Die Nachricht vom Sturz des syrischen Gewaltherrschers Baschar al-Assad war erst ein paar Stunden alt, da veröffentlichte der Bürgermeister der türkischen Grenzstadt Kilis am Sonntag ein zynisches Video auf Instagram. Es zeigt eine Straßenkehrmaschine, die den Platz vor dem Grenzübergang nach Syrien kehrt. Darunter schreibt Bürgermeister Hakan Bilecen: „Wir haben den Freudenfeiern unserer syrischen Brüder und Schwestern begeistert zugesehen und möchten mitteilen, dass wir bereit sind, alle möglichen Dienstleistungen auf der türkischen Seite des Grenzübergangs Öncüpınar bereitzustellen, um unseren werten Gästen unter besten Bedingungen Lebewohl zu sagen. Möge euer Weg frei und eure Zukunft friedlich sein!“
Mit Gästen meint der Bürgermeister die knapp 70.000 Syrer in Kilis, rund die Hälfte der Einwohner seiner Stadt. Er meint Leute wie den gelernten Koch Ahmet Fettuh, der zu Hause eine türkische Fahne aufgehängt hat, damit niemand seine Loyalität gegenüber der Türkei in Zweifel zieht. „Das ist ein Muss. Wir alle haben türkische Fahnen zu Hause“, sagt der Fünfundzwanzigjährige.
Die Fahnen für ein „freies Syrien“ dagegen, die sie bei den Freudenfeiern in Kilis schwenken, haben sie erst am Sonntag gekauft. Ein vorausschauender Händler hat nach dem Sturz von Aleppo einen großen Vorrat angelegt. Am Mittag ist er ausverkauft. Auf den Straßen von Kilis herrscht Ausnahmezustand. Auto- und Motorradkonvois drängeln sich hupend durch die engen Gassen. Aus den Fenstern strecken kleine Mädchen und erwachsene Männer ihre zum Victory-Zeichen geformten Finger. Sogar den Frauen mit Gesichtsschleiern sieht man die Freude über den Sturz des Massenmörders an. Mittendrin steht Ahmet Fettuh, der Koch.
Fettuh war 13, als er fliehen musste
Während in der türkischen Politik schon unverblümt über eine dauerhafte Rückkehr der syrischen Flüchtlinge debattiert wird, träumt er erst einmal von einem Kurzbesuch. „Ich möchte eine Woche lang Aleppo besuchen; das Haus sehen, in dem ich geboren bin; durch die Gassen der Altstadt laufen und versuchen, mich an die Vergangenheit zu erinnern; verstehen, wie die anderen überlebt haben.“ Fettuh war 13 Jahre alt, als er mit seiner Familie vor dem Bürgerkrieg floh – nur 50 Kilometer weit weg. So nah liegt Kilis an Aleppo. Überall in der Stadt ist Aleppo ausgeschildert, als wäre die Grenze nicht seit Jahren geschlossen. Passieren konnten sie nur jene, die in den türkisch besetzten Gebieten zu tun hatten.
Seine Eltern seien in Kilis geblieben, „weil sie dachten, dass sie nach sechs Monaten zurückkehren würden“, sagt Fettuh. Ihnen fehlte schon in Syrien das Geld, den Sohn zur Schule zu schicken. In der Türkei fing er als Küchengehilfe an. Heute ist Schafskopf seine Spezialität. Mit 18 hat er geheiratet. Inzwischen hat er drei Kinder.
„Ich will hierbleiben, weil meine Kinder hier aufwachsen sollen. Sie sehen sich als Türken“, sagt Fettuh. Außerdem kenne er in Syrien niemanden. „Aber ein anderer Teil von mir will gehen.“ Der überwiegt immer dann, wenn es Ärger mit dem Vermieter gibt oder er sich von den türkischen Behörden wieder einmal gedemütigt fühlt. Syrer können in der Türkei nicht einfach umziehen. Wenn sie ihre Wohnadresse ändern, verlieren sie ihre Registrierung und laufen Gefahr, abgeschoben zu werden. Die Vermieter wissen das und nutzen die Notlage mit Wuchermieten schamlos aus. Fettuhs Kollege hat gerade erlebt, wie strikt die Behörden die Einschränkung der Freizügigkeit durchsetzen. Dessen Frau und Kinder wurden abgeschoben, weil sie unerlaubt die Provinz Kilis verließen, um Verwandte in Istanbul zu besuchen.
Bleiben oder gehen?
Bleiben oder gehen? Diese Frage wird schon in vielen Familien diskutiert. Am Sonntagmorgen, als die Nachricht von Assads Sturz kam, beschloss Fettuhs Mutter, bald heimzukehren, damit sie zum ersten Mal seit 2012 ihre beiden Töchter in Latakia und ihre Schwester in Hama wiedersehen kann. Sobald sie die Grenze überquert, wird sie nicht mehr zurückkommen können. In Aleppo hat die Familie ein Haus, aber sie wissen nicht, ob es zerstört ist. Fettuh erzählt, dass seine fünfjährige Tochter gleich klargestellt habe, dass sie in der Türkei bleiben werde.
Auch Hamsa, ein Softwareingenieur, der für ein syrisches Start-up in Kilis arbeitet, ist hin- und hergerissen. „Assad ist Vergangenheit, aber er war nicht das einzige Problem“, sagt er. Im Norden gibt es weiter Kämpfe zwischen türkeitreuen Milizen und kurdischen Freischärlern. „Die Lage ist angespannt, aber Syrien braucht mich mehr als die Türkei.“ Seine Kunden sind ohnehin in Syrien. Die Vorstellung, sie künftig auch persönlich treffen zu können, begeistert ihn. Andererseits studiert seine Verlobte in der Türkei. Bis sie ihren Abschluss habe, wolle er noch abwarten.
Manche Familien haben schon einen Angehörigen vorgeschickt, um zu überprüfen, ob ihr Hab und Gut den Krieg überstanden hat. „Je nachdem, was sie vorfinden, werden sie entscheiden“, sagt ein türkischer Geschäftsmann in Kilis, der seinen Namen nicht nennen will. Gehen würden wohl vor allem die Alten, die sich nie ganz integriert hätten, die nicht richtig Türkisch sprechen. Leute ohne gute Jobs und ohne kleine Kinder. Die Islamistenallianz „Hay’at Tahrir al-Scham“, die den Aufstand angeführt hat, hat sich schon an „die Vertriebenen aus aller Welt“ gewandt und verkündet: „Das freie Syrien erwartet Euch.“
Der türkische Geschäftsmann glaubt aber, dass die Stimmung sich sehr schnell drehen kann. Noch freuten sich die Leute, dass Assad weg sei. Aber was danach komme, sei völlig unklar. „Ein Video von einer Enthauptung reicht aus“, sagt der Mann. Kilis habe sehr von den Flüchtlingen profitiert, findet er. Zwar seien die Gebildeten und Wohlhabenden weitergezogen, nach Istanbul und Europa. Aber auch die, die blieben, hätten Kapital und Wissen mitgebracht. Bis zu deren Ankunft hätten die Leute in Kilis nicht einmal gewusst, was eine Ananas ist. „Es gab eine Art umgekehrte Integration. Ich habe Arabisch gelernt, weil die Friseure und die Ladenbesitzer alle Syrer sind.“
Der Bürgermeister will die Flüchtlinge nach Hause schicken
Das gefällt aber längst nicht jedem Türken in Kilis. Bürgermeister Hakan Bilecen hat die Kommunalwahl im März mit dem Versprechen gewonnen, die Flüchtlinge nach Hause zu schicken. Er gehört der oppositionellen Republikanischen Volkspartei CHP an, die die Syrienpolitik von Präsident Recep Tayyip Erdoğan seit Langem scharf kritisiert. Der Parteichef Özgür Özel verlangte noch am Sonntag „ein umfassendes Programm, dass die Rückkehr der Syrer ermöglicht“. Doch falls dies tatsächlich nach und nach geschieht, verliert die Opposition eines der zentralen Wahlkampfthemen, mit dem sie Erdoğan vor sich hergetrieben hat. Die Regierung begann sofort, das Thema für sich zu vereinnahmen. Außenminister Hakan Fidan sagte, Millionen Syrer könnten jetzt zurückkehren. Das Staatsfernsehen sendete etliche Berichte über Syrer, die angeblich schon auf dem Weg in die Heimat seien. Doch am Grenzübergang in Kilis ist davon nichts zu sehen.
Der Präsident kann triumphieren. „Die Geschichtsschreibung wird festhalten, dass die Türkei erfolgreich den Test bestanden hat, die syrischen Flüchtlinge zu beherbergen, trotz aller feindseligen Propaganda“, sagte er am Samstag, als sich Assads Sturz abzeichnete. Falls es gelingt, das Nachbarland zu stabilisieren, was längst nicht klar ist, könnte die Türkei von einem Wiederaufbau erheblich profitieren. Zu den neuen Herrschern pflegt Ankara gute Beziehungen. Die bisherigen Schutzmächte des gestürzten Regimes, Russland und Iran, sind in der Bevölkerung verhasst. Und die rund drei Millionen Syrer im Land, von denen sehr viele Türkisch gelernt und das türkische Bildungssystem durchlaufen haben, könnten zu einer wirtschaftlichen Integration beitragen. Unabhängig davon, ob sie bleiben oder gehen.
Das hofft zumindest Betül Yılmaz, die dem Industriellenverband in Kilis vorsteht. Dem Verband gehören 76 Fabrikbesitzer an, die etwa 6000 Mitarbeiter beschäftigen. Mehr als 2000 davon sind Syrer. „Wenn sie gehen würden, würde das eine riesige Lücke schlagen”, sagt Yılmaz. Das gilt auch für die Türkei als Ganzes. In der Landwirtschaft, im produzierenden Gewerbe und in der Gastronomie stellen Syrer einen Großteil der geringbezahlten Arbeitskräfte. Für die Beschäftigung von Syrern gibt es außerdem Zuschüsse von der Europäischen Union. Auch im Management seien Syrer beschäftigt, betont Yılmaz. Dank deren Arabischkenntnissen hätten sich Unternehmen in Kilis neue Märkte in den Vereinigten Arabischen Staaten erschlossen. „Jetzt hoffen wir auf mehr Handel und Geschäfte mit Syrien.”