Der SPD droht die Implosion

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Was ist in früheren SPD-Wahlkämpfen nicht schon alles schiefgelaufen. Und was hat die SPD doch dieses Mal alles richtig gemacht. Eigentlich. Sie hat ein solides, durchgerechnetes Programm, das günstiger ist als das der Konkurrenz. Andere Parteien lassen Finanzierungslücken, die Sozialdemokraten wollen stattdessen an der Schuldenbremse drehen.

Es gab diesmal auch keine Sturzgeburt des Kandidaten, wie das etwa bei Peer Steinbrück und Martin Schulz der Fall war, Kandidaten ohne thematischen Unterbau. Aber vielleicht fängt hier das Problem schon an. Eine Sturzgeburt hätte der SPD in diesem Wahlkampf womöglich ganz gutgetan.

Denn Olaf Scholz brachte nicht zu wenig mit in diesen Wahlkampf, sondern zu viel. Zu viele schlechte Wirtschaftszahlen, eine zu mäandernde Linie in der Ukrainepolitik, zu viele Schreckensnachrichten nach mehreren Anschlägen. Schon zu lange hat sich die Einschätzung festgesetzt, dass CDU/CSU und ihr Kanzlerkandidat Friedrich Merz weit vorne liegen und Scholz in einem nur noch ihm zugänglichen „Paralleluniversum“ (Christian Lindner) eine Aufholjagd wie 2021 gelingen und Kanzler bleiben wird.

Wäre Pistorius die bessere Wahl gewesen?

Mit Scholz wurde kein Aufbruch mehr verbunden, keine Veränderung, nichts, was für ihn nach oben zeigen könnte. Wäre das mit Boris Pistorius anders gewesen? Das wird die Gretchenfrage sein am Wahlabend von 18.01 Uhr an. Und gerade weil sie nie mit Sicherheit beantwortet werden kann, dürfte sie zu einiger Unruhe in der SPD führen. Oder sogar zur Implosion.

SonntagsfrageWie stehen die Umfragen vor der Bundestagswahl?

Die Beispiele Migration und Außenpolitik verdeutlichen die Schwierigkeiten. Nach der mörderischen Tat von Aschaffenburg hat der Kanzler Konsequenzen angekündigt. Aber die kamen nie. Er ist offenbar an das Ende seiner Möglichkeiten gelangt. Scholz hat in den vergangenen drei Jahren mehrfach seine Migrationspolitik verschärft, ist womöglich sogar an seine Schmerzgrenze gegangen. Aber weiter wollte er nicht gehen. Das ließ auch seine Partei nicht zu.

Hätte Pistorius weitergehen wollen und können? Er hätte zumindest für einen Überraschungsmoment sorgen können, ohne gleichzeitig die eigene Politik infrage stellen zu müssen. Wie so ein neuer Ton hätte klingen können, konnte man nach Pistorius’ Antwort auf den amerikanischen Vizepräsidenten J. D. Vance erahnen. Pistorius war derjenige, der Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Freitag entgegentrat. Scholz sprach erst einen Tag später.

In der SPD sprechen sie seit einiger Zeit über Scholz als den Immerhin-Kanzler: Immerhin ist er mal emotional geworden im Bundestag, immerhin sind die Wahlkampfveranstaltungen gut besucht. Im Willy-Brandt-Haus machten sie sich schon nach der Europawahl im Juni große Sorgen, nicht nur wegen des misera­blen Ergebnisses von 13,9 Prozent. In der Nachwahlbefragung kam heraus, dass viele Bürger zwar nicht schlecht finden, was Scholz sagt. Sie glauben ihm aber nicht, dass er auch so handelt. Inhalte kann man ändern – aber einen Mangel an Glaubwürdigkeit?

SPD setzt auf Anti-Merz-Kurs

Es gibt unbestrittene Erfolge der SPD-geführten Bundesregierung: die Bewältigung der Energiekrise nach dem russischen Überfall auf die Ukraine oder eine tatsächliche Eindämmung der irregulären Migration. Beim Bürger hängen geblieben sind sie aber nicht. Genauso wie die finanz- und steuerpolitischen Vorschläge. Auch weil die SPD nur allzu gerne auf einen Anti-Merz-Kurs schwenkte und sich am Gegenkandidaten abarbeitete, anstatt auf eigene Stärken zu setzen. Verdichtet wird das auf einer offiziellen Social-Media-Kachel, auf der eine Bürgerin zu sehen ist mit dem Worten: „Ich wähle Olaf Scholz, weil er nicht Friedrich Merz ist.“

Manche dokumentieren ihre Distanz schon öffentlich: Der Münchner Oberbürgermeister und Sozialdemokrat Dieter Reiter blieb einer Wahlkampfveranstaltung mit Scholz in seiner Stadt fern. Auffallend war auch, wer sich bei den Turbulenzen rund um die Hofnarr-Äußerung von Scholz gegenüber dem schwarzen CDU-Politiker Joe Chialo in der ruhigen Ecke hielt: Pistorius und Parteichef Lars Klingbeil.

Denn zu viel Nähe zu Scholz kann noch gefährlich werden, wenn es darum geht, die SPD zu sortieren und zu führen nach dem Wahltag. Sollten die Sozialdemokraten in den letzten Tagen nicht noch einen Aufschwung erleben, werden an ihr am Wahlabend bittere Botschaften kleben: abgestürzt von Platz eins auf Platz drei, schlechtestes Ergebnis jemals bei einer Bundestagswahl.

Scholz hat schon angekündigt, kein Amt unter einem Kanzler Merz anzunehmen. Aber würde er sich noch an den Verhandlungstisch bei Koalitionsgesprächen setzen wollen? Mit welchem Mandat? Würde das seine Partei zulassen? Scholz hat kein Parteiamt, war vor einigen Jahren sogar gescheitert bei dem Versuch, Vorsitzender zu werden. Echte Zuneigung hat sich auch in den drei Jahren Kanzlerschaft zwischen seiner Partei und ihm nicht entwickelt.

Wer säße also dann am Verhandlungstisch? Pistorius, der weiterhin der beliebteste Politiker Deutschlands ist und gerne Minister bliebe. Der auch schon mal Parteivorsitzender werden wollte, also auch schon einen Hang zur Detailarbeit zeigte. Dann Klingbeil, den es nun endgültig ins Kabinett ziehen dürfte, um das Gesicht der nächsten SPD-Generation zu werden. Dann gibt es noch Hubertus Heil, genau wie seine beiden Kollegen Niedersachse.

Sollten nur wenige Plätze am Kabinettstisch für die Sozialdemokraten bleiben, weil es womöglich noch einen weiteren Partner braucht, wird es eng für die Norddeutschen. Und dann ist da ja auch noch Wolfgang Schmidt, Macht-Mechanist aus Hamburg, der auch weiterhin mitmischen will. Und vielleicht fällt der SPD dann auch noch auf, dass da dann Frauen fehlen.

Wird Söder zum Stabilitätsanker der SPD?

Aber das sind nur die Personalfragen. Auf die SPD könnte auch eine Machtfrage zukommen. Denn aus einem historisch schlechten Ergebnis kann man ja zwei Schlüsse ziehen: Entweder man orientiert sich deutlicher an den Alltagsproblemen der Bürger und dient sich mit so einer pragmatischen Haltung CDU/CSU an. Oder man sieht es genau andersherum.

Die Jusos könnten etwa sagen: Seht ihr, wohin uns eure konservative SPD-Politik gebracht hat? Das wäre ein bekannter Reflex der Parteilinken. Würde gar der Ruf nach Opposition laut, so wie 2017? Müsste sich wieder Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einschalten, um eine Unregierbarkeit Deutschlands, vor der auch viele Sozialdemokraten warnen, zu verhindern? Zumindest müssten die Anführer dieser gerupften SPD etwas Großes rausverhandeln, das der Basis als Trophäe präsentiert werden könnte. Denn eine Mitgliederbefragung über einen etwaigen Koalitionsvertrag dürfte es auf jeden Fall geben.

Wird am Ende des Tages dann vielleicht CSU-Chef Markus Söder zum Stabilitätsanker der SPD? Indem er die Grünen (zumindest noch) als Koalitionspartner ausgeschlossen hat, kettet er die Union an die Sozialdemokraten. Und könnte an deren Verantwortungsbewusstsein appellieren: Ohne die SPD ist keine Bundesregierung zu machen.