Wirtschaftswachstum ist nicht alles, so sagte man kurz nach der großen Finanzkrise. Die Industrieländer-Organisation OECD legte 2011 einen sogenannten „Index des besseren Lebens“ auf. Darin maß sie zum Beispiel, ob die Menschen gesund sind, sich sicher fühlen, eine gute Bildung bekommen und ob die Menschen im Land zusammenhalten. Von dem Index hat man seitdem nicht mehr viel gehört – vielleicht weil sich herausgestellt hat: Auch im „Index des besseren Lebens“ stehen die Länder oben, die eine starke Wirtschaft haben. Man muss daran heute noch mal erinnern, denn zu viele Leute haben die Bedeutung von Wirtschaftswachstum vergessen.
In Umfragen machen sie sich zwar regelmäßig Sorgen um die Wirtschaft des Landes, betonen aber gleichzeitig: Ihnen selbst gehe es ja gut. In den vergangenen Wochen hat sich der Bundestagswahlkampf folgerichtig um alles Mögliche gedreht, aber nicht darum, wie Deutschland seine Wirtschaft wieder flottkriegt. Keine Partei traut sich, den Deutschen richtig etwas abzuverlangen. Das ist verständlich, aber trotzdem ein Problem.
Deutschland hat zwei Rezessionsjahre hinter sich, und das laufende Jahr verspricht auch keinen schnellen Aufschwung. Oft wird die Verantwortung dafür auf den Ukrainekrieg und neue geopolitischen Spannungen geschoben. Wahr ist aber auch, dass Deutschland schon 2018 und 2019 ein schwaches Wachstum hatte.
Die Bundesregierung könnte 30 Milliarden mehr zur Verfügung haben
Wäre Deutschland seit 2018 auch nur so schnell gewachsen wie die anderen Eurostaaten, läge die Wirtschaftsleistung jetzt sechs Prozent höher. Auf den Staatshaushalt hochgerechnet, bedeutet das: Die Bundesländer hätten allein in diesem Jahr rund 30 Milliarden Euro mehr für Polizei, Schulen und Kindergärten. Die Bundesregierung hätte zusätzlich noch einmal so viel für Investitionen in die Bahn und die Aufrüstung des Landes. Und der Bundeskanzler müsste nicht darüber spekulieren, wie man Aufrüstung und Sozialausgaben abwägt.
Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Wer sich an den Kalten Krieg erinnert, der weiß: Der Westen gewann damals nicht zuletzt dank seiner Wirtschaftsleistung, weil er am Schluss im Wettrüsten die besseren Chancen hatte.
Nicht nur das Bruttoinlandsprodukt selbst ist wichtig, auch sein Wachstum erleichtert das Leben. Wenn die Steuereinnahmen schnell steigen, können Regierungen leichter neue Prioritäten setzen. Sie müssen dann nicht so viele andere Ausgabeposten streichen, was oft zu größerem Widerstand bei den Betroffenen führt.
Wie Stagnation die Ränder stärkt
Amerikanische und kanadische Forscher haben in letzter Zeit sogar festgestellt, dass Wirtschaftswachstum auch die gesellschaftliche Stimmung verbessert. Das kommt so: Es gibt wenige Denkmuster, die schädlicher sind als das sogenannte „Nullsummen-Denken“, also die Annahme, dass der Gewinn des einen der Verlust des anderen sein muss. Normalerweise stimmt das nicht. Aber in einer Volkswirtschaft, die stagniert, ist die Mathematik tatsächlich so.
Da ist es kein Wunder, dass in Gesellschaften ohne Wachstum sich das Nullsummen-Denken immer weiter ausbreitet. Genau dieses Denkmuster hat in den USA Donald Trump groß gemacht. Und in Deutschland propagieren es die Parteien an den Rändern.
Das sind genügend Gründe, sich für Wirtschaftswachstum ins Zeug zu legen. Und sich im Wahlkampf ganz besonders damit zu beschäftigen, wo Deutschland wieder Wachstum herbekommen kann.
Die Meinungsforscher des Allensbacher Instituts haben in der F.A.Z. festgestellt, dass nur 16 Prozent der Deutschen derzeit eine Aufbruchstimmung im Land wahrnehmen. So läuft bisher auch der Wahlkampf. Dabei wäre der Nutzen des Wachstums so groß, dass jeder Einzelne dafür die eine oder andere Zumutung in Kauf nehmen könnte. Das kann anstrengend sein, muss aber nicht viel Geld kosten.
Hätte Deutschland 2015 einen Bürokratieabbau bekommen, wäre das BIP heute um fast 150 Milliarden Euro höher, hat das Ifo-Institut im Herbst ausgerechnet. Auch das wären rund 70 Milliarden Euro mehr für die öffentlichen Haushalte. Wachstum lohnt sich.