Wie Menschen mit Migrationshintergrund wählen

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Bundestagswahl 2025

So wählen die neuen Deutschen

Von Jannis Holl (Text) und Claudia Bothe (Grafiken)



16. Februar 2025 · Millionen von Deutschen haben einen Migrationshintergrund. Für viele von ihnen ist es die erste Bundestagswahl. Wem geben sie ihre Stimme?




Für Asiye Aşar ist es eine besondere Bundestagswahl. Nach 43 Jahren in Deutschland darf sie zum ersten Mal ihre Stimme abgeben. „Es hat mich traurig gemacht, die Wahlen nur im Fernsehen verfolgen zu können“, sagt sie. Seit ihrer Einbürgerung vor zwei Jahren muss sie nicht mehr zuschauen, sondern darf jetzt mitbestimmen. Die Frankfurterin ist eine von schätzungsweise mehreren Hunderttausenden Eingebürgerten, die im Februar zum ersten Mal über die Zusammensetzung des Parlaments entscheiden dürfen.

„Gamechanger der Bundestagswahl“ nennt der frühere Bundespräsident Christian Wulff migrantische Wähler. Auch die bekannte Soziologin Naika Foroutan betont ihre wichtige Rolle bei der Abstimmung in einer Woche. Denn insgesamt sind rund sieben Millionen Deutsche mit Migrationshintergrund wahlberechtigt, je nach Definition sogar bis zu neun Millionen.

Es ist unklar, wie viele von ihnen, wie Asiye Aşar, erst in den vergangenen Jahren neu hinzugekommen sind. Zwischen 2021 und 2023 wurden rund 500.000 Menschen eingebürgert. Die Zahlen für 2024 veröffentlicht das Bundesinnenministerium erst im Mai. Außerdem ist nicht jeder Neudeutsche, der seit der letzten Bundestagswahl eingebürgert wurde, volljährig und somit wahlberechtigt. Auch Sterbefälle müssen abgezogen werden.







Eine Umfrage der F.A.S. unter den Verwaltungen von 46 deutschen Großstädten zeigt: Die Zahl der Einbürgerungen ist dort 2024 im Vergleich zum Vorjahr durchschnittlich um rund 34 Prozent gestiegen. Allein in Berlin erhielten fast 20.000 Menschen die deutsche Staatsbürgerschaft. Ein großer Teil der Eingebürgerten stammt aus Syrien und der Türkei.








Ebenfalls stark zugenommen haben die Anträge für die deutsche Staatsangehörigkeit mit einer Steigerung von mehr als 50 Prozent in den untersuchten Städten. Und durch die Staatsangehörigkeitsreform von 2024 und kommende Generationen dürfte die Zahl migrantischer Wähler weiter wachsen. Sowohl Wulff als auch Foroutan treibt die Sorge um, dass viele von ihnen ausgerechnet der teils rechtsextremen AfD ihre Stimme geben könnten. 


Steigende Tendenz bei den Einbürgerungen im Jahr 2024



Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) hat in einer aktuellen Studie das Wahlverhalten der größten migrantischen Wählergruppen untersucht: Menschen mit Einwanderungsbiographie aus der ehemaligen Sowjetunion, dem EU-Ausland, dem Nahen Osten und Nordafrika. Und aus der Türkei, so wie bei Asiye Aşar.

Ihr Vater packte 1969 seine Koffer, um fernab der türkischen Schwarzmeerküste in Deutschland als Gastarbeiter Geld zu verdienen. 1982, mit 13 Jahren, kam Aşar dann nach. Ihren Vater kannte sie davor nur von seinen Heimaturlauben. Vom türkischen Gymnasium musste sie auf eine deutsche Hauptschule wechseln. Integrationsklassen und Sprachkurse gab es damals nicht. „Ich habe mir vieles hart erarbeitet“, sagt Aşar. Die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern führt einen Friseursalon. Neben dem Beruf machte sie einen Abschluss als Betriebswirtin.




Die Themen Wirtschaft, Bildung und Gesundheit spielen bei ihrer Entscheidung eine wichtige Rolle: Die türkeistämmige Erstwählerin Asiye AşarFoto: Lucas Bäuml




Als Vorstandsmitglied der Türkischen Gemeinde in Hessen weiß Aşar, welche Themen viele der rund 1,2 Millionen türkeistämmigen Wähler umtreiben. Im Vordergrund stünden vor allem das Erstarken der AfD und die Debatte um die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft. „Das ist sicher kein Gewinnerthema unter Menschen mit beiden Pässen“, sagt der Soziologe Özgür Özvatan. Gerade unter Türkeistämmigen sei die Identifikation mit beiden Staaten sehr hoch. Sie fühlten sich „maximal türkisch und maximal deutsch“.

Lange galt die SPD als politische Heimat türkischer Gastarbeiter und ihrer Nachkommen. „Die Sozialdemokratie hat für diese Gruppe dann zeitweise auch politisch geliefert“, sagt Özvatan. Als Beispiel führt er die Staatsbürgerschaftsreform der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder auf. Diese Bindung hat in den letzten Jahren nachgelassen. Die rassistischen Entgleisungen des damaligen SPD-Manns Thilo Sarrazin irritierten türkeistämmige Wähler. Auch der sozioökonomische Aufstieg vieler Türkeistämmiger veränderte ihr Wahlverhalten. Der liberalere Kurs der Merkel-CDU führte zu einer Annäherung an die Union.

Tendentiell ist das Wählerpotential für SPD und CDU aber etwas geringer als bei Menschen ohne Migrationshintergrund. Dafür schneiden die Linkspartei und das BSW bei Türkeistämmigen auffallend gut ab. 60 Prozent der Befragten können sich vorstellen, die Partei von Sahra Wagenknecht zu wählen. Das sind fast doppelt so viele wie bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund. „Das BSW ist mit israelkritischen und propalästinensischen Positionen in eine Nische im parteipolitischen Wettbewerb vorgestoßen“, sagt Soziologe Özvatan. Auch die Linke sei in den vergangenen Monaten nachgerückt. Zudem versucht das BSW türkeistämmige Wähler auch mit migrationskritischen Positionen zu erreichen. Das Narrativ: Die neuen Migranten könnten eurem guten Ruf schaden, den ihr euch erarbeitet habt.


Wählerpotential nach Herkunftsregion



Auch die AfD versucht so Migrantengruppen gegeneinander auszuspielen. Wie die DeZIM-Studie zeigt, findet die Partei bei den Türkeistämmigen einen ähnlichen Anklang wie bei Bürgern ohne Migrationshintergrund. Für rund 20 Prozent der Befragten aus beiden Gruppen wäre die AfD wählbar. „So paradox es klingen mag, die Islamfeindlichkeit der AfD spricht auch Wähler unter den Türkeistämmigen an“, sagt Özvatan. Insbesondere jene, die gegenüber einer politischen Instrumentalisierung des Islams in ihrer Herkunftsregion kritisch eingestellt seien. Sie kenne keinen Türkeistämmigen, der die AfD wähle, sagt Asiye Aşar , „aber es gibt sie sicher“. Ihr selbst sind die Themen Wirtschaft, Bildung und Gesundheit besonders wichtig. Sie werde die Partei wählen, die „ihre Werte“ vertrete.

Die meisten Sympathisanten hat die AfD bei Wählern aus der ehemaligen Sowjetunion. Fast dreißig Prozent können sich vorstellen, die Partei zu wählen. Damit kann sie bei der Wählergruppe von rund 2,3 Millionen Menschen, ein großer Teil davon Spätaussiedler, sogar auf mehr Stimmen hoffen als bei den Wählern ohne Migrationshintergrund. Lange Zeit galten die Russlanddeutschen als sichere Bank für die CDU. Ein Großteil von ihnen kam in den Neunziger Jahren nach Deutschland. Die Regierung von Helmut Kohl erleichterte ihnen die Einbürgerung, erkannte ihre deutsche Abstammung an und bot ihnen umfassende Integrationshilfen. Ihre Dankbarkeit zeigten die Spätaussiedler lange an der Wahlurne. Noch bei der Bundestagswahl 2002 gaben mehr als 70 Prozent von ihnen der Union ihre Stimme.




Doch die CDU hat ihre Bindekraft gerade bei den jüngeren Russlanddeutschen verloren. „Auffällig ist, dass die AfD in dieser Gruppe vor allem auf Kosten der CDU wächst“, sagt der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis von der Universität Wien. Viele Russlanddeutsche sind eher traditionell-konservativ geprägt. Durch Merkels Wende hin zur Mitte suchten sie diese Werte anscheinend eher bei der AfD. Auch „Konkurrenz innerhalb der Migrationsgesellschaft“ sei ein Faktor, so Panagiotidis. Die Antimigrationsagenda der AfD komme bei manchen deswegen gut an. Und dann ist da noch die russlandfreundliche Haltung der AfD, die viele Spätaussiedler ansprechen dürfte, die sich der alten Heimat verbunden fühlen.

Dass viele russischsprachige Menschen AfD wählen, sei ein Problem mangelnder Integration in die deutsche Gesellschaft, sagt die Deutsch-Ukrainerin Viktoriia von Rosen. „Sie verbleiben in ihrer prorussischen Blase, sehen russisches Fernsehen und lesen russische Zeitungen.“ Von Rosen gehört zu den knapp 140.000 Wahlberechtigten aus der postsowjetischen Diaspora, die einen Bezug zur Ukraine haben. Bis zur Bundestagswahl 2029 könnte ihre Zahl stark ansteigen. Je nachdem wie sich die Lage in der Ukraine entwickelt, könnten theoretisch Hunderttausende der derzeit knapp 1,1 Millionen ukrainischen Geflüchteten in Deutschland bleiben und die Staatsbürgerschaft beantragen.




„Wählen gehen bedeutet, die Demokratie wertzuschätzen“: Deutsch-Ukrainerin Viktoriia von RosenFoto: Frank Röth




Ihre Stimmen dürften wohl nicht an russlandfreundliche Parteien wie AfD und BSW gehen. Viktoriia von Rosen kann bereits bei dieser Wahl mitentscheiden. Die promovierte Finanzwissenschaftlerin aus Kiew lebt seit 2016 in Frankfurt, 2023 wurde sie deutsche Staatsbürgerin. In ihrer neuen Heimat gründete sie das Ukrainian Coordination Center, um Geflüchtete aus der Ukraine nach ihrer Ankunft zu unterstützen. „Die Bundestagswahl ist wirklich wichtig für die Zukunft der Ukraine“, sagt von Rosen. Die Wahl beschäftige deswegen viele Ukrainer. „Wählen gehen bedeutet, die Demokratie wertzuschätzen“, sagt sie.

Die meisten Eingebürgerten der vergangenen Jahre stammen aus Syrien. Zwischen den Jahren 2021 und 2023 erhielten mehr als 140.000 Syrer den deutschen Pass. Auch für das Jahr 2024 dürfte die Zahl hoch sein.




Rawan Darwish floh 2015 aus dem schwer umkämpften Aleppo. Über das Mittelmeer und den Balkan gelangte er im Alter von 18 Jahren ins bayerische Passau. Dort studierte er Film und Kommunikation an der dortigen Universität. 2022 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft. „Deutscher zu werden hat sich angefühlt wie eine Belohnung“, sagt Darwish. Dafür, dass er etwas aus sich gemacht habe.




Deutsch-Syrer Rawan Darwish ist von Friedrich Merz enttäuscht.Foto: Frank Röth




Seit Kurzem lebt er als freier Journalist in Frankfurt, führt eine eigene Produktionsfirma, in der er Videoformate für Social Media gestaltet. Als Teil der exiljournalistischen Plattform „Amal“ hat Darwish zusammen mit Studenten der Universität Mainz migrantische Erstwähler für den Hessischen Rundfunk porträtiert. Er selbst weiß noch nicht, wem er seine Stimme gibt. Er sieht bei sich selbst linke, aber auch konservative Seiten. Seit dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad im vergangenen Jahr seien die Themen Migration und Syrienpolitik für ihn wichtig.

Darwish hofft auf eine gute wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten. Und dass Deutschland endlich für sich definiert, ob es ein Einwanderungsland sein will oder nicht. Obwohl ausländische Fachkräfte benötigt würden, werde die Migrationsfrage vor allem negativ diskutiert. „Als Migrant fühlt man sich damit nicht wohl.“ Damit sich etwas ändert, spricht sich der Deutsch-Syrer für härtere und konsequente Strafen für Kriminelle aus: „Die müssen länger ins Gefängnis.“ In der syrischen Community sei man nach Anschlägen wie in Magdeburg oder Aschaffenburg ratlos, warum die deutschen Sicherheitsbehörden die als gefährlich bekannten Menschen nicht längst aus dem Verkehr gezogen haben.

Bei einer Sache ist er sich aber sicher: Am liebsten hätte er, dass eine Partei eine starke Mehrheit erzielt, um ihr Programm durchzusetzen. Man könne schon von einem „Ampel-Trauma“ sprechen, sagt Darwish. „Weder die Flüchtlingskrise haben sie gelöst noch die Wirtschaftskrise. Sie haben nur gestritten.“

Und auch das steht für ihn fest: Wegen der Abstimmung mit der AfD gibt er seine Stimme nicht der CDU. Dabei hätte er sich durchaus vorstellen können, christdemokratisch zu wählen. Darwish befürwortet die Stärkung traditioneller Familien, hat die CDU als Partei der Willkommenskultur von 2015 in Erinnerung. Auch in der syrischen Community spreche man viel über die AfD. „Wir machen uns aber keine Sorgen um uns, sondern um Deutschland“, sagt Darwish. Die Syrer würden im schlimmsten Fall abgeschoben, wenn die AfD an die Macht käme. „Aber ihr müsst dann damit leben.“ Man dürfe gespannt sein, ob bei der Wahl bei den Syrern ein „Merkel-Bonus“ festzustellen ist, sagt Jannis Panagiotidis. Zumindest bei Rawan Darwish hat Friedrich Merz ihn verspielt.

Wie Darwish zählt auch der 24 Jahre alte Deutsch-Afghane Navid Hashemi aus Berlin zur MENA-Gruppe, den Wählern, deren Herkunft im Nahen Osten oder in Nordafrika liegt. Im Sommer 2024 wurde er eingebürgert.




„Menschen wie der Attentäter von Aschaffenburg versauen das Image der gut integrierten Afghanen“: Deutsch-Afghane Navid HashemiFoto: Andreas Pein




Dass er zuvor von den Wahlen ausgeschlossen war, habe sich angefühlt, als säße er in einem Bus, ohne zu entscheiden, wohin die Reise geht. „Jetzt kann ich mitbestimmen, in welche Richtung wir fahren“, sagt Hashemi. Derzeit tendiere er zu den Grünen. Auch Christian Lindner fand er lange Zeit gut. Aber der habe in letzter Zeit zu viel falsch gemacht, Merz sei ihm zu impulsiv.

Der Student des Wirtschaftsingenieurwesens bezeichnet sich selbst als wirtschaftsliberal, aber auch ein funktionierender Sozialstaat sei ihm wichtig. Die Migrationsdebatte treibt auch ihn um, gerade Asylbewerber aus Afghanistan stehen nach Taten wie in Aschaffenburg und jetzt auch in München im Mittelpunkt. „Bei dem Thema bin ich zwischen zwei Fronten gefangen“, sagt Hashemi.

Er kam selbst als Schutzsuchender 2010 nach Deutschland, gleichzeitig spricht er sich gegen unkontrollierte Einwanderung aus. „Menschen wie der Attentäter von Aschaffenburg versauen das Image der gut integrierten Afghanen“, so Hashemi. Er beobachtet, dass gerade ältere Afghanen erwarten, dass Deutschland strenger sein müsse bei der Einreise von Ausländern. Dass sie den Rändern ihre Stimme geben, befürchtet Hashemi nicht: „Auf jeden Fall eher der Mitte.“

Wer sich die Balkendiagramme der DeZIM-Studie anschaut, wird bemerken: Bis auf einige spezifische Abweichungen wählen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund recht gleich. Der Politikwissenschaftler Andreas Wüst von der Hochschule München sagt, die Probleme des Landes beschäftigten alle gleichermaßen. „Da geht es gerade um Wirtschaft und Migration.“ Je länger Menschen mit Mi­grationshintergrund in Deutschland lebten, umso mehr passte sich ihr Wahlverhalten an das der Menschen ohne Migrationshintergrund an.