Unterschiedlich hohe Nachartbeitszuschläge rechtens

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Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat unterschiedlich hohe tarifliche Zuschläge für regelmä­ßige und unregelmäßige Nachtarbeit in ei­ner Grundsatzentscheidung zur Tarifautonomie gebilligt und zwei Urteile des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus den Jahren 2020 und 2023 korrigiert. Der Erste Senat wies die Arbeitsgerichte generell in die Schranken, soweit es um die Überprüfung von Tarifregelungen geht.

Zwar betont die Senatsmehrheit, die Tarifvertragsparteien seien an den allgemeinen Gleichheitssatz gebunden. Zugleich hebt das Karlsruher Gericht aber hervor, die richterliche Kontrolldichte sei begrenzt, da die vom Grundgesetz geschützte Tarifautonomie auf eine grundsätzlich autonome Aushandlung von Tarifregelungen ziele. Bei Tarifnormen zum „Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ – wie der Verein­barung von Zuschlägen – hätten sich die Gerichte auf eine Willkürkontrolle zu beschränken, sofern keine Interessen von Minderheiten oder sonstiger besonderer Schutz erkennbar seien.

Dem obersten Arbeitsgericht wirft das Bundesverfassungsgericht, zugespitzt formuliert, Übergriffigkeit vor. Das BAG in Erfurt habe zu Unrecht angenommen, dass die tarifvertragliche Vereinbarung der verschieden hohen Zuschläge den allgemeinen Gleichheitssatz des Grundgesetzes verletze. Das BAG habe den vermeintlichen Gleichheitsverstoß auch nicht durch „Anpassung nach oben“ beseitigen dürfen. Es hätte mit Rücksicht auf die Gestaltungsfreiheit der Tarifvertragsparteien also nicht anordnen dürfen, dass der höhere Zuschlag maßgeblich sei und damit auch an die Gruppe der Nachtschichtarbeiter gezahlt werden müsse, die nach dem Willen der Tarifvertragsparteien einen geringeren Zuschlag erhalten.

Verfassungsbeschwerden aus der Ernährungsindustrie

Der Erste Senat unter Vorsitz von Bundesverfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth gab damit den Verfassungsbeschwerden von zwei Unternehmen aus der Ernährungsindustrie statt. Die beanstandeten Urteile des BAG wurden aufgehoben und zur abermaligen Entscheidung entsprechend den Karlsruher Vorgaben zurückverwiesen (Beschluss vom 11. Dezember 2024, Az.: 1 BvR 1109/21). Die Entscheidung war im Ergebnis, nicht aber in der Begründung einstimmig.

In einem Sondervotum widersprach Richter Heinrich Amadeus Wolff der Auffassung der Senatsmehrheit, dass die Tarifparteien unmittelbar an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden seien. Sinn der Tarifautonomie sei vielmehr eine besondere Staatsferne. Es schränke die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften in einer „vom Grundgesetz nicht gewollten Weise ein“, wenn man die Ausübung der Tarifautonomie unmittelbar an den Grundrechten messe, monierte Wolff.

Die jeweiligen Tarifverträge in den beiden Streitfällen sehen vor, dass Ar­beitnehmer, die regelmäßig Nachtarbeit, also Schichtarbeit, leisten, einen Zuschlag von 25 Prozent erhalten. Für unregelmäßige Nachtarbeit ist ein Zuschlag von 50 Prozent vorgesehen. Der Erste Senat bestätigte, für diese Differenzierung gebe es sachlich einleuchtende Gründe: unterschiedliche soziale Belastungen infolge unterschiedlicher Planbarkeit, die Erwägung, dass Beschäftigte durch den höheren Zuschlag zu außerplanmäßiger Nachtarbeit motiviert werden könnten, sowie Kostenaspekte für den Arbeit­geber.

Geteilte Reaktionen auf den Beschluss

Das BAG sah es wegen des Gleichheitssatzes anders. Nach den nun aufgehobenen Urteilen mussten die Unternehmen auch den Schichtarbeitern den Zuschlag von 50 Prozent zahlen. Dazu schreibt der Erste Senat, das BAG habe sich dafür nicht auf den Willen der Tarifparteien stützen können. Die höher dotierte unregelmäßige Nachtarbeit sei „die absolute Ausnahme“ in den Unternehmen, für welche die Tarifverträge gälten. Nachtschichtarbeit sei hingegen durchaus verbreitet. Dass die Tarifparteien pauschal einen Zuschlag von 50 Prozent für alle Formen der Nachtarbeit vereinbart hätten, liege mit Blick auf die erheblichen Zusatzkosten, die dadurch verursacht worden wären, nicht auf der Hand. „Es droht eine mit dem originären Tarifwillen unvereinbare Besserstellung der Nachtschichtarbeiter“, rügte der Erste Senat.

Die Reaktionen auf den Karlsruher Beschluss sind geteilt. Die Gewerkschaftsseite äußerte sich „überrascht“ von der Kehrtwende, die das Bundesverfassungsgericht eingeleitet habe, wie Freddy Adjan, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten der F.A.Z sagte. Der Gesundheitsschutz vor Belastungen der Nachtarbeit werde ein wichtiges tarifliches Thema bleiben. Stefanie Sabet, Hauptgeschäftsführerin der Arbeitgebervereinigung Nah­rung und Genuss, äußerte sich erfreut über die Anerkennung der Regelungs- und Gestaltungsspielräume der Tarifvertragsparteien. Das BAG werde dieser Linie in seiner weiteren Rechtsprechung folgen müssen, mahnte sie. Ein Sprecher des BAG teilte auf Anfrage mit, es seien noch etwa 75 Verfahren aus der Ernährungsindustrie zu den Nachtar­beitszuschlägen anhängig, die 2024/2025 neu eingegangen seien. Die vielen Verfahren aus den vorangegangenen Jahren – zwischenzeitlich mehr als 400 Revisionen – habe man abgearbeitet.

Der Bonner Arbeitsrechtsprofessor Gregor Thüsing lobte, der Karlsruher Beschluss zu den Nachtarbeitszuschlägen sei ein „Meilenstein“. Die Entscheidung werde „Grundlage und Maßstab zum Verständnis der Tarifautonomie insgesamt sein“. Die Rechtsprechung des BAG zu Nachtarbeitszuschlägen ist wechselvoll. Ab 1957 hatte das BAG unterschiedliche Zuschlagsregelungen für unregelmäßige und regelmäßige Nachtarbeit gebilligt. Im Jahr 2018 rückte der 10. Senat davon ab und verlangte eine „Anpassung nach oben“. Jede Form der Nachtarbeit könne die Gesundheit gefährden, argumentierten die Richter. Senatsvorsitzende war damals die heutige BAG-Präsidentin Inken Gallner.

Nach dem Urteil setzte eine Klagewelle mit Tausenden von Verfahren ein, welche die Arbeitsgerichte zum Teil immer noch beschäftigt. Auf Vorlage des BAG äußerte sich im Jahr 2022 auch der EuGH, ohne jedoch Anstoß an den unterschiedlich hohen Zuschlägen zu nehmen. In Fällen, die das BAG seitdem entschied, hatten, je nach Ausgestaltung der Tarifverträge, mal die Arbeitnehmer, mal die Arbeitgeber Erfolg.