Hanau fünf Jahre nach dem Anschlag: Sehnsucht nach einem Schlussstrich

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Am Wochenende waren die Gesichter der neun Getöteten mal wieder auf dem Markt von Hanau zu sehen. Einige der rund tausend Demonstranten, die sich versammelten, hielten Fotos auf Schildern in die Höhe, um an den Anschlag vor fünf Jahren zu erinnern. Am 19. Februar 2020 hatte ein psychisch kranker Rechtsextremist in nur sechs Minuten neun Menschen getötet, die er vorher nicht kannte. Er erschoss sie allein aufgrund ihrer Herkunft, aus rassistischen Motiven.

Am Tag danach versammelten sich viele Bürger und Angehörige der Opfer auf dem Marktplatz der Stadt. Trauer und Wut kamen zusammen. Das Nationaldenkmal der Brüder Grimm, den berühmten Söhnen Hanaus, stand im Mittelpunkt. Vor Jacob und Wilhelm, direkt am Rathaus, sollten noch über Monate Blumen und Kerzen stehen. „Tot sind wir erst, wenn man uns vergisst“, der Satz von Ferhat Unvar, einem der Getöteten, klebte dort auch; Jahre vorher schrieb er ihn bei Facebook.

Für die Familien der Opfer war klar, dass ein Mahnmal in jedem Fall auf dem Marktplatz stehen müsste. Im Herzen der Stadt. Doch genau über die Frage des Standorts herrschte über Jahre Streit, der erst vor wenigen Wochen beigelegt wurde. Es geht um mehr als die Frage, wie viel Raum die Stadt dem Gedenken einräumt. Es geht darum, wie die Stadt langfristig mit dem Anschlag umgeht.

Die Frage nach der Bedeutung des Anschlags

Martin Lückhoff beobachtete nach dem 19. Februar 2020, wie unterschiedlich der Anschlag wahrgenommen wurde. Er ist Dekan des Kirchenkreises Hanau der evangelischen Kirche. In einem Segment des bürgerlichen Milieus galt der Anschlag aus seiner Sicht als die einzelne Tat eines psychisch Kranken. Ebenso waren es weite Teile der Stadtgesellschaft, die sich wunderten, dass so etwas gerade in Hanau geschehen könnte.

In der „postmigrantischen Community“ hingegen, in der viele einen Migrationshintergrund haben, gleichwohl seit Jahrzehnten in Hanau leben oder hier geboren sind, hörte Lückhoff, dass der Anschlag im Kontext eigener rassistischer Erfahrungen gesehen wurde. Der Satz „Aus Worten werden Taten“ und die Annahme, in einer grundsätzlich rassistischen Gesellschaft zu leben, drückt sich auch im Satz „Hanau ist überall“ aus. Lückhoff sagt, dass diese unterschiedlichen Blicke auf den Anschlag eine Auseinandersetzung erschwert hätten. Die Folge: „Diese Gruppen sind viel zu wenig ins Gespräch miteinander gekommen.“

Der Pfarrer spricht vom Anschlag als einer Wunde, die schwer verheilt. Verkrustet sei sie, es bestehe aber immer die Gefahr, dass sie aufgekratzt werde. „Man darf sich auch nicht darauf verlassen, dass die Selbstheilung funktioniert.“ Aus Lückhoffs Sicht kann der Prozess nur durch Austausch und Auseinandersetzung gelingen, dadurch, dass alle Teile der Stadtgesellschaft miteinander ins Gespräch kommen. Zwar finden rund um den Jahrestag Demonstrationen und Gedenkminuten an Schulen statt, aber nur eine einzige öffentliche Diskussionsveranstaltung, bemängelt er.

„Es ist der Wunsch nach Verdrängung“

Lückhoff sitzt in einem Besprechungszimmer des Dekanats, auf dem Tisch ein grünes Notizbuch, in das er immer wieder schaut. Einmal schlägt er es zu und sagt: „Ich nehme eine erschöpfte Stadtgesellschaft wahr, die sich in Teilen einen Schlussstrich wünscht“, sagt Lückhoff. Man merkt, dass ihm der Satz nicht leicht fällt. Er will vermitteln, keinem vor den Kopf stoßen. Da seien Einzelne, die im Gespräch sagten, dass die Angehörigen zur Ruhe kommen sollten. „Das ist der in Mitgefühl gekleidete Wunsch, selbst in Ruhe gelassen zu werden. Es ist der Wunsch nach Verdrängung.“

An einem Nachmittag vergangene Woche hängen zwei Aktivisten der „Initiative 19. Februar Hanau“ Plakate in der Innenstadt auf. Auf ihnen sind die Gesichter der Ermordeten zu sehen. Neben einem schwarz-weiß stilisierten Gesicht von Mercedes Kierpacz steht: „Viele Ausreden, aber keine Aufklärung“, neben dem Gesicht von Kaloyan Velkov heißt es: „Tödlicher Rassismus, aber keine Verantwortlichen“.

Zwei ältere Damen, beide in ihren Achtzigern, haben das Aufhängen der Plakate verfolgt und sind anschließend bei „Tchibo“ auf einen Kaffee eingekehrt. Es ist nasskalt, der Markt menschenleer. Eine von ihnen sagt: „Die Sache war unglaublich traurig“, sie sei betroffen gewesen und hätte für die „armen Familien“ gebetet. Die andere Frau erinnert sich daran, wie damals so viele Politiker nach Hanau gekommen seien. Der Anschlag hätte das Bild der Stadt verändert, ist sie überzeugt. Ihr Enkelsohn sei nach München zum Studieren gegangen – und immer, wenn er gesagt habe, er komme aus Hanau, sei die Verbindung zum Anschlag gezogen worden. Beide Frauen sind für ein „sinnvolles Gedenken“, eine aber sagt: „Hanau ist mehr als die Morde.“

Hanau, eine Stadt wie jede andere?

Dieses Unwohlsein wurde schon früh an den Oberbürgermeister der Stadt, Claus Kaminsky von der SPD, herangetragen. Journalisten der „Zeit“ berichtete er gut ein Jahr nach dem Anschlag von einem gewissen Unmut in der Bevölkerung über das Gedenken an die Opfer am Grimm-Denkmal. Kerzen seien umgestoßen, Bilder der Opfer abgerissen worden. Kaminsky sagte, dass ihn häufiger Fragen erreichten, wann all das wegkomme. Erst vor kurzem sagte Kaminsky deutlich, dass die „Mehrheit der Stadtgesellschaft“ die Errichtung eines großen Mahnmals auf dem Marktplatz der Stadt ablehne. Ähnlich wie die Damen bei „Tchibo“ klingt immer wieder die Sorge an, wofür Hanau steht: Ist es die Stadt der Brüder Grimm oder die Stadt der Anschläge? Beides widerspricht sich nicht, gleichwohl beschäftigt es die Stadt.

„Der Anschlag hätte sich auch in einer anderen Stadt ereignen können“, sagt Dekan Lückhoff. Ist das, was „Hanau“ möglich machte also doch überall? Lückhoff hält Hanau mit seinen 100.000 Einwohnern für eine typische kleine Großstadt mit alteingesessenem Bürgertum, jenem migrantisch Milieu, das teils seit vielen Jahrzehnten verwurzelt ist. Hinzu kommen diejenigen, die in einer mobilen Gesellschaft vielleicht fünf oder zehn Jahre hierbleiben und dann nach Stuttgart oder Recklinghausen ziehen. „In allen Städten stellt sich die Frage, wie all diese Gruppen miteinander zurechtkommen, wer was bestimmen darf und sich auf welche Art einbringt“, sagt Lückhoff. Durch den Anschlag sei Hanau verpflichtet, darauf für sich und damit vielleicht auch mit Gültigkeit für andere eine Antwort zu finden.

Konflikt um Mahnmal

Für die Eltern von Hamza Kurtović ist der Anschlag vor fünf Jahren nicht vergangen. Spricht Dijana, seine Mutter, darüber, wie sie heute darauf blickt, kommen ihr die Tränen. Sie sitzt im Café Central mit Blick auf den Hanauer Markt und schaut aus dem Fenster, um sich zu fassen. „Wenn wir über Hamza reden, reden wir über Staatsversagen“, sagt Armin Kurtović. Es ist eine Reihe von Vorwürfen: Dass der Notruf nicht funktionierte, dass der Täter trotz Hinweisen nicht vorher identifiziert wurde – vor allem aber geht es ihnen um den Notausgang.

Dijana und Armin Kurtović, Eltern von dem ermordeten Hamza Kurtović, in ihrer Wohnung
Dijana und Armin Kurtović, Eltern von dem ermordeten Hamza Kurtović, in ihrer WohnungLucas Bäuml

Die hintere Tür in der Arena Bar, in der Hamza erschossen wurde, hätte sein Ausweg sein können. Das besagen Gutachten, die ein Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags in Auftrag gegeben hatte. Armin Kurtović sagt, dass dieser Notausgang auf Geheiß der Polizei verschlossen war, um Razzien zu erleichtern. Er führt dafür einen Zeugen an. Derzeit versucht er abermals, die Staatsanwaltschaft dazu zu bewegen, ein Verfahren aufzunehmen. Bald droht die Verjährung. Mehrmals haben die Behörden eine Aufnahme des Verfahrens verworfen.

Dass es sich um eine rassistische Tat handelt, ist für die Kurtovićs in den Hintergrund getreten. Wenige Stunden vor dem Treffen mit ihnen ist ein Mann mit einem Auto in eine Gewerkschaftsdemonstration gerast und hat mehrere Personen schwer verletzt, von denen eine Mutter und ihr zweijähriges Kind Tage später starben. „Wie kann es sein, dass dieser Staat uns nicht schützt?”, fragt Dijana Kurtović.

Sie sieht den Anschlag von Hanau in einer Reihe mit Attentaten in Aschaffenburg oder Solingen im vergangenen Jahr. „Wir wollen, dass sich etwas verändert. Unser Kind darf nicht umsonst gestorben sein.“ Die hessische Landesregierung hat eine Reihe von Maßnahmen auf den Weg gebracht. Dazu zählt eine stärkere Amokprävention, ein verändertes Notrufkonzept oder die Einführung muslimischer Seelsorger. Aus Sicht der Kurtovićs zu wenig.

Dass noch immer kein Mahnmal errichtet wurde, interessiert die Kurtovićs wenig. Knapp zwei Jahre nach dem Anschlag einigten sich Vertreter der Stadt und die Angehörigen auf einen Entwurf für ein Mahnmal. Es ist eine halbrunde Wand aus den Namen der Opfer. Doch wo es stehen sollte, führte zu großen Konflikten, die Jahre anhielten. Die Angehörigen bestanden auf dem Markt, die Stadt jedoch wollte einen anderen Ort. Erst vor wenigen Wochen konnte in der Stadtverordnetenversammlung eine Entscheidung getroffen werden. Am künftigen „Haus für Demokratie und Vielfalt“, das auch in Folge des Anschlags entstehen soll, gibt es bald einen Platz des 19. Februar. Dort steht künftig auch das Mahnmal. Abseits des Marktes, nicht im Kern der Stadt.