Mehr als 30 besonders gefährliche Erreger, die eine Pandemie auslösen können, führt die Weltgesundheitsorganisation WHO mittlerweile auf ihrer Liste. Es sei nur eine Frage der Zeit, dass auch Deutschland abermals von einer Pandemie erfasst werde, sagen Gesundheitsfachleute. Ein neuer großer Krankheitsausbruch käme also nicht unerwartet – träfe Deutschland aber fünf Jahre nach der ersten Corona-Infektion hierzulande in vielerlei Hinsicht nicht hinreichend vorbereitet. Die krisengeschüttelte Wohlfahrtspflege hat sich keineswegs von der Corona-Pandemie erholt, und Führungskräfte in sozialen und gesundheitlichen Einrichtungen und Diensten sehen ihre Häuser mehrheitlich nicht besser für die nächste Gesundheitskrise gerüstet. Das ergibt eine Umfrage des Deutschen Caritasverbandes, die der F.A.Z. exklusiv vorab vorlag.
Sorge bereitet Caritas-Präsidentin Eva Welskop-Deffaa vor allem die coronabedingte Belastung von Mitarbeitern, vor allem in Pflegeeinrichtungen. Von den befragten Führungsleuten beobachten 82 Prozent eine andauernde Erschöpfung des Personals infolge der Corona-Krise. In der Altenhilfe liegt der Anteil sogar bei 87 Prozent. „Viele Führungskräfte fragen sich verzweifelt, wo der Hebel ist, um Abhilfe zu schaffen“, sagt Welskop-Deffaa im Gespräch mit der F.A.Z. Die Krankmeldungen schienen kein Ende zu nehmen, gerade von Mitarbeitern, die bis zum Ausbruch von Corona praktisch nie krank waren und in der Krise den Betrieb maßgeblich stützten, schilderte sie.
Hoher Krankenstand: Pflege braucht mehr Personal
Die Umfrageergebnisse zur fortwirkenden coronabedingten Entkräftung der Mitarbeiter widerlegen nach Ansicht von Welskop-Deffaa Vermutungen, hohe Krankenstände würden durch die neuen Möglichkeiten zur Krankschreibung befördert. „Wir müssen aufpassen, dass wir in der anlaufenden Spardebatte nicht voreilig zu dem Schluss kommen, in der Wohlfahrtspflege komme man auch mit weniger Personal aus“, mahnt die Chefin des größten deutschen Wohlfahrtsverbandes.
Abgefragt wurden Erfahrungen und Einschätzungen der oberen Führungsebene und leitender Caritas-Mitarbeiter aus rund zwei Dutzend Bereichen: von Hilfseinrichtungen für Flüchtlinge und Wohnungslose über Kitas und Jugendeinrichtungen bis zu Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen. Es nahmen 685 Personen teil; besonders hoch waren die Rückmeldungen aus der Altenpflege.
Die wichtigste Lehre aus der Pandemie ist nach Ansicht des Führungspersonals „mehr Sensibilität für Präventionsmaßnahmen“ (87 Prozent). Vor allem komme es darauf an, die Digitalisierung weiter voranzutreiben. Digitale Prozesse seien eine der wichtigsten Hilfen für die Bewältigung der Corona-Krise gewesen. Doch eine Mehrheit der Caritas-Einrichtungen hat sich bislang nicht durch Anpassung der eigenen Strukturen für die nächste Pandemie gewappnet. 64 Prozent verneinten, dass organisatorische Veränderungen vorgenommen worden seien, um die nächste Krise besser bewältigen zu können.
Grund dafür könnte die starke Inanspruchnahme durch die weiteren Krisen gewesen sein – durch den Krieg in der Ukraine und die dadurch verursachte Energiekrise, den Personalmangel und Sparzwänge, sagte Welskop-Deffaa. Sie vermutet, dass „Energie und Zeit nicht reichten, um die Corona-Pandemie systematisch aufzuarbeiten“. Eine bedenkliche Lücke sieht sie bei der Impfbereitschaft. Etwas mehr als ein Viertel der Befragten aus der Altenhilfe gab an, die Grippe-Impfquote in ihren Einrichtungen sei seit der Pandemie gesunken. „Wenn man die Zahl ernst nimmt, zeigt sich hier eine bedenkliche Impfskepsis“, bemerkt Welskop-Deffaa.
Führungskräfte wünschen sich mehr Unterstützung durch öffentliche Stellen
Zwiespältig sind Erfahrungen der Caritas-Führungskräfte zur Funktionstüchtigkeit und Kooperationsbereitschaft staatlicher Stellen während Corona. Die Zusammenarbeit mit Gesundheitsämtern wurde zwar ganz überwiegend als „gut“ oder „sehr gut“ bewertet (77 Prozent), der Wert für die Kooperation mit den Kommunen, Stadt- und Landkreisen beträgt sogar 81 Prozent. Zugleich halten aber 77 Prozent der Befragten eine gründliche Reform der öffentlichen Verwaltung für erforderlich, gerade auch damit die staatlichen Stellen in Krisen effektiver handeln können. Hier spiegele sich die Erfahrung vieler Mitarbeiter, dass Stellen wie Jobcenter, Wohngeldstellen oder die Schuldnerberatung für viele Ratsuchende nicht erreichbar gewesen seien. Hinzu kämen bürokratische Hürden, die die Einrichtungen in der Corona-Zeit besonders belastet hätten, vor allem die Einhaltung von Dokumentationspflichten.
Zu denken gibt der Caritas-Präsidentin, dass nur zwölf Prozent der Führungskräfte berichteten, sie seien in regionale Krisenstäbe einbezogen worden. „Leider machen wir häufig die Erfahrung, dass die Hilfe der Wohlfahrtsverbände zur akuten Bewältigung sozialer Probleme zwar gerne genutzt wird, unsere Kompetenz bei der Entwicklung von Lösungen aber oft nicht ausreichend berücksichtigt wird“, kritisiert sie. Die Politik müsse dringend dafür sorgen, dass das soziale Netz als Ganzes krisenfest werde. „Wenn man einen Baustein herausnimmt, wird es für Menschen in Notlagen potentiell schwerer, ihr Leben zu bewältigen, und für die Solidargemeinschaft entsprechend teurer“, mahnt Welskop-Deffaa.