesteckt werden. Bis zu 500 Milliarden Dollar sagten Amerikas OpenAI und Oracle sowie Japans Softbank im Beisein von Donald Trump für den Aufbau von Rechenzentren für KI zu. Auf dem KI-Gipfeltreffen in Paris in dieser Woche wurden 200 Milliarden Euro in einer gemeinsamen Kraftanstrengung von privaten Unternehmen und der öffentlichen Hand beschworen. Doch auch die kleinen Schritte wie in Schleswig-Holstein sind wichtig, will man sich von den amerikanischen Unternehmen emanzipieren.
Amerikaner mit 72 Prozent Marktanteil
Sosehr die KI derzeit die Aufmerksamkeit beansprucht, so viele andere Baustellen gibt es. Die Cloud, das digitale Arbeiten auf weit entfernt stehenden Rechenzentren, ist eine der größten. „Cloud-Computing“ ist als Grundlagentechnik für die Digitalisierung unverzichtbar und fest in amerikanischer Hand. Die Marktanteile europäischer Cloud-Anbieter wie OVH aus Frankreich, Deutsche Telekom oder Ionos sind selbst auf dem Heimatmarkt klein. Synergy Research schätzt den Anteil der Branchenriesen Amazon, Microsoft und Google in Europa auf 72 Prozent. Die Amerikaner waren früher dran und haben den Markt unter sich aufgeteilt.
Amazons AWS bietet mehr als 350 Cloud-Dienstleistungen an, die es im Laufe der Zeit für spezielle Kundenbedürfnisse entwickelt hat. Mit dieser Vielfalt und den nötigen Investitionen können europäische Anbieter nicht mithalten, selbst wenn ihre Technik genauso gut funktioniert.
Hinzu kommt das, was Kritiker als „Lock-in-Effekte“ bezeichnen. Der Vorwurf: Die führenden Cloud-Anbieter machten es ihren Kunden absichtlich schwer, ihre Daten zur Konkurrenz zu übertragen. Mit dem Datengesetz, das vom September an gelten soll, will die EU solche Hürden einreißen. Doch selbst wenn heimische Cloud-Unternehmen dann Marktanteile gewännen, wäre für die Souveränität nur wenig gewonnen. Die Halbleiter für die Rechenzentren kämen immer noch aus Amerika oder Asien. Die hoch subventionierte Ansiedlung von Chipfabriken macht Deutschland noch nicht digital souverän, solange das Entwicklungswissen für die elektronischen Mikrochips fehlt.
Streit um einheitliche Zertifizierung der Cybersicherheit für Cloud-Dienste
Hoch politisiert ist in Europa der Streit über eine einheitliche Zertifizierung der Cybersicherheit für Cloud-Dienste. Es ist ein Beispiel, wie der Ruf nach digitaler Souveränität vor Mauern läuft. Entscheiden die Mitgliedstaaten sich für Souveränitätsanforderungen nach französischem Vorbild, wären amerikanische Cloud-Anbieter vom europäischem Markt für Hochsicherheitsdienste praktisch ausgeschlossen. Sie dürften amerikanischen Behörden auf Anfrage keine Daten aus Europa mehr zur Verfügung stellen; das aber widerspräche dem amerikanischen Recht. Die digitale Souveränität beißt sich an dieser Stelle mit dem Wunsch, die dominanten amerikanischen Cloud-Anbieter auch künftig in Europa zuzulassen.
Abseits der Regulierung hat die EU in Sachen Cloud nicht viel vorzuweisen. Mit Gaia-X wollten die Europäer einst aus einem Verbund vieler heimischer IT-Unternehmen einen europäischen „Cloud-Champion“ formen. Fünf Jahr später gibt es die Initiative nur noch auf dem Papier. Gaia-X gilt als tot: zu viel Klein-Klein, zu viel Bürokratie, zu viele unterschiedliche Einzelinteressen.
Der neue Hoffnungsträger trägt den Namen „8ra“. Zwölf EU-Staaten und rund 150 Partner arbeiten an einer „Super-Cloud“, die statt auf herkömmliche Rechenzentren unter anderem auf „Edge-Computing“ setzt: Daten werden direkt am Entstehungsort verarbeitet. Solche technischen Neuheiten schüren die Hoffnungen, dass Europa in der Cloud noch aufholen könnte. „8ra“ wird von der EU bis Ende 2026 gefördert, ist bislang aber auch nur ein Projekt.
Abhilfe aus der Privatwirtschaft?
In Neckarsulm wollten sie nicht mehr warten und legten einfach los. Die familiengeführte Schwarz-Gruppe mit ihren Einzelhandelsmarken Lidl, Kaufland und der Digitalsparte Schwarz Digit entwickelt dort eine eigene private deutsche Datencloud, erst für sich selbst, seit 2022 auch für andere. Das Rechenzentrum steht in Deutschland, es gibt eigene Computer, Programme und Sicherheitssysteme sowie ein Zertifikat vom Bundesamt für Sicherheit in der IT. (Die F.A.Z. ist ein Entwicklungspartner von Schwarz Digit für ein KI-Projekt.) Schwarz Digit bietet seine Cloud-Dienste vor allem dem deutschen Mittelstand an. Der lebe von seiner Innovationskraft, sagt Christian Müller, einer der beiden Chefs. Diese Kraft in Form sensibler digitaler Daten in nichteuropäische Hände zu legen, sei ein Fehler. „Das macht früher oder später abhängig“, sagt Müller.
Mit Partnern zieht der Lidl-Konzern in Heilbronn ein Entwicklungszentrum für Künstliche Intelligenz hoch. Es ist ein weitläufiges Gelände am Rande der Stadt mit futuristischen Gebäuden, ein KI-Innovationspark in der Entstehung, ein Zentrum für neue Technologie, in- und ausländische Forschungsinstitute und KI-Entwickler. Konzerne wie Würth, Mittelständler wie Veigel, Start-ups wie Aleph Alpha sind schon vor Ort. „Wir arbeiten an der größtmöglichen digitalen Souveränität“, sagt Müller von Schwarz Digit. Als Alternative zu Microsofts Bürosoftware Office setzt Schwarz Digit übrigens auf eine Partnerschaft mit Google und vermarktet über seine Cloud dessen Programmpaket Workspace. Ganz ohne Amerikaner geht es wohl auch in Neckarsulm nicht.
„Wir hatten in Europa Versuche, eigene Betriebssysteme zu etablieren, eigene Suchmaschinen aufzubauen, eigene Versteigerungs- und Social-Media-Plattformen zu etablieren. Wir konnten uns damit nicht durchsetzen“, sagt Wrobel von der Universität Bonn. Die Konkurrenten aus Amerika waren zu stark, ihre Produkte und Dienste nicht zu schlagen. „Bei den KI-Systemen sollte uns nun mal wieder ein Erfolg gelingen. Man kann da optimistisch sein“, meint der Wissenschaftler und spricht pro domo: Ein System wie Teuken-7B sei ein guter Anfang.