Es droht ein großer Krieg in Europa

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Kann es Putin gelingen, die Ukraine zu unterwerfen, oder wird es zu einem jahrelangen Partisanenkrieg kommen?

Auf jeden Fall. Aber man muss bedenken, dass Russland dieses Problem durch einen Genozid an den Ukrainern lösen will, so wie wir das in den besetzten Gebieten schon sehen, dass man also durch extreme Gewaltanwendung gegen die Zivilbevölkerung und eine Auslöschung der männlichen Bevölkerung das Widerstandspotential erstickt.

Wie erklären Sie sich, dass Trump Putins Erzählungen etwa über eine Schuld der NATO oder der Ukraine am Angriffskrieg übernommen hat?

Erstens: Putin ist ein guter Kommunikator und Trump ist ein sehr leichtes Opfer. Er ist intellektuell nicht besonders gut ausgestattet, hat weder historische noch regionale Kenntnisse. Zweitens leben Trump und seine Mitstreiter wie die Nationale Geheimdienstdirektorin, Tulsi Gabbard, oder Elon Musk schon seit Längerem in einer russischen Informationsblase und plappern diesen Unsinn ständig nach. Die wenigen vernünftigen Leute in der Trump-Administration, die das in der Vergangenheit nicht getan haben, trauen sich nicht, ihrem Chef zu widersprechen und haben keinerlei Einfluss auf die amerikanische Politik. Die schlimmsten Befürchtungen, dass nicht nur Trump den Ton angibt, sondern dass auch innerhalb seiner Administration die radikalsten Leute den Ton angeben, sind wahr geworden.

Trump ist aber für Überraschungen gut. 2017, in seiner ersten Amtszeit als Präsident, hat er Marschflugkörper gegen Syriens Militär eingesetzt, weil bei einem neuen Giftgasangriff „schöne Babys“ getötet worden waren, wie er damals sagte. Muss Putin mit so etwas auch rechnen, wenn er Trump in der Ukraine hinters Licht führt?

Ich hätte das vor ein paar Wochen noch gedacht. Aufgrund dessen, was jetzt ans Licht kommt, dass die Russen den Amerikanern eine Energiepartnerschaft anbieten, glaube ich: Sie haben die Schwachstelle in der Trump-Administration gefunden, wirtschaftliche Vorteile. Natürlich ist es so, dass die Russen die amerikanischen Öl- und Bergbaufirmen in dem Moment, in dem die Amerikaner ihnen nicht mehr dienlich sind, sofort hinausschmeißen, so wie sie westliche Energiefirmen auch unter vorgeschobenen Gründen wie Umweltverfahren in der Vergangenheit einfach vor die Tür gesetzt haben. Aber das stört Trump nicht.

Verschiedene westliche Geheimdienste haben Zeitfenster angegeben, in denen Russland ein NATO-Land angreifen könnte. Da geht es um Jahre. Sind diese Zeitfenster angesichts der Annäherung zwischen Putin und Trump noch aktuell?

Ich fürchte, diese Zeitfenster müssen wir alle nach unten korrigieren, denn sie beruhen auf verschiedenen Annahmen, die überholt sind. Eine davon war, dass eine Wiederaufrüstung Russlands nach einer Unterwerfung der Ukraine teurer werden würde, weil sie mühsam niedergerungen werden müsste. Das könnte es jetzt billiger geben, wenn die Ukraine aufgrund von Nachschubmangel und ausbleibender Militärhilfe unter die Räder kommen sollte. Auch die Annahme, für einen russischen Angriff bedürfe es einer chinesischen Provokation, die Amerika in Beschlag nehme, erübrigt sich, wenn Trump unilateral aus Europa abzieht. In dem Sinne könnte der Fortsetzungskrieg, der sich gegen die Ukraine wenden wird, sehr schnell übergehen in einen großen Krieg um die militärische Vorherrschaft in Europa.

Wie schnell könnte Putin denn Ihrer Ansicht nach den NATO-Bündnisfall testen?

Das kommt darauf an, wie schnell die Amerikaner die Ukraine fallen lassen. Die amerikanischen Prognosen gehen davon aus, dass die Ukraine sechs Monate ohne amerikanische Hilfe überleben kann. Ich würde diese Prognose nach oben korrigieren: Die Ukraine könnte wahrscheinlich ein Jahr durchhalten. Dann wird es aber schwierig. Ein weiteres Jahr bräuchte Russland wohl, um die Ukraine ethnisch zu säubern. Dann würde man mit der Armee, die schon in der Ukraine steht, weitermarschieren, auch unter Einbeziehung von chinesischen Rüstungslieferungen, die nach einem Ende der amerikanischen Sanktionen wahrscheinlich in relativ großem Umfang in Russland eintreffen werden.

Wie würde Russland Ihrer Ansicht nach prüfen, ob Artikel 5 des Nordatlantikvertrages, der den Bündnisfall in der NATO bei einem Angriff festschreibt, noch zählt?

Ein Angriff auf das Baltikum oder auf Polen wäre ein Test, wer dann zu Hilfe eilt. Er würde begleitet durch massive Drohungen mit nuklearen Schlägen. Wir haben jetzt nicht nur einen launischen und unberechenbaren, sondern auch einen sehr feigen amerikanischen Präsidenten, der immer, wenn er auf verhärteten militärischen Widerstand stößt, zurückweicht. Ob sich Trump unter diesen Bedingungen bereit erklärt, die Existenz der USA für Osteuropa oder für die europäische Sicherheit in die Waagschale zu werfen, muss ich stark bezweifeln.

Blufft Putin, wenn er seine nuklearen Drohungen ausstößt?

Wir können in diesem ganzen Krieg gut nachverfolgen, wie die russischen nuklearen Drohungen frecher werden, je stärker sich Russland gegenüber dem anderen fühlt. In dem Moment, in dem es das Risiko spürt, dass es zu weit gehen und in eine Lage kommen könnte, die es nicht mehr managen kann, weicht es zurück. Solange die russischen Kräfte in der Ukraine gebunden sind, hat Russland wenig Möglichkeiten, über das Land hinaus Krieg zu führen. Wenn Russland die Ukraine unterwirft und siegestrunken ist, erweitern sich diese Möglichkeiten. Die Frage ist, wie glaubwürdig für Putin etwa britische oder französische Rückversicherungen sind, dass es dann tatsächlich zu einem nuklearen Schlagabtausch kommen könnte. Wenn die scharfe Rhetorik Frankreichs oder Großbritanniens aus Putins Sicht glaubwürdig ist, wäre auch ein minimales Abschreckungsprogramm ein Mittel, Putin von einem Angriff abzuhalten. Wenn er aber das Gefühl hat, dass das nur heiße Luft ist, dann kann er es durchaus probieren.

Was können die Europäer in dieser Lage tun?

Aufrüsten, für die Ukraine und für uns. Die Ukraine ist der zentrale Stolperstein für Russland, nicht über Europa herzufallen. Und wir müssen selbst aufrüsten, um einen Großkrieg durchhalten zu können. Außerdem sind wir jetzt in einer Situation, in der der amerikanische nukleare Schutzschirm nicht mehr glaubwürdig ist. Da müssen wir auch eine Gegenabschreckung gegen Russland mit europäischen Mitteln bewerkstelligen, also mit britischen und französischen. Es wäre an der Zeit, darüber nachzudenken, wie man die Lasten über die anderen europäischen Staaten verteilt. Denn nukleare Rüstung ist teuer, langfristig und langwierig, aber sie ist dringend notwendig. Denn diese Krise stellt alle anderen Krisen der NATO in ihrer gesamten Geschichte in den Schatten. Ob Suezkrise, Vietnam- oder Irakkrieg: Niemals hätte sich ein Staatsoberhaupt der NATO auf die Bühne gestellt und die Propaganda des Feindes übernommen. Was Trump jetzt macht, ist etwa so, wie wenn Bundeskanzler Gerhard Schröder einst Osama Bin Ladins Anschuldigungen an die USA wiederholt hätte – und das hat Schröder bei allen Animositäten, die es damals gab, nicht getan. Jetzt liegt die Führungsmacht der NATO mit deren Feinden im Bett. Das gab es noch nie.