Hilft es, wenn Friedrich Merz Kanzler würde?

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Die Spannstiftstraße im sauerländischen Hagen führt geradewegs durch ein Gewerbegebiet. Sie heißt nach dem Produkt, das in den Fabrikhallen am Eingang des industriell geprägten Viertels Hohenlimburg hergestellt wird: Spannstifte. Das sind runde, hohle Metall-Verbindungsteile, „die dafür sorgen, dass zwei Dinge aneinander befestigt werden“, sagt Ulrich Flatken. Er nennt als Beispiel Reisekoffer, deren Griffe mit Spannstiften angebracht sind.

Flatken ist Vorstandsvorsitzender der Mecanindus Vogelsang Gruppe , eines mittelständischen Unternehmens, mit 75 Millionen Euro Umsatz. Den größten Teil seiner Produkte – nicht ausschließlich Spannstifte, sondern noch allerlei andere Metall-Befestigungsteile – fertigt der Mittelständler für die Autoindustrie. 450 Mitarbeiter sind für Mecanindus Vogelsang tätig; rund 200 davon an zwei Standorten in Hagen. Ulrich Flatken ist nicht nur ihr Chef, sondern außerdem Präsident des Wirtschaftsverbands Stahl- und Metallverarbeitung (WSM), der rund 5000 vorwiegend mittelständische Betriebe in ganz Deutschland repräsentiert, etwa 240 davon im Sauerland.

In beiden Rollen, als Unternehmensleiter und als Verbandschef, ist Flatken derzeit hochgradig unzufrieden. Lange Zeit habe der Mittelstand die Schwierigkeiten am Standort Deutschland geduldig ertragen und mit Fleiß kompensiert. Jetzt allerdings, sagt Flatken, „reicht es“. Er spricht von „bürokratischen Fesseln“, die ihm Kreativität und Spielräume rauben, von „überbordenden Stromkosten“ und von den Härten der grünen Transformation, über die er nicht länger schweigen wolle. „Die Zeit der Investitionen ist definitiv vorbei. Jetzt können wir nur noch in Sozialpläne investieren“, sagt er. Im ganzen Verband werde das gerade sehr greifbar. „Die Unternehmen verlängern die Kurzarbeit nicht mehr. Das ist ein klares Zeichen von fehlender Hoffnung.“

Ulrich Flatken
Ulrich FlatkenStefan Finger

Beispiele für die Hindernisse, die Mittelständlern wie ihm in den Weg gelegt werden, hat Flatken zuhauf. „Gerade ist der AI-Akt für deutsche Unternehmen in Kraft getreten. Jetzt müsste ich eigentlich alle Mitarbeiter zum Umgang mit Künstlicher Intelligenz schulen. Aber die meisten sind um die 30 und viel fitter in diesen Dingen, als ich es bin.“ Ähnliches gelte für die Cybersecurity-Richtlinien, die er zu erfüllen habe. Dazu komme die Lieferketten- und Nachhaltigkeitsberichterstattung. „Viele Mittelständler hier in der Region sagen einfach: ,Jetzt ist mal Schluss.‘“

Viele Fragen zum CO2-Grenzausgleichsmechanismus

Bestätigen kann das der WSM-Verbandsgeschäftsführer Christian Vietmeyer, den in der Geschäftsstelle fast täglich Fragen zu diesen Themen erreichen. „Die häufigste ist gerade zum CO2-Grenzausgleichsmechanismus, dem CBAM“, erzählt er. Wer Stahl aus Nicht-EU-Ländern wie etwa China importiere, der müsse dokumentieren, wie viel CO2 bei der Herstellung dieses Stahls im Ausland entstanden ist. Ab dem Jahr 2026 soll dann anhand solcher Dokumentationen eine Art Klimazoll greifen, der heimische Hersteller wettbewerbsfähig halten soll.

„Die Unternehmen fragen mich: ,Wie hoch ist denn die Strafe, wenn wir diese Dokumentation einfach nicht machen?‘“, erzählt Vietmeyer. Es seien bis zu 50 Euro je Tonne CO2, doch mancher Unternehmer zucke bei dieser Auskunft bloß noch die Schultern. „Ich merke: Wir haben einen Grad der Resignation erreicht, wo einige sagen, dass sie nicht noch teure Berater für ein solches Reporting bezahlen können.“ Zumal man ja nicht wisse, inwieweit man sich auf eine aus China gelieferte Dokumentation überhaupt verlassen könne. Entweder werde dann gar kein Stahl mehr aus Drittländern eingekauft, „oder man lässt es halt drauf ankommen“, sagt Vietmeyer.

In Südwestfalen, also im Sauerland und Siegerland, arbeiten nach Angaben der örtlichen Industrie- und Handelskammer mehr als 40 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im produzierenden Gewerbe. Die Industrie hat in dieser Region, aus der auch Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz stammt, einen mehr als doppelt so hohen Anteil an der Bruttowertschöpfung, als das im nordrhein-westfälischen Schnitt der Fall ist. „Südwestfälische Unternehmen besetzten Marktnischen, in denen sie oftmals weltweit führend sind“, heißt es weiter von der IHK. Die Kammer listet unter dem Label „Weltmarktführer Südwestfalen“ 170 Hidden Champions aus der Region – auch Ulrich Flatkens Spannstift-Hersteller ist darunter.

Ein guter Draht – auch zur Politik?

Viele der metallverarbeitenden Betriebe hier haben eine lange Tradition, siedelten sich einst in der zum Teil malerischen, waldreichen Gegend an, um die Wasserkraft der Flüsse Lenne und Ruhr zu nutzen. Eisenerz-Vorkommen um Altena sorgten dafür, dass die Gegend zu einer wichtigen Region für die Draht-Herstellung wurde. Wenn auch das Eisenerz längst aus dem Ausland kommt, haben sich bis heute Drahtziehereien in und um die kleine Stadt gehalten. In Altena steht auch das „Deutsche Drahtmuseum“, es sei das „weltweit Einzige seiner Art“, heißt es auf Wikipedia.

Draht produziert in Altena und im benachbarten Iserlohn unter anderem der Mittelständler Lüling. Auf riesigen Rollen liegen die dünnen Metallschnüre dort in unterschiedlichsten Ausführungen im Lager. Gabelstapler fahren die Rollen umher, Drahtziehmaschinen spannen das Material quer durch die Halle, es rauscht und zischt, wenn die Arbeiter sich ans Werk machen. 1857 gegründet, beschäftigt das Familienunternehmen heute 145 Mitarbeiter und stellt jedes Jahr rund 70.000 Tonnen gezogene Kaltstauchdrähte her. „Unser Draht dient oftmals als Vorprodukt für hochkomplexe Bauteile“, sagt Geschäftsführer Christian von der Crone, der wie Ulrich Flatken im WSM-Verband engagiert ist. Hauptsächlich beliefert auch Lüling die Autoindustrie. Der Spezialdraht des Unternehmens steckt zum Beispiel als Torsionsstab im Gurtrückhaltesystem von Autos. „Unser Draht kann also sogar Leben retten“, wirbt von der Crone.

Christian von der Crone
Christian von der CroneStefan Finger

„Wir haben einen guten Draht“, steht auf riesigen Plakaten in den Lüling-Werkshallen, doch so ganz stimmt der Spruch nicht mehr. Der Draht zur Politik jedenfalls, so empfindet es der Geschäftsführer, sei in den vergangenen Jahren zunehmend verloren gegangen. Mehrere Hunderttausend Euro hat er investiert, um seine Produktion wasserstofftauglich zu machen. Noch verfeuert Lüling 35 Millionen Kilowattstunden Erdgas im Jahr. In den Hallen in Iserlohn ist regelrecht zu spüren, wie energieintensiv die Produktion ist: Trotz der eisigen Temperaturen draußen ist es heiß neben den Glühöfen, in denen das Material seine ganz speziellen Eigenschaften erhält. „In den letzten Jahren haben wir sämtliche Bauteile und Zulieferungsleitungen unserer Wärmebehandlungsanlagen in der Form umgebaut, dass wir bereit wären, Wasserstoff einzusetzen. Doch jetzt kommt das große Fragezeichen.“ Denn ursprünglich sollte bis 2031 in der Region eine Wasserstoffleitung installiert werden. „Das Projekt ist aber eingestellt worden.“

„Eine komplette Perspektivlosigkeit“

Schon heute verlangten seine Kunden, vor allem die großen Autohersteller, von ihm einen immer kleiner werdenden CO2-Fußabdruck, berichtet von der Crone. Er sei auch willens, die Emissionen der Drahtfabriken zu reduzieren. Bloß wie es gehen soll, erschließt sich ihm nicht. Er habe Alternativen durchgerechnet, etwa, den Wasserstoff per Lastwagen anliefern zu lassen oder die Produktion ganz zu elektrifizieren. „Aber nichts davon rechnet sich auch nur ansatzweise.“ Drei oder vier Lastwagen mit Wasserstoff täglich wären vonnöten, sagt von der Crone. „Das ist exorbitant teuer.“ Die letzten Angebote, die das Unternehmen bekommen hat, hätten mehr als 600 Prozent über den derzeitigen Kosten für Erdgas gelegen. Und für eine Umstellung auf vollelektrische Produktion, „da bräuchten wir ein ganzes Umspannwerk“. Der Strombedarf von Lüling allein würde dann dem der gesamten Stadt Altena entsprechen. „Also fällt die Option Strom letztlich auch aus.“ Was für von der Crone folgt: „Eine komplette Perspektivlosigkeit.“

Iserlohn: Qualitätskontrolle vor der Auslieferung
Iserlohn: Qualitätskontrolle vor der AuslieferungStefan Finger

Hinzu komme der schwächelnde Automarkt. „Wir sind Gott sei Dank im letzten Jahr noch nicht in Kurzarbeit gewesen, anders als viele andere Marktteilnehmer“, sagt von der Crone. „Das liegt vor allem daran, dass wir unser Material in insgesamt 21 Länder liefern, unter anderem auch in die USA und nach China.“ Aber mit den USA würden die Geschäfte schwieriger, der Markt dort sei ohnehin in einer Seitwärtsbewegung, allenfalls die Verkäufe nach Fernost „machen noch Spaß“. Dagegen sei „die Autoindustrie in Deutschland und Europa so gut wie tot“. Für die Zukunft erwartet er, dass Kurzarbeit wieder ein Thema werde.

Auch Ulrich Flatken vom Spannstift-Spezialisten Mecanindus Vogelsang sieht einen der größten Schmerzpunkte derzeit im Schwächeln des „Autolands Deutschland“. Rund 80 Prozent des Umsatzes seiner Unternehmensgruppe kämen aus dem Bereich Automobil. Doch auch er habe das Glück, dass „wir aus diesem Standort heraus rund 60 Prozent unserer Produkte gar nicht mehr nach Deutschland liefern“. Doch natürlich spüre er im eigenen Unternehmen und noch mehr im Verband, „wie viel hierzulande am Auto hängt“. Und dieser Markt sei „gleich zweifach getroffen, konjunkturell und strukturell durch die Transformation“.

Und Friedrich Merz?

Und Friedrich Merz? Wird sein Herz für die Region etwas helfen, falls er zum deutschen Bundeskanzler gewählt wird? Da sind sich die Mittelständler im Sauerland nicht einig. Flatken sagt: „Ich war nicht wirklich glücklich mit der Vorgängerregierung, und ich bin’s auch nicht mit der aktuellen.“ Von einem Regierungswechsel erhoffe er sich, „dass andere Schwerpunkte gesetzt werden und es ein bisschen mehr Industriepolitik gibt.“ Andererseits, sagt Flatken in Anspielung auf die Migrationsdebatte, hätte er es begrüßt, wenn Merz beim Wirtschaftswahlkampf geblieben wäre.

Christian von der Crone glaubt, es gebe „Schlechteres als eine Verbundenheit zum Sauerland“. Er sei der Ansicht, „dass die Politik in Berlin schon in so einer Art Blase stattfindet“. Es könne nicht schaden, wenn da einer auch mal eine Beziehung zu einem sauerländischen Schützenverein habe oder ein offenes Ohr dafür, „dass hier nicht nur die Wasserstoffinfrastruktur fehlt, sondern auch die meisten Brücken alt und kaputt sind“. Doch auch er schiebt ein „andererseits“ nach. „Ich glaube nicht, dass ab dem 24. Februar Geld auf Bäumen wächst“, sagt er und schweigt danach sehr lange. „Aber so, wie es im Moment ist, geht es auch nicht weiter.“